Vom Baren, Schönen und Guten (II)

Was macht es mit einem Kind, wenn unter dem Weihnachtsbaum nicht das ersehnte Paket von Märklin liegt? Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Um diese und andere letzte Fragen kreist der zweite Teil unseres Gespräches mit dem Philosophen Gottfried Gabriel.

Teil 2/3
Teil 1 lesen Sie hier, Teil 3 hier.

seemoz: Sie waren 1968 bereits 25 Jahre alt, aber ich entnehme Ihrem Beitrag in Horst Sunds Sammelband „Pioniere der Universität Konstanz. Zeitzeugen aus den Gründerjahren“, dass Sie kein Achtundsechziger waren, sondern sich den „Rationaldemokraten“ aus dem Umfeld von Ralf Dahrendorf angenähert haben. Sie haben damals offensichtlich viel mitbekommen von den Linken, mit denen sie im Clinch lagen.

Gabriel: Clinch? Sagen wir‘s mal so – wir sind uns mit Respekt begegnet. Aber ich war der letzte Wahlleiter des Studentenparlaments. Ich war damals richtig sauer und nachhaltig beleidigt, als die Linken das Parlament aufgelöst haben, dessen Präsident zu diesem Zeitpunkt übrigens der spätere SPD-Bundestagsabgeordnete Rudolf Bindig war. Ich war als Student politisch in Organen wie der Fakultät und dem Senat tätig. Ich gehörte zwar altersmäßig zu dieser Generation, war aber kein Achtundsechziger, sondern habe meine Zeitgenossen durchaus kritisch gesehen. In einem allerdings gebe ich den Linken nachträglich recht, da war ich damals blind und habe das falsch gesehen: Heute halte ich den Vietnamkrieg für ein Verbrechen.

Ansonsten war es in Konstanz damals relativ friedlich, und man konnte auch mit den Menschen vom SDS vernünftig diskutieren. Eine Geschichte, die mir noch in Erinnerung ist, war mein Seminar über Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus“, das erkenntnistheoretische Hauptwerk des Marxismus-Leninismus. Mir ist bis heute unverständlich, warum gerade dieses Buch eine derartige Bedeutung erhalten hat und als Klassiker gilt. Aber egal.

seemoz: Es war von Lenin wohl in erster Linie als Kampfmittel gegen die österreichische Sozialdemokratie gedacht, die in der Arbeiterschaft sehr stark verankert war.

Gabriel: Für jemanden, der von Haus aus kein Philosoph ist, ist es eine durchaus ansprechende Leistung, aber dass dieses Werk zum entscheidenden Klassiker der Erkenntnistheorie in den sozialistischen Ländern werden konnte, ist ein deutliches Zeichen dafür, wie dogmatisch es dort zuging.

Ich hielt jedenfalls diesen Kurs über Lenin, und der wurde als ein Schulungskurs in Marxismus-Leninismus missverstanden. Es gab einen Aufstand, als ich Lenin kritisierte, und es wurde ernsthaft erwogen, ob man mich als Dozenten nicht ablösen sollte. Mich hat dann aber die rote Ulla rausgehauen, und zwar mit dem wundervollen Argument, solange die Weltrevolution noch nicht da sei, brauche man noch bürgerliche Intellektuelle wie mich. Ich fragte mich nach diesen Diskussionen damals, was mit mir denn wohl nach der Revolution geschehen würde.

seemoz: Bürgerliche Intellektuelle genossen unter vielen Linken durchaus Respekt. Ein Freund von mir, der beim Kommunistischen Bund Westdeutschland war, besuchte damals noch regelmäßig seinen alten Lehrer. Er war auf ein Jesuiteninternat gegangen und der Lehrer war ein katholischer Geistlicher, auf den er große Stücke hielt, weil der ihm richtig etwas beigebracht hatte.

Gabriel: Wahrscheinlich durfte ich in Wirklichkeit nur in meinem Seminar bleiben, weil ich der einzige im Raum war, der am Ende die Leistungsnachweise unterschreiben durfte.

Es wurde eine tolle Veranstaltung, und es war unglaublich, wer alles in diesem Seminar saß: Trotzkisten, Stalinisten, Maoisten, Anarchisten … Es war eine wunderbare, äußerst lebhafte Veranstaltung, bei der Gegensätze intensiv ausgetragen wurden, ohne dass man einander in die Hüfte schoss.

seemoz: Heute geht es an der Uni ruhiger zu?

Gabriel: Die Studierenden sind heute ja schon froh, wenn ihnen die Dozenten ein gutes Unterhaltungsprogramm liefern. Früher wurde noch diskutiert, dass die Ohren heiß wurden. Ich treffe übrigens heute noch Leute, die an diesem Lenin-Kurs teilgenommen haben.

Es ist erstaunlich, was aus einigen Linken geworden ist. Gabriele Kuby war damals Vorsitzende des SDS und hat später ein Buch „Mein Weg zu Maria – Von der Kraft lebendigen Glaubens“ geschrieben. Sie steht heute als konservative Katholiken auf einer ganz anderen Seite des politischen Spektrums als damals. Das ist schon ein ganz erstaunlicher Weg vom SDS zur katholischen Fundamentalistin.

seemoz: Sie haben 50 Jahre lang unterrichtet. Wie hat sich denn ihr Selbstverständnis als Dozent und ihr Verhältnis zu ihren Studentinnen und Studenten verändert?

Gabriel: Überhaupt nicht. Ich verstehe mich wirklich in erster Linie als Hochschullehrer. Meine Einstellung dazu hat sich in all den Jahren nicht geändert, und ich mache es immer noch so liebend gern, dass ich meine Vorlesungen heute sogar halte, ohne ein Honorar dafür zu nehmen. Das tue ich allerdings nicht aus reiner Menschenliebe, sondern auch, um mir selbst Ziele zu setzen und mich zu prüfen, was ich trotz meines Alters und meiner Parkinson-Erkrankung noch erreichen kann. Solange meine Hörer und Hörerinnen Gefallen an meinen Veranstaltungen haben und immer noch so viele Studierende die Klausuren am Ende mitschreiben, mache ich weiter.

seemoz: Voran in die Vergangenheit: Im November 1977 gingen beim Empfang, den der Fachbereich Philosophie und seine Dozenten für uns Frischlinge gab, die Alkoholvorräte zu vorgerückter Stunde zur Neige. Also zogen wir nach Staad auf die Fähre, auf der es einen Bierautomaten gab, und fuhren zwischen Konstanz und Meersburg hin und her, bis es auch dort nichts mehr gab. Danach machten wir uns kurzentschlossen zum Rohbau Ihres Hauses auf, in der Hoffnung, dort vielleicht noch eine Kiste Bier, die eigentlich für die Handwerker gedacht war, verkosten zu können. Bingo!

Irgendwann gingen wir dann trotz der herbstlichen Nachtkühle hinter einen Busch, um unser Wasser abzuschlagen. Da fragten Sie mich plötzlich, welche Modelleisenbahn ich gehabt hatte (damals bekam noch jeder Junge eine Eisenbahn): „Raus mit der Sprache, hatten Sie Märklin oder Minitrix?“

„Minitrix.“

„Dann wird aus Ihnen nie ein Philosoph!“

„Weshalb?“

„Als Knabe sind Sie an Weihnachten zum Tannenbaum gestürzt, und darunter lag ein großes Geschenk. Sie haben es aufgerissen und sind entsetzt zurückgeprallt, denn darin lag eine Minitrix, aber alle ihre Freunde hatten Märklin! In diesem Moment erlitten Sie einen Schock, der sie lebenslänglich für die Philosophie untauglich machte.“ Diese Frage haben wir tatsächlich intensiv, wenn auch augenzwinkernd diskutiert.

In Wirklichkeit war das natürlich eine Projektion. Ich hatte mir als Kind einen Baukasten von Märklin gewünscht. Aber meine Mutter, die sich damit nicht auskannte, hatte mir einen Kasten von Mignon gekauft, bei dem die Teile aus Aluminium waren. Im Grunde genommen war dieser Baukasten sogar technisch anspruchsvoller als der von Märklin und ein tolles Ding. Aber er war einfach nicht von Märklin!

seemoz: Also wurde mir mein Scheitern als Philosoph schon als Kind unter den Weihnachtsbaum gelegt?

Gabriel: Ganz so kann man das nicht sagen, denn dazu tragen immer viele Faktoren bei. Und was ich Ihnen damals gesagt habe, war ja eine Übertragung. Ich habe meinen Schock, dass ich nicht Märklin gekriegt hatte, einfach von meinem Metallbaukasten auf Ihre Minitrix übertragen. (Mitleidig lächelnd:) Trix statt Märklin ist ja schon schlimm genug, aber Minitrix, das ist die Höchststrafe. Die ist doch so klein, dass man gar nichts richtig mit dem Kran verladen kann. Haben Sie denn wirklich nie eine Märklin vermisst? Ich kriegte fast eine Depression, als ich vor ein paar Jahren las, dass Märklin beinahe pleite gegangen ist.

seemoz: Schluss damit, ich erröte bis in die Kompressionsstrümpfe hinein, wenn Sie dieses Thema auch nur ansprechen. Modelleisenbahnen sind allerdings im Zeitalter des Internets und der digitalen Spiele komplett aus der Mode gekommen. Genauso wie das Briefmarkensammeln. Ich hörte vor vielen Jahren ein Interview mit einem österreichischen Dieb, der erzählte, dass er bei seinen Einbrüchen mittlerweile Briefmarkensammlungen gar nicht erst mitnimmt, weil sie ihm kein Hehler mehr abkauft.

Gabriel: Ich habe früher übrigens selbst ein wenig gesammelt und später einen politisch-ikonographischen Vergleich der Briefmarken in der Bundesrepublik und in der DDR verfasst. Interessant ist zum Beispiel, dass auf keiner Briefmarke der DDR zur Feier des „antifaschistischen Schutzwalls“ die Mauer selbst gezeigt wurde. Und wenn auf bundesrepublikanischen Briefmarken das Brandenburger Tor abgebildet wurde, wurde es immer von der Ostseite aus gezeigt, denn die Pferde schauten nach Osten.

Damit habe ich übrigens auch einen klassischen linken Autor auf meiner Seite, denn Walter Benjamin war ja bekennender Briefmarken-Fan und behauptete, aus den Briefmarken könne man das historische Selbstverständnis der Staaten ablesen. Heute ist das ja leider nicht mehr so, denn die Post bringt vor allem irgendwelche nichtssagenden Blumenmotive heraus. Die politische Ikonographie der Briefmarken ist ein spannendes Thema. Noch mehr gilt dies für die Ästhetik und Rhetorik des Bargeldes in Form von Münzen und Scheinen. Dazu habe ich ein Buch verfasst, das insbesondere die Frage beantwortet: Woher kommt es, dass auf deutschen Geldnominalen die Eichensymbolik seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts einen festen Platz hat – bis hin zu den Euro-Cent-Münzen?

Ganz so erdenfern, wie die Öffentlichkeit oftmals glaubt, sind wir Philosophieprofessoren nämlich gar nicht.

Das Gespräch führte Harald Borges. Bilder: oben Sebastian Kempgen (Fußballmannschaft Philinguis [Philosophen und Linguisten], Ende der 1970er Jahre, Gabriel in der hinteren Reihe je nach Zählung 4. bzw. 5 von rechts), unten Privatbesitz.