Vom Baren, Schönen und Guten (III)
Im dritten und letzten Teil unseres Gesprächs mit dem Philosophen Gottfried Gabriel geht es um Geltung und öffentliche Wirkung der aktuellen Philosophie und um die Zukunftspläne und ein Hobby eines Mannes, der mit 79 Jahren noch einiges vorhat.
Teil 3/3
Teil 1 lesen Sie hier, Teil 2 hier.
seemoz: Sie halten ja noch immer gut besuchte Vorlesungen an der Universität, und das aus reinem Spaß. Wem würden Sie heutzutage ein Philosophiestudium empfehlen?
Gabriel: Jedem, der sich ernsthaft dafür interessiert. Ich gebe aber immer zu bedenken, dass die einzige sichere berufliche Beschäftigung für einen Philosophen der Schuldienst ist. Wer kein Examen ablegt, das ihn zum Referendariat berechtigt, dem eröffnet die Philosophie keinen Berufsweg. Man braucht im Leben einen festen beruflichen Stand und sollte daher die Philosophie im Studium mit anderen Fächern kombinieren, die an der Schule gebraucht werden, sodass man Aussichten hat, später einmal Studienrat oder Studienrätin zu werden oder sich auf das Fach Ethik für die Schule zu spezialisieren, das in Konstanz ja auch gelehrt wird. Eine gute Möglichkeit ist es auch, Philosophie als Nebenfach in einem berufsqualifizierenden Studium zu wählen. Davon, einfach nur Philosophie ins Blaue hinein zu studieren, habe ich auch in meiner Studienberatung immer wieder abgeraten.
Übrigens erwarten viele Menschen, dass wir so etwas wie Esoterik betreiben, aber wir Philosophen machen natürlich genau das Gegenteil.
seemoz: Sie können auf eine lange Publikationsliste zurückschauen, Ihr erstes Buch erschien 1972, also vor 50 Jahren. Welches Buch wollen Sie noch schreiben? „Das nächste“, sagt eigentlich jeder Schriftsteller …
Gabriel: Ich würde gern noch eine zusammenhängende Darstellung der Philosophiegeschichte auf der Basis meiner Vorlesung zu diesem Thema veröffentlichen. Darin würde ich natürlich meine Lieblingsklassiker bevorzugen, jede Philosophiegeschichte hat ja eine persönliche Note. 250 Seiten liegen bereits zur Durchsicht bei meinem ehemaligen Mitarbeiter Sven Schlotter, der bei mir in Jena promoviert wurde und auf dessen Urteil ich mich immer verlassen kann.
Einen Vorschein meines Verständnisses von Philosophiegeschichte gibt das Buch „Grundprobleme der Erkenntnistheorie“, das inzwischen in 4. Auflage erschienen ist, sowie mein neues Buch über Kant.
Danach möchte ich noch ein Buch in englischer Sprache zusammenstellen, mit Aufsätzen zu Frege, Wittgenstein und Carnap. Darin geht es gegen die Trennung zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie, denn es wird oft übersehen, dass die analytische Philosophie aus der kontinentalen Tradition gespeist ist. Gottlob Frege, den ich über alle Maßen schätze und als Logiker für gleichrangig mit Aristoteles halte, als alleinigen Gründungsvater der aktuellen analytischen Philosophie zu bezeichnen, finde ich allerdings übertrieben. Frege hat viele Traditionsstränge der deutschen Philosophie aufgenommen und fortgeführt. Das ist den Angelsachsen allerdings unbekannt, weil diese Texte ausschließlich auf Deutsch vorliegen. Frege, so wichtig er auch war, hat die moderne Logik nicht aus dem Nichts geschaffen.
seemoz: In welche Richtung bewegt sich „die“ Philosophie derzeit?
