Vom Staatsanwalt, der auf einem Auge blind ist
Mit Ursel Beck und Wolfgang Isele kommen morgen, Donnerstag, 20.10., zwei aktive S21-Gegner nach Konstanz, um über den Bürgerprotest gegen S21 und die Stuttgarter Justiz zu berichten. Und über die zahlreichen Versuche, diesen Protest zu kriminalisieren, über unsägliche Staatsanwälte und unverschämte Strafen. Mehr um 19:30 Uhr im Treffpunkt Petershausen. seemoz sprach vorab mit den Referenten.
Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft gilt schon seit Jahren als skandalträchtig. Sie verschleppt Ermittlungsverfahren zu Nazi-Verbrechen in Italien, sie verweigert Untersuchungen gegen Rüstungsunternehmen – jetzt tut sie sich hervor als Verfolgungsinstanz gegen S 21-Gegner. Das hat, scheint’s, rechtslastige Methode…
Die Staatsanwaltschaft erfüllt in der Tat alle angeblichen Vorurteile, die linke und staatskritische Geister gegen die Justiz dieses Landes hegen. Sie steht zuverlässig auf der Seite von Macht und Kapital und verfolgt alle Aktivitäten, die vermeintlich oder tatsächlich diesen Interessen zuwider laufen. Und das mit einer Intensität und Einseitigkeit, die jeden Glauben an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ad absurdum führt. An der Spitze der Staatsanwaltschaft Stuttgart, die federführend für die Ermittlungen gegen Gegner von Stuttgart 21 ist, steht Oberstaatsanwalt Häußler. Er sorgt dafür, dass in seinem Apparat niemand aus dem Ruder läuft.
Kleine Beispiele für die Verfolgungswut dieser Staatsanwaltschaft gefällig ?
Sie forderte einen Strafbefehl von 4000 Euro gegen Gangolf Stocker, einem der prominentesten Köpfe der Bewegung. Dieser hatte nach Beginn der Abrissarbeiten am Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhof im August letztes Jahres eine Demonstration angemeldet, die in eine Umzingelung des Landtags mündete. Der Vorwurf gegen ihn: er sei über Handy nicht erreichbar gewesen, als hunderte Demonstranten die Bannmeile des Landtags gestürmt hätten.
Ein anderes Beispiel: Ein älterer Mann und engagierter Denkmalschützer kommentiert die auf großformatigen Werbeflächen verbreitete Lügenpropaganda der Bahn zu Stuttgart 21 mit einem Edding. Er schrieb auf eines dieser Plakate im Hauptbahnhof: Lügenpack. Ein damals wie heutiger richtiger Ausdruck für Vertreter von Bahn und Politik, die uns dieses Projekt als Fortschritt fürs Land und den Bahnverkehr verkaufen wollen. Ergebnis: Personalien-Feststellung, Strafbefehl und Prozess vor dem Amtsgericht wegen Sachbeschädigung. Den Prozess gegen ihn führt niemand anderes als Oberstaatsanwalt Häußler, der hier ein dringendes Verfolgungsinteresse sah und auf einer hohen Geldstrafe wegen Sachbeschädigung bestand.
Wie viele Verfahren gegen S 21-Gegner sind anhängig?
Laut eigenen Angaben laufen bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart bis heute weit mehr als 1500 Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit den Protesten gegen Stuttgart 21. In zahlreichen Prozessen wurden dutzende Gegner von Stuttgart 21 teilweise zu hohen Geldstrafen verurteilt.
Ins Bild passt natürlich, dass die gleiche Staatsanwaltschaft unter Oberstaatsanwalt Häußler selbstverständlich keinen Grund sieht, wegen Betrugs gegen damals für das Projekt Stuttgart 21 verantwortliche Politiker und Bahnmanager zu ermitteln. Sie hatten nachweislich und zugegebenermaßen dem Bundestag die bahn-intern ermittelten Kosten des Projektes Stuttgart 21 verschwiegen, um dessen Zustimmung nicht in Frage zustellen.
Sie ermittelt auch nicht gegen Mappus und Co. wegen Falschaussagen im Untersuchungsausschuss des Landtages zum 30.9. Und natürlich sind ihr auch die zahlreichen Verstöße der Bahn gegen Umwelt- und Naturschutz-Auflagen im Zusammenhang mit dem Projekt Stuttgart 21 keine Ermittlungen oder gar eine Razzia wert.
Die teils lächerlichen Vorwürfe gegen S21-Demonstranten riechen deutlich nach Schikane?
Der Begriff Schikane scheint uns etwas verharmlosend; aus unserer Sicht ist dieses Vorgehen nicht der Willkür einzelner aus dem Ruder laufender Polizeibeamte, Staatsanwälte oder Richter geschuldet. Die teilweise wirklich lächerlichen Vorwürfe haben System und sollen Wirkung entfalten. Sie sollen den Widerstand gegen Stuttgart 21 in gute friedliche Demonstranten und in bösartige Krawallmacher spalten; sie sollen im Widerstand gegen S21 aktive Menschen einschüchtern und davon abhalten, sich weiter zu engagieren. Und natürlich sollen sie auch der Bevölkerung, die sich nur aus den marktbeherrschenden Medien informiert, deutlich machen, dass der Protest gegen Stuttgart in Teilen kriminell ist und sich schon lange von seinen friedlichen Anfängen verabschiedet hat.
Welche Folgen hat das für die betroffenen Demonstranten?
Das lässt sich kaum verallgemeinern. In der aktiven Bewegung gibt es durchaus Diskussionen zum Thema Kriminalisierung und das Bemühen, kollektiv mit der Verfolgung der Bewegung gegen Stuttgart 21 umzugehen. Es gibt regelmäßige Rechtsberatung, Infoveranstaltungen und einen Unterstützungsfonds, der betroffenen Gegnern von S21 eine anwaltliche Unterstützung gibt. Auch bei Prozessen steht niemand allein. Durch zahlreiche Besucher wird nicht nur Öffentlichkeit hergestellt, sondern es mangelt auch nicht an Solidaritätsbekundungen durch das Publikum, die sicher die Moral der Angeklagten S21-Gegner stärken. Über all das wird über die Webseiten des Widerstands informiert. Zentral ist hier sicher die Web-Seite der Parkschützer – www.bei-abriss-aufstand.de . Was die rechtliche Bewertung der Vorgänge um Stuttgart 21 angeht, lohnt aber auch ein Blick auf die Webseite der Juristen zu Stuttgart 21.
Solche Veranstaltungen wie jetzt in Konstanz schaffen Aufklärung über die Einseitigkeit der Justiz. Wie können sich Betroffene, aber auch nur Beteiligte gegen solche Benachteiligung wehren?
Voraussetzung für ein sinnvolles Agieren ist, dass sich Aktive bereits im Vorfeld jeder Aktion genau überlegen, wie der Handlungsrahmen bei geplanten Aktionen ist und welche Repressalien möglicherweise durch die Polizei und Staatsorgane erfolgen können. Hierbei ist auch die Abstimmung mit Mitakteuren wichtig. In Stuttgart haben sich zahlreiche Bezugsgruppen nach Parkschützer-Trainings gebildet, die sich gezielt auf Blockade- und andere Aktionen vorbereiten. Jede/r sollte ein Gefühl dafür bekommen, wo die eigenen Grenzen liegen und wie er oder sie in bestimmten Situationen reagiert.
Aber Herr Häußler macht munter weiter?
Es wird z.B. gefordert, dass Oberstaatsanwalt Häußler die Ermittlungen zum 30.9. entzogen werden. Dies fordert z.B. der ehemalige Richter und Vorsitzende einer Strafkammer am Landgericht Stuttgart, Dieter Reicherter, in einem Brief an den neuen Justizminister. Andere gehen weiter und fordern die Absetzung von Oberstaatsanwalt Häußler. Das hat z.B. Gangolf Stocker, der Mitbegründer der Bewegung gegen S 21, bei der Kundgebung am 30.9. zum Schwarzen Donnerstag gefordert. Zum ersten Jahrestag des 30.9. gab es ein Bürgertribunal, das die wichtigsten Forderungen der Bewegung zur Aufarbeitung des 30.9. zusammenfasst. Vom Bündnis für Versammlungsfreiheit gibt es eine Unterschriftensammlung, in dem die Einstellung aller Verfahren gegen S21-Gegnerinnen und Amnestie für die bereits Verurteilten sowie ein fortschrittliches Versammlungsrecht gefordert wird (www.versammlungsrecht.info). Um gegen Polizeiwillkür vorgehen zu können, brauchen wir eine Kennzeichnungspflicht für PolizistInnen. Auch diese Forderung wird erhoben.
Gibt es Unterstützung von außen, beispielsweise Solidaritätsspenden
Es gab sehr viele Spenden für das Rechtshilfekonto. Es gab auch schon ein Solidaritätskonzert und der Überschuss vom Verkauf der grünen Ballons geht auch in den Rechtshilfefonds. Es gibt Baumpaten für die bedrohten Bäume www.baumpaten-schlossgarten.de. Ihr Beitrag geht auch in den Rechtshilfefonds. Andererseits sind die Ausgaben auch hoch. Viele Leute können noch nicht mal die Wegtragegebühr von 40 Euro bis 80 Euro bei Blockaden bezahlen. Bei den Prozessen geht es oft um tausende von Euro Strafen. Wer die Opfer der Kriminalisierung des Protestes gegen Stuttgart unterstützen will, kann Geld auf folgendes Konto des Rechtshilfefonds Kritisches Stuttgart überweisen.
Spenden per Überweisung: Kontoinhaber: Markus Mauz Kontonummer: 7018 242 800, BLZ: 430 609 67 (GLS-Bank).
Autor: hpk
Weitere Links:
Gut daß es mal eine Veranstaltung zu S21 auch außerhalb von Stuttgart gibt, weil wenn man so in Stuttgart ist, hat man das Gefühl das ist allein ein Stuttgarter Problem . Das ist es ja aber nicht, weil es kostet unser aller Geld und wenn das Ding umgesetzt wird, können wir davon ausgehen, das die restliche Bahnstrecke vor die Hunde geht. D.h. die jetzt schon alten , lauten und ungemütlichen Züge werden bleiben und es wird wenig bis kein Geld für deren Instandhaltung zu Verfügung gestellt. ( siehe S-Bahn Berlin !!!) es werden Züge wegfallen und Strecken die ausgebaut gehören, werden nicht ausgebaut. Weil es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, daß das was jetzt als voraussichtliche Kosten angegeben wird (lassen wir das jetzt mal die Wahrheit sein ), sicherlich noch durch sogenannte unvorhergesehene Kosten stark in die Höhe steigt.
Es ist zwar ok. daß hier auch über das dubiose Rechtsverständnis der Stuttgarter Staatsanwaltschaft berichtet wird. Aber es ist denke ich wichtiger den Leuten hier klar zu machen was das finanziell für sie heißt. Weil über solche Beispiele wie mit den Nazi´s und den 4000 € wegen nicht empfangsbereitem Handy, regt man sich vielleicht 2 Tage auf, aber das trifft einen nicht persönlich.Aber steigende Steuern, ausfallende Züge usw.(nur damit ich 20 min schneller in Ulm bin wenn ich von Frankfurt komme) , daß ist das was die Leute bewegt !!
Kurze Info für Jene, die sich – als Einstimmung zu dieser Veranstaltung – über den Aspekt Verschleppung von Ermittlungsverfahren zu Nazi-Verbrechen in Italien durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart informieren möchten:
Am 12. August 1944 zerstörten Truppen der Waffen-SS das toskanische Dorf Sant’Anna di Stazzema. Dabei ermordeten sie etwa 560 Menschen – überwiegend Frauen und Kinder.
Am 22. Juni 2005 wurden zehn Mitglieder der 16. Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ von einem Militärgericht in La Spezia wegen „fortgesetzten Mordes mit besonderer Grausamkeit“ zu lebenslanger Haft verurteilt.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ermittelt seit 2002 – also seit nunmehr über 9 Jahren – gegen die in Italien Verurteilten. Bisher ist keine Anklage erhoben worden. Wird wohl auch nicht, da es, so Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler 2011 gegenüber ZEIT-ONLINE „keinen hinreichenden Tatverdacht für Mord [gäbe], weil die niedrigen Beweggründe oder das Merkmal der besonderen Grausamkeit und die konkrete Tatbeteiligung dem einzelnen SS- Angehörigen schwer nachzuweisen sei.“
Weitere Infos in der bereits im Jahr 2006 (!) zusammengestellten Materialsammlung zum Massaker von Sant’Anna di Stazzema.