Vor 50 Jahren: die „Konstanzer Studentenunruhen“

Verschreckte Bürger, eine durch den Einsatz von Polizeiknüppeln und Tränengas politisierte Studentenschaft sowie 21 Verhaftungen – das war die Bilanz der Nacht vom 24. auf den 25. Juni 1968. Was man damals nur aus Großstädten wie Berlin, Frankfurt und München kannte, war nun auch im sonst doch eher ruhigen Konstanz angekommen.

Wie kaum ein anderes Ereignis haben die Vorgänge vom 24. Juni 1968 der Konstanzer Studentenbewegung Aufmerksamkeit verschafft. Von München bis Hamburg berichteten die Zeitungen über die „Konstanzer Studentenunruhen“. Ja, sogar im fernen China erschien ein Artikel in der Pekinger „Volkszeitung“, was für die Konstanzer Demonstranten einem Ritterschlag gleichkam.

Dabei war nichts Derartiges beabsichtigt worden. Was für die Studenten mit einem geplanten Ulk begann, war für die nervös agierende Polizei eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Heute lassen sich die Vorgänge dieser Nacht anhand eines Quellenbestandes im Konstanzer Stadtarchiv rekonstruieren. Dort befindet sich ein Dossier des Konstanzer Kulturamts, das mit Zeugenaussagen der beteiligten Studenten und mit einem Bericht der Polizei einschließlich Zeugnissen der Anwohner und Passanten ein Bild der Vorgänge bietet.

„Revolution ist eine wunderbare Utopie“

Hermann Venedey

Was war passiert? In der noch jungen Universitätsstadt (die Uni war erst zwei Jahre zuvor gegründet worden) hatte sich eine kleine, aber doch aktive APO entwickelt. Dabei spielten die rund 200 bis 300 Studenten der Universität eine führende, aber keinesfalls ausschließliche Rolle. Daneben gab es in der Stadt noch etwa 1500 Studenten der Staatlichen Ingenieursschule (heute HTWG). Aber auch viele Schüler der Konstanzer Gymnasien machten mit, besonders jene des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums, dessen Leiter Hermann Venedey mit den Anliegen der Studenten sympathisierte („Revolution ist eine wunderbare Utopie“) und mehrfach auf entsprechenden Veranstaltungen auftrat. So gab es eine Reihe von Anlässen, bei denen die Konstanzer Protestbewegung für überregionale Aufmerksamkeit sorgte.

Im Frühjahr 1968 herrschte in Baden-Württemberg der Landtagswahlkampf. Die NPD drohte zum ersten Mal in ein deutsches Landesparlament einzuziehen. Für die CDU, die in Baden-Württemberg mit Hans Filbinger den Ministerpräsidenten stellte, machte dessen Amtsvorgänger, Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, Wahlkampf. Als Kiesinger am 22. April 1968 im Konzil sprechen sollte, hatten zahlreiche Studenten einen Großteil der Plätze eingenommen, insbesondere die ersten Reihen waren von ihnen besetzt worden. Sie störten die Veranstaltung. Als Kiesinger mit dem Hinweis, er sei ja der Gründungsvater der Konstanzer, also ihrer Universität versuchte, Ruhe herzustellen, schallten ihm „Vati, Vati“-Rufe und die Forderung nach einer Diskussion entgegen. Kiesinger ging darauf ein und konnte diese teilweise für sich entscheiden, so zumindest das Fazit des „Spiegels“, der über Kiesingers Auftritt in Konstanz berichtete.

Einen weiteren Höhepunkt der Studentenproteste hatte Konstanz am 29. Mai 1968 erlebt. Während einer Demonstration gegen die Notstandsgesetze besetzten rund 300 Studenten die Rheinbrücke und blockierten für 15 Minuten den Verkehr. Im Vorfeld gab es unter den Aktivisten eine intensive Diskussion über die Anwendung von Gewalt. Wie weit sollte man gehen? Man entschied sich für eine symbolische Aktion, die in eine kurzzeitige Besetzung der Rheinbrücke mündete. Anschließend überquerte der Demonstrationszug bei Kreuzlingen die Schweizer Grenze, wo man auf der anderen Grenzseite von Schweizer „Genossen“ empfangen wurde. Dieses Ereignis fand überregionale Beachtung und ging als „symbolischer Emigrationszug“ in die Geschichtsbücher für das Jahr „1968“ ein.

Mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai hatte die Protestwelle in der Bundesrepublik bereits ihren Höhepunkt überschritten. Ausgangspunkt der sogenannten „Konstanzer Studentenunruhen“ vom 24. Juni 1968 war jedoch ein bundesweiter Streik der Ingenieursstudenten, die eine Aufwertung ihrer Einrichtungen zu wissenschaftlichen Hochschulen anstrebten. Durch eine europäische Richtlinie drohte ihnen eine Abwertung ihrer Ausbildung auf die Stufe „höherer Techniker“, was in der Konsequenz auch eine Minderung des Niederlassungsrechts der deutschen Ingenieure zur Folge gehabt hätte. Die Proteste, die sich in Baden-Württemberg vor allem gegen den damaligen Kultusminister Wilhelm Hahn richteten, dienten daher ganz praktischen und keinesfalls ideologischen Zielen. Wenngleich in den Verlautbarungen der Ingenieursstudenten mehrfach der Begriff Klassenkampf auftauchte, so ging es ihnen doch primär um den Erhalt bzw. die Verbesserung ihrer Karrierechancen.

„Knüppel frei“

Nach einer friedlichen Demonstration durch die Stadt am Nachmittag versammeln sich gegen 22 Uhr rund 200 bis 300 Studenten auf der Marktstätte. An einem selbstgebastelten Galgen soll eine Puppe in der Gestalt eines Hahns (eine Anspielung auf den baden-württembergischen Kultusminister Wilhelm Hahn), aufgehängt werden. Doch dazu kommt es nicht.

Die Polizei hat bereits am Nachmittag einen Hinweis bekommen, dass eine Aktion geplant sei und ist sichtlich nervös. Der Konstanzer Polizeichef Hans Stather versetzt daraufhin die örtlichen Polizeikräfte in Alarmbereitschaft und fordert Verstärkung aus Singen an. Ab 21 Uhr lässt er zwei Streifenfahrzeuge durch die Innenstadt patrouillieren. Einer davon, ein grauer Mercedes, ist nicht als Polizeiwagen zu erkennen. Darin sitzt der Polizeichef selbst, in Zivil gekleidet. Gegen 21.40 Uhr wird – entsprechend der Darstellung der Polizei – eine Ansammlung von etwa 30 Personen auf der Marktstätte ausgemacht. Stather ist persönlich vor Ort und fordert die Gruppe ohne Erfolg auf, sich zu zerstreuen. Stattdessen wächst die Menge „schlagartig“ an und „sperrt Gehweg wie Fahrbahn“ – so der Polizeibericht. Die Menge wird mehrfach aufgefordert, die Straße freizumachen und sich aufzulösen.

Während die Polizei davon spricht, dass es gegen 22.20 Uhr zu ersten Verhaftungen kam, schildert die Darstellung der Ingenieursstudenten einen anderen Hergang. Der Polizeichef habe bereits kurz nach 22 Uhr erste Verhaftungen vornehmen lassen. Einige der Verhafteten konnten aus dem Streifenwagen fliehen. Offenbar gezielt werden zwei persische Studenten festgenommen. Auch von den fünf als Scharfrichter maskierten Studenten, die die geplante Aktion durchführen wollten, werden drei verhaftet. Einem von ihnen wird von einem Polizisten mit der Faust ins Gesicht geschlagen.

Dann, gegen 22.20 Uhr – hier nähern sich beide Darstellungen an – erfolgten weitere Verhaftungen. Stather befahl „Knüppel frei“. Laut Aussagen der Studenten habe Stather gesagt: „Holt sie wahllos aus der Menge“. Der Zeuge Gerd B. gibt zu Protokoll: „Nun suchte die Polizei nach neuen Festnahmeopfern. Sie griffen willkürlich auf dem Bürgersteig stehende Personen und versuchten, sie in zwischenzeitlich aufgefahrene VW-Busse zu laden; diese Aktionen wirkten auf die Anwesenden ungemein herausfordernd. Von diesem Augenblick an wurde die Aufforderung der Polizei, die Marktstätte zu verlassen, nur noch mit Pfiffen beantwortet, weil der unzweifelhafte Eindruck entstanden war, daß die Polizei Willkür übte. Der Polizist, der die Aktionen gegen die Studenten leitete, machte den Eindruck eines politischen Polizisten, etwa so, wie SS- und Gestapoleute beschrieben werden. Dies hauptsächlich, weil das polizeiliche Vorgehen völlig unbegründet war und auf nackter Gewalt fußte. Weiter sah ich auf der Markstätte, daß auf den Befehl ‚Knüppel frei!‘ ein Fotoreporter vom Brunnenrand auf der Markstätte von einem Polizisten heruntergerissen wurde. Erst auf Grund des Journalistenausweises wurde der Festgenommene freigelassen.“

Tränengasgranaten gegen Demonstranten

Etwa eine Stunde lang wird nun vor Ort über die Festnahmen diskutiert. Stather fordert immer wieder zur Räumung des Platzes auf. Die insgesamt 21 verhafteten Personen werden inzwischen auf die Mainauwache auf der anderen Rheinseite gebracht. Daraufhin setzt sich gegen 23.30 Uhr ein Zug von rund 250 Personen dorthin in Bewegung. Gegen die rund 30 bis 40 auf der Marktstätte verbliebenen Personen lässt Stather nun Tränengas einsetzen. Auch der Zug zur Mainauwache wird aus fahrenden Polizeiautos mit Tränengasgranaten beworfen. Vor der Mainauwache kommt es zu weiteren Auseinandersetzungen. Studenten fordern die Freilassung der Verhafteten, werfen mit Steinen und die Polizei setzt erneut Tränengas ein. Der Zeuge Jürgen De. berichtet: „In der Mainaustraße fuhr ein Polizeiwagen an uns vorbei und warf ungezielt in eine Menschengruppe Tränengasbomben. Etwa 150 m vor der Wache Mainaustraße kamen mehrere Polizisten unserer Gruppe entgegen und warfen bzw. schossen Tränengasbomben gegen uns. Eine Warnung wurde vorher nicht gegeben.“

Andere Zeugen werfen der Polizei vor, sie habe die Tränengasgranaten gezielt auf Kopfhöhe in die Menge geschossen. Ein Student gibt an, er habe sich, als er beschossen wurde und daraufhin weggerannt sei, die Hand gebrochen. Der herbeigeeilte Direktor der Staatlichen Ingenieursschule, Adolf Habermann, bewirkte dann in mehrstündigen Verhandlungen die Freilassung der Verhafteten, die gegen 4.30 Uhr