Gabriel: Im Moment diskutieren analytische Philosophen in vielen Ländern immer mehr Detailfragen, statt sich mit den großen Fragen zu beschäftigen. Ich bin selbst ja analytischer Philosoph, aber im Moment ist unsere Philosophie auf dem Weg zu einer haarspalterischen Neoscholastik …
seemoz: … also zur Tüpfelescheißerei …
Gabriel: Ich nenne das lieber Fisselkrämerei. Ich habe junge Philosophen und Philosophinnen in Kolloquien und auf Tagungen immer wieder gefragt, warum sie sich denn mit derart uninteressantem Kram beschäftigen und irgendwelche Unterscheidungen noch um eine Vierteldrehung nach links oder rechts drehen, um daraus neue Aufsätze zu machen. Die Antwort: Sie müssten das so machen, weil andere Texte von den Fachzeitschriften nicht mehr zur Publikation angenommen werden. Das finde ich eine sehr negative Entwicklung.
Auch sollten viele Philosophen ihre Augen wieder weiter öffnen. Ich verstehe, dass sich viele vom Deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) oder von Heidegger absetzen wollten, aber man sollte einen Weg finden, damit umzugehen, statt sich davon nur radikal abzugrenzen.
seemoz: in der Öffentlichkeit sind Fachphilosophen heutzutage ja kaum noch präsent. Gestalten wie Kant, Heidegger oder Adorno kannte man zu ihren Lebzeiten und weit darüber hinaus noch in einer breiteren Öffentlichkeit, auch wenn sie kaum einer gelesen hatte, weil sie schwere Kost sind. Heutzutage sind in Deutschland eigentlich nur Peter Sloterdijk und Richard David Precht in den Medien vertreten, und das sind mittlerweile eher aufmerksamkeitsheischende Popularphilosophen.
Gabriel: Viele meiner Kollegen regen sich über solche Philosophen auf. Ich bin ihnen gegenüber hingegen eher tolerant. Es ist natürlich beängstigend, wenn ein Philosophiekongress stattfindet und alle Journalisten nur nach Sloterdijk fragen. Aber ich finde, dass sowohl Sloterdijk als auch Precht eine wichtige Rolle einnehmen, weil sie Dinge vermitteln, die die meisten Menschen sonst gar nicht mitbekommen. Das ist zwar keine akademische Philosophie, aber ich finde es gut, dass es Menschen gibt, die philosophische Themen überhaupt in die Öffentlichkeit tragen.
seemoz: Ist diese Abgeschiedenheit der Philosophie ein deutsches Phänomen?
Gabriel: In Frankreich spielen Philosophen in den Feuilletons weiterhin eine große Rolle. Man denke nur an die Dekonstruktivisten wie Derrida, obwohl ich mich immer wieder frage, ob die Leute ihn überhaupt verstehen. Ich frage mich ohnehin, wieso Autoren, die so kryptisch sprechen und schreiben, derart großen Anklang finden. Aber vielleicht liegt es ja gerade daran. In Deutschland hat im Augenblick eigentlich nur noch Habermas eine derartige öffentliche Position.
seemoz: Der aktuellen Philosophie wird gelegentlich auch vorgeworfen, dass sie nur noch Philosophiegeschichte sei und sich mit ihrer eigenen Vergangenheit beschäftige, statt selbst große Sprünge ins Neue hinein zu wagen.
Gabriel: Ich habe aus meiner langjährigen Tätigkeit beim „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ gelernt, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie einem auch systematische Argumente an die Hand gibt. Wer sich nicht mit der Geschichte der Philosophie beschäftigt, verengt seinen Blickwinkel. Das ist auch der Grund, warum ich, obwohl ich mich als systematischen Philosophen verstehe, hier in Konstanz Überblicksvorlesungen zur Geschichte der Philosophie halte.
seemoz: Es gibt ja das alte Bonmot, dass die angelsächsische Philosophie nach Klarheit strebe, während die deutsche die Tiefe suche. Das könnte auch erklären, warum etliche deutsche Philosophen so schwer lesbar sind.
Gabriel: Aber Kant sagt ja auch, dass nicht jeder Philosophie verstehen muss. Philosophie als Wissenschaft ist einfach ein hartes Geschäft. Ich denke, dass nicht jeder Mensch Philosophie treiben muss, Philosophie ist einfach ein bestimmtes Bedürfnis, das nicht jeder hat.
seemoz: In unserem Gespräch fiel immer wieder der Name Frege. Welche Bedeutung hat denn Gottlob Frege in der Geistesgeschichte?
Gabriel: Außer in Fachkreisen kennt kaum jemand seinen Namen. Aber er ist der Begründer der modernen Logik und steht damit auf einer Stufe mit Aristoteles. Nicht zu unterschätzen ist übrigens auch, was Frege indirekt für die Entwicklung von Computerprogrammen geleistet hat. Die moderne Logik ist auf vielen Gebieten nützlich und hilft gelegentlich auch beim Argumentieren. Wenn man aber im Alltag sagt, etwas sei unlogisch, muss das nicht unbedingt mit logischen Fehlern im Sinne der wissenschaftlichen Logik zu tun haben. Menschen begehen im Alltag nicht allzu viele logische Fehler, aber einer ist häufig, nämlich die Verwechslung von notwendiger und hinreichender Bedingung.
seemoz: Logik ist bei den meisten Studentinnen und Studenten nicht sonderlich beliebt, sie hat sehr viel mit Mathematik und Formeln zu tun.
Gabriel: Ich habe immer bestritten, dass die Logik eine rein mathematische Disziplin ist, und Frege war der Meinung, dass die Logik allgemeiner und grundlegender als die Mathematik ist. Frege wollte eine logische Begründung der Mathematik (Arithmetik) liefern, nicht eine mathematische Begründung der Logik. Die Logik leistet Großes für die Mathematik, geht aber weit darüber hinaus. Ich versuche in meinen Kursen auch immer, Argumentationen logisch zu analysieren, damit die Logik etwas für den Hausgebrauch abwirft.
seemoz: Als Logiker spielen Sie doch sicher auch gern Schach?
Gabriel: Leidenschaftlich. Daher kannte ich übrigens auch den glühenden Linken Stefan Frommherz. Er spielte im Verein am dritten Brett der zweiten Mannschaft und ich am vierten. Ich mochte ihn. Traurig, dass er so früh verstorben ist.
seemoz: Wir danken Ihnen herzlich für dieses Gespräch.
*Finis*
Das Gespräch führte Harald Borges, Bilder: oben Privatbesitz, es zeigt den Philosophen im Kreis seiner Familie bei einer Capoeira-Übung, aufgenommen wurde es ca. 1987 während einer Gastprofessur an der Universität Campinas in Brasilien; unten: Krakau, 29-10-2014, Foto Lorne Carl Liesenfeld.
Ein wunderbarer Artikel über einen verdienten Gelehrten mit vielen privaten Einblicken. Sehr schön und großartig verfasst. Zwischenzeitlich habe ich als Altersstudent schon einige Vorlesungen bei Professor Gabriel mit Freude gehört und immer wieder staune ich über das große philosophische und historische Wissen von Herrn Professor Gabriel.
Zum Kommentar von Frau Bethke: Unangemessen und im Zusammenhang mit dem Interview völlig unangebracht und überzogen!
@Berit Bethke: Ich bin etwas verwundert über den harschen Kommentar von Frau Bethke, in dem meine Auffassung als „beschränkt und fahrlässig“ bezeichnet wird. Ich bin selbst lange Jahre Studienberater während meiner Tätigkeit im Fachbereich Philosophie der Universität Konstanz gewesen und kenne die Probleme. Es ist sicher richtig, dass Absolventen und Absolventinnen eines Masterstudiums der Philosophie noch andere berufliche Möglichkeiten als das Lehramt haben. Ein Masterstudium der Philosophie bietet eine ausgezeichnete Schulung in Kompetenzen, die Frau Bethke zu Recht anführt. Auf mögliche Arbeitsfelder, in denen diese Kompetenzen umgesetzt werden können, hat die Studienberatung hinzuweisen, und das habe auch ich immer getan, schon um Studierende, die sich bewusst gegen das Lehramt entscheiden, nicht zu entmutigen. Es ist aber fahrlässig, Studierende nicht darauf hinzuweisen, dass sie die erworbenen Kompetenzen in der Regel außerhalb der Philosophie umsetzen müssen. Der einzige berufsqualifizierende Abschluss in Philosophie ist und bleibt das Lehramt.
Die Antwort, dass man mit einem Philosophiestudium nur eine Chance auf dem Arbeitsmarkt hat, wenn man es auf Lehramt studiert, ist nicht zeitgemäß und entspricht in keiner Weise der Realität!
Ich bin Studienberaterin an der Universität und kann aus erster Hand berichten, dass Philosophie-Absolvent*innen in vielen Arbeitsfeldern erfolgreich sind und eine feste Stelle und sicheres Auskommen finden außerhalb des Lehrerberufs!
Im Studium lernt man ja nicht wie in einer Ausbildung ein Handwerk, das man dann im Beruf eins zu eins ausführt – im Studium entwickelt man Kompetenzen, die vielfältig einsetzbar sind – vor allem in einer immer komplexer werdenden Welt, in der akademisch ausgebildete Menschen in Arbeitsbereichen tätig sind, die sich ständig ausdifferenzieren.
Wer Philosophie studiert, lernt sich selbständig in komplexe Themen und Fragen einzuarbeiten, schult sein Urteilsvermögen, seine Analysefähigkeiten, sprachliche Prägnanz, logisches Denken sowie Projektmanagement, indem man strukturiert und zielgerichtet an einem Thema (z.B. für eine Hausarbeit) arbeitet etc… All das sind Kompetenzen, die in vielen Arbeitsfeldern gefragt sind, nicht nur im Journalismus und im weiten Feld der Medien (hier haben wir viele bekannte Beispiele über Precht, Sloterdijk und Flaßpöhler hinaus). Philosophieabsolvent*innen arbeiten im Kulturbereich, in der außerschulischen Bildung, insbesondere im größten Wachstumsbereich, dem E.Learning, sie sind Produktentwickler bei Tech-Firmen, Sachverständige in Ethikabteilungen von Unternehmen, Referent*innen in Behörden, Hochschulen, Vereinen und Verbänden, Campaigner*in bei NGO, Programmverantwortliche bei Stiftungen, sie gründen eigene Firma, arbeiten in Beratungsunternehmen, etc… Die Liste lässt sich sehr lange fortsetzen.
Es ist also beschränkt und fahrlässig, Studieninteressierten unbedingt zum Lehramt zu raten. Gerade, weil nur noch bei der Lehramtsoption der Zwang besteht, das Latinum nachzuweisen bzw. bis zum Ende des Bachelors zu absolvieren. Für die B.A.-Studierenden wurde diese Voraussetzung schon längst gekippt! Das Latinum ist der wichtigste Abbruchgrund für Philosophie/Ethik-Studierende im Lehramt. Diese Studierenden verliert man damit im Philosophiestudium. Aber irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, dass das Fach sich nicht gerade um Studierende bemüht und am liebsten nicht zu viele davon haben möchte.
Zunehmend wirkt die Philosophie in Deutschland mitunter als eine der letzten Elfenbeinturmwissenschaften, weil sie so wenig zu gesellschaftlichen Debatten beiträgt und Interessierte damit vergrault, das Lehramt zur einzigen Joboption zu erklären. Also woran liegt es, dass sich die Philosophen so schwer beim Transfer ihrer Kompetenzen tun?
Interessantes Gespräch auf hohem Niveau, toll.
Lieber Harald, von Herzen Dank für dieses ein weiteres deiner so erkenntnisbereichernden wie intimen Interviews, das mich diesmal in meine Studienzeiten zurückbindet. Als Historiker saß ich immer eine Etage unter den Philosophen und fremdelte mit Frege (und Gabriel). Heute freue mich schon darauf, nun endlich seine Vorlesungen hören zu können.