Viktorianischer Triumphalismus

Der Schriftsteller Jochen Kelter macht sich einige unorthodoxe Gedanken über die Entwicklung (und den Verfall) unserer öffentlich gepflegten Sprache. Wohin entwickelt sie sich  – und was zeigt sich darin oder verbirgt sich dahinter?

Im Überbau der Gesellschaft, den Medien, der Literatur, den sozialen Moden und Gepflogenheiten zeigen sich seit einiger Zeit ebenso interessante wie entlarvende Trends. Spätestens seit der Corona-Pandemie wird die deutsche Sprache von einer neuen Welle von Anglizismen und Fremdwörtern überrollt, die zum großen Teil überflüssig sind und vor allem eine Gespreiztheit und einen Eklektizismus offenbaren, der eher die Verletzlichkeit der Gesellschaft als deren Robustheit zeigen. Vakzine gehören mittlerweile genauso zum geläufigen Sprachschatz wie Inzidenzen. Wir werden geboostert, was das Zeug hält. Aber niemand fragt nach den möglichen, den tieferen Ursachen der weltweiten Pandemie, die viel mit Raubbau an der Natur, Gewinnmaximierung, weltweit unverdrossen tobenden Kriegen, Vertreibungen und Hungersnöten und weniger mit einem zufällig entwichenen Virus in Wuhan zu tun haben dürften.

Bei Unternehmen und im Bankwesen gehört eine gekünstelte Ausdrucksweise zum guten Ton. Es wird aufgetrumpft, auf Teufel komm raus inkludiert, visualisiert und performt, weil das mittlerweile zum Standing gehört. Die Performance des Investments ist das höchste Ziel, von Produktivität oder der Verteilung ihres Resultats ist keine Rede. Kinderarmut, Armut überhaupt ist in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, wie es immer heißt, kaum einmal ein Thema. Moralisch bemäntelte Heuchelei ist an der Tagesordnung. Die neue Regierung verweigert der Ukraine Rüstungsmaterial, weil das mit der deutschen Geschichte nicht zu vereinbaren sei. Wie wahr. Aber purer Zynismus, denn die deutschen Rüstungsexporte sind unter der alten und der schon neuen Regierung des Aufbruchs zu Ende des Jahres 2021 von 5,8 im Jahr 2020 auf die Rekordhöhe von 9,3 Milliarden Euro gestiegen. Größter Abnehmer: die Militärdiktatur in Ägypten. Die zugesagte finanzielle Zulage für das Pflegepersonal wurde dafür erst einmal gestrichen, die zugesagte lächerliche Erhöhung des Mindestlohns von 9,80 auf 12 Euro, die nicht einmal die Inflation der letzten Monate auffangen würde, lässt auf sich warten. Dagegen regt sich kaum Widerstand, wohingegen Impfgegner, Verschwörungsidioten und Faschisten die Straße beherrschen.

Der nämliche Befund im Sport. Da werden die olympischen Winterspiele in Peking an Orten ausgetragen, an denen es keinen Schnee gibt, weil die Sponsoren, weil die Finanzwirtschaft es so wollen. Und im kommenden November findet aus den nämlichen Gründen die Fußball-WM im nicht minder diktatorischen Wüstenstaat Katar statt, wo auf minimaler Landfläche für vier Milliarden Euro acht Stadien gebaut werden, die insgesamt fast 300.000 Personen Platz bieten und anschließend nicht mehr gebraucht werden, weil die Einheimischen wieder auf ihre Kamele und SUVs umsteigen Um diesen (Größen-) Wahnsinn den Zuschauern schmackhaft zu machen, wirbt das Fernsehen naiv unverdrossen (weil von der Werbewirtschaft diktiert) für die Spiele in China, als gebe es nichts Schöneres auf der Welt. Und der Fußball wird seit einiger Zeit sprachlich aufgepeppt, um ihn in ästhetische Sphären zu entführen. Man spielt von Box zu Box (das war früher einmal der Strafraum vor beiden Toren), die Spieler kreieren Chancen wie Modeschöpfer und finalisieren mit dem Torschuss. Was früher einmal Volkssport war, wird von der Sprache der Börsenspekulanten gekapert.

Und dann erst die Folgen von Black lives matter und me too!. So berechtigt diese Bewegungen in den USA zunächst waren – die Fahne der konföderierten amerikanischen Sklavenhalterstaaten, die immer noch überall, zumal von Trump-Anhängern gezeigt wird, gehört genauso verboten wie die Reichskriegsflagge – so sehr sind sie seither zu Ab- und Ausgrenzungsphänomenen mit schrillen, oft egozentrischen und selbstherrlichen Tönen degeneriert. Geschichte wird dann oft leichtfertig beiseite gefegt, etwa wenn es um die Schleifung von Denkmälern geht. Natürlich gibt es Statuen «großer» (meist) Männer, die kein Denkmal verdienen und getrost entsorgt werden könnten, andere aber sollte man durch Erklärungen zeitgeschichtlich konnotieren, statt sie zu zerschlagen. Wir können nicht existieren, ohne unsere Geschichte zu kennen. Das Wort „Mohrenköpfe“ zu verbieten, die „Mohrenapotheke“ oder „Mohrengasse“, ist nur kindisch. Schwarzfahren ist verpönt, nicht wegen des Tatbestands, sondern der angeblich rassistischen Konnotation halber. Behörden installieren LGBTIC+-Toiletten und diskutieren ernsthaft, ob das weibliche Stadtoberhaupt fürderhin Bürgerinnenmeisterin heißen soll. Solche Sorgen muss man sich leisten können, sie wären mehr als lächerlich, würden sie nicht so manchen Zeitgenossen umtreiben.

Aus dem berechtigten Anliegen, Geschlechter- und Rassengleichheit herzustellen, ist längst kleinkariertes Hickhack an der Oberfläche geworden, das weder Ungleichheit zwischen Rassen noch zwischen Geschlechtern beseitigt. Wir leben in viktorianischen Jahren. Viel Brimborium und Triumphalismus nach außen, während man die Schweinereien im Mieder oder den Unterröcken verschwinden lässt.

Text: Jochen Kelter, Bild: Ein Denkmal für den Konföderierten- [Sklavenhalter-] General Robert E. Lee (1807-1870), fotografiert von JamesDeMers auf Pixabay, bearbeitet.