Vom Baren, Schönen und Guten (I)
Wie und zu welchem Zweck wird ein Mensch eigentlich Berufsphilosoph? Was tut er den lieben langen Tag? Wir haben uns über diese und viele weitere Fragen mit Prof. Dr. Gottfried Gabriel unterhalten, der auf ein langes Philosophenleben vor allem an den Universitäten Konstanz und Jena zurückblicken kann.
Teil 1/3
Teil 2 lesen Sie hier, Teil 3 hier.
seemoz: „Normale“ Knaben unserer Jahrgänge wollten Lokführer oder Autobahnpolizist sein – lieber heute als morgen. Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, ausgerechnet Philosoph zu werden?
Gabriel: Ich hatte ganz andere Pläne, in jungen Jahren wollte ich nämlich Schäfer werden. Aber wenn Menschen in die Pubertät kommen, gibt es zwei Entwicklungsmöglichkeiten. Entweder sie machen Randale, oder sie werden introvertiert. Bei mir war Letzteres der Fall. Ich war damals zeitweise ein Träumer …
seemoz: … nur der wirklich Einsame kennt die Klassiker auswendig. Was hat Sie inspiriert?
Gabriel: Mit 15 Jahren stellte sich mir plötzlich die Frage, warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Ich fand das erstaunlich und bin seitdem von Aristoteles‘ Satz, dass die Philosophie mit dem Staunen beginne, überzeugt. All diese Themen haben mich nie wieder losgelassen. Zum Glück hatten wir in Nordrhein-Westfalen, wo ich aufgewachsen bin, schon damals in der Oberstufe Philosophieunterricht, und ich habe mich sehr dafür interessiert, was man mit Philosophie alles machen kann.
seemoz: Ihr ursprünglicher Berufswunsch, Schäfer, war ja angesichts Ihrer Familiengeschichte eigentlich nicht so abseitig.
Gabriel: Ja, aber ich bin am Ende ziemlich aus der Art geschlagen. Ich bin 1943 in Westpreußen geboren worden, meine Vorfahren waren seit dem 30-jährigen Krieg allesamt Landwirte, auch mein Vater war Landwirt. Meine Mutter ist mit mir dann gegen Kriegsende nach Westen geflohen. Wir sind in Ostwestfalen auf dem Bauernhof gelandet, von dem meine Vorfahren ursprünglich herkamen. Dort lebten Verwandte von uns, und erst mein Großvater war von dort nach Westpreußen ausgewandert. Wir sind also als Flüchtlinge quasi in unsere alte Heimat zurückgekommen.
In Westpreußen wäre auch ich unter normalen Umständen ganz selbstverständlich Landwirt geworden. Als einziger Sohn hätte ich mich nicht weigern können, eines Tages unseren Hof zu übernehmen. Aber durch unsere Flucht und den Verlust des Hofes konnte ich etwas ganz anderes machen, etwas, das mir richtig Spaß machte.
seemoz: Aber gleich Professor, wollten Sie nach den Sternen greifen?
Gabriel: Ich war nicht so vermessen, Professor werden zu wollen. Ich war so pragmatisch eingestellt, dass ich einen klaren Beruf mit einer Zukunftsperspektive haben wollte. Deshalb habe ich in Münster auf Lehramt studiert, um Studienrat in Ostwestfalen zu werden und die dortigen Dickköpfe zu erleuchten.
Seemoz: An der Uni in Münster wurden Sie dann „entdeckt“?
Gabriel: Dass ich Philosophieprofessor geworden bin, ist reiner Zufall, weil ich zum richtigen Zeitpunkt mit den richtigen Studienfächern am richtigen Ort war. Ich habe Germanistik und Philosophie studiert und außerdem mathematische Logik gehört. Dann wurde eine Hilfskraft für die Edition der Werke des Philosophen und Logikers Gottlob Frege gesucht, man brauchte einen Philologen, der auch etwas von Logik versteht, und die sind dünn gesät. Das war der erste Glücksfall, denn so kam ich an meine erste Uni-Stelle.
Als mein Lehrer Prof. Friedrich Kambartel 1966 einen Ruf auf einen Lehrstuhl an der Universität in Konstanz bekam, brauchte er Mitarbeiter und hat mich mit an den Bodensee genommen. Ich bekam, und dies ist mein zweites Glück, schnell eine feste Beamtenstelle, weil ich Langzeitaufgaben erhielt wie das „Historische Wörterbuch der Philosophie“, die Frege-Ausgabe und die Bolzano-Ausgabe. Außerdem habe ich die Studienberatung am Fachbereich Philosophie übernommen. Ich hatte also feste Aufgaben, und das war mein Glück, denn die meisten KollegInnen in dieser Situation bekamen damals ja keine ordentlichen Stellen, sondern nur Zeitverträge. So konnte ich überwintern und habe mich dann bald nach der Promotion auch habilitiert und wurde 1982 Professor in Konstanz.
Gottfried Gabriel (*1943 in Kulm a. d. Weichsel) lehrte von 1967 bis 1992 an der Universität Konstanz, ab 1982 als außerplanmäßiger Professor. 1986 bis 1988 war er Gastprofessor an der Universität Campinas in Brasilien. 1992 bis 1995 bekleidete er eine Professur an der Ruhr-Universität Bochum. Von 1995 bis 2009 hatte er den Lehrstuhl für Logik und Wissenschaftstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena inne. Gabriel ist ein Hauptherausgeber des inzwischen abgeschlossenen „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“.
Ab 24.10. hält Gabriel, obwohl längst im Ruhestand, an der Uni Konstanz (jeweils montags ab 11.45 Uhr in Raum A 704) eine Vorlesung über die „Philosophie der Literatur, der Kunst und der Medien“, zu der auch externe InteressentInnen herzlich eingeladen sind.
Einige seiner Werke:
– Kant. Eine kurze Einführung in das Gesamtwerk, Paderborn 2022.
– Ästhetik und Rhetorik des Geldes, Stuttgart–Bad Cannstatt 2002.
– Grundprobleme der Erkenntnistheorie: Von Descartes zu Wittgenstein, Paderborn, 4. Aufl. 2020.
seemoz: Sie sind in Ihrem Beruf ganz schön herumgekommen.
Gabriel: Als die Zeiten wieder besser waren, bekam ich 1992 einen Ruf nach Bochum, und zweieinhalb Jahre später berief man mich dann nach Jena. Nach Jena wollte ich natürlich liebend gern gehen, denn Jena ist ja die Stadt, in der Gottlob Frege, einer meiner drei philosophischen Helden, lehrte. Ich wohnte dort gegenüber von Freges Wohnhaus. Beim Frühstück schaute ich auf die Gedenkplakette „Hier wohnte Gottlob Frege, Mathematiker“.
Ich habe beruflich also einfach durchgehend Glück gehabt, das kann ich nicht anders sagen. Mein Sohn Moritz hingegen hatte einmal größeres Pech. Er ist in einem Alter, als ich noch ein Musterschüler war, sitzengeblieben.
seemoz: Professors Kinder, Müllers Vieh gedeihen selten oder nie.
Gabriel: Das will ich nicht gehört haben! Ich habe ihn damals zur Rede gestellt: „Du bist doch nicht zu dumm, das ist doch bloß Faulheit!“ Darauf antwortete er mir: „Vater, glaubst Du etwa, ich will als Philosophieprofessor enden?“ Als Philosophieprofessor zu enden, das war für ihn etwa wie in der Gosse zu enden.
Mir konnte hingegen nichts Besseres zuteil werden. Wenn ich sehe, wie heute Habilitierte ohne Zukunftsperspektive herumhängen müssen, finde ich das unmöglich. Aber auch mein Sohn ist dann auf einen ganz anderen Weg geraten, er ist Schauspieler geworden. Trotzdem will er mir bis heute immer wieder auch noch etwas in Philosophie beibiegen. Die umgekehrte Richtung lässt er allerdings nicht zu. Auf die Bemerkung einer Freundin der Familie „Dein Vater ist doch auch so etwas wie ein Schauspieler“ entgegnete der Sohn: „Mein Vater ist kein Schauspieler, mein Vater ist ein Entertainer.“ Da war mir klar: Der Junge will sein eigenes Revier gegenüber dem Alten abgrenzen.
seemoz: Versuchen wir mal, ein paar dicke Bretter zu bohren. Was ist eigentlich Philosophie?
Gabriel: Die Frage, was Philosophie ist, halten die meisten Philosophieprofessoren für eine nur ganz schwierig zu beantwortende Frage. Für mich ist diese Frage relativ einfach: Für mich ist Philosophie die systematische Behandlung des Wahren, des Guten und des Schönen.
seemoz: Also Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik.
Gabriel: Genau, das sind für mich die Grundfragen der Philosophie, und daran gibt es für mich auch nichts zu rütteln. Die Methoden, wie Philosophen mit diesen Fragen umgehen, sind freilich unterschiedlich, aber da bin ich vor allem auf Kants Seite. Frege [1848-1925] ist zwar mein Lieblingsautor, aber er hat sich ja „nur“ mit Logik und Sprachphilosophie beschäftigt. Kant [1724-1804] hingegen hat sich mit allem beschäftigt, und in dieser Hinsicht kommt ihm nur Aristoteles [384-322 v. Chr.] gleich, bei dem ich immer wieder erstaunt bin, wie jemand, der vor so langer Zeit gewirkt hat, uns heute noch so viel zu sagen haben kann.
seemoz: Es gibt ja Spötter, die behaupten, sämtliche Fragen des abendländischen Denkens habe bereits Aristoteles gestellt. Jedes Jahrhundert suche sich dann nur ein paar dieser Fragen heraus und beantworte sie anders als die Jahrhunderte zuvor.
Gabriel: Der klassische Spruch ist ja, dass die abendländische Philosophie nur aus Fußnoten zu Platon bestehe. Als junger Mann war ich großer Platon-Fan, aber je älter ich werde, desto mehr bin ich auf der Seite von Aristoteles. Ich finde auch, dass Aristoteles seinen Lehrer Platon [427-347 v. Chr.] an der richtigen Stelle kritisiert. Es ist unglaublich, welche Bandbreite diese Klassiker beherrschten.
seemoz: Philosophie umfasste ja früher praktisch das gesamte verfügbare Wissen, und mit der Herausbildung und rasanten Entwicklung der Einzelwissenschaften ist ein solcher kompletter Überblick wohl kaum mehr menschenmöglich. Seit der Neuzeit wurde der Bereich der Philosophie immer enger, es wurden die Naturwissenschaften und die Mathematik ausgeschieden, und Soziologie, Psychologie oder Ökonomie wurden eigene Wissenschaften.
Gabriel: Wie gesagt, es geht um das Gute, das Wahre und das Schöne. Ich habe mich mein ganzes Berufsleben über und bis heute mit all diesen Themen beschäftigt und vertrete seit jeher eine gewisse Breite. Das ging mir ja schon im Studium so, Philosophie und Literatur einer- und Logik andererseits. Wenn ich von einem Bereich in den anderen wechselte, waren das zwei verschiedene Welten, sie hatten ganz eigene Kulturen, eine ganz eigene Sprache, und es waren oft auch ganz andere Persönlichkeiten, die diese Fächer lehrten.
seemoz: Andere Philosophen sahen da eher ein Entweder-Oder bzw. schlossen die schönen Künste aus den Mitteln der Wahrheitsfindung aus.
Gabriel: Ich vertrete heute ein Komplementaritätsmodell der Erkenntnis und meine, dass sich die verschiedenen Erkenntnisformen gegenseitig nicht ausschließen, sondern ergänzen. Die Extreme sind Logik und Literatur, daher heißt ja auch ein Buch von mir „Zwischen Logik und Literatur“. Es geht mir um die verschiedenen Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft und dass es zwischen den beiden Extremen auch noch weitere Erkenntnisstufen gibt.
Ich bin im Unterschied zu den meisten anderen analytischen Philosophen ein vehementer Verteidiger der literarischen Formen der Philosophie. Das berühmteste Beispiel dafür ist wahrscheinlich Wittgenstein. Die Thematik literarischer Formen der Philosophie wird im Augenblick allerdings vor allem unter dem Aspekt der Dekonstruktion behandelt. Bei den Dekonstruktivisten ist es ja so, dass sie philosophische Metaphern den literarischen Metaphern gleichsetzen, und zwar mit dem Ziel, den Erkenntniswert der Philosophie herabzusetzen. Für mich ist es gerade umgekehrt: Auch literarische Metaphern haben einen hohen Erkenntniswert, und die Philosophie verliert für mich nicht ihre Bedeutung, weil auch Philosophen metaphorische Wendungen benutzen und damit in so genannter uneigentlicher Rede sprechen. Insbesondere zu dem Thema des Erkenntniswertes literarischer Formen halte ich meine öffentliche Ästhetik-Vorlesung in diesem Wintersemester. Ich will damit nicht nur Philosophinnen und Philosophen ansprechen, sondern alle literarisch interessierten Menschen auch von außerhalb der Universität.
- Dies war der 1. Teil des Gesprächs, hier lesen Sie den 2. Teil.
Das Gespräch führte Harald Borges. Bilder: oben Jespah Holthof, unten Privatbesitz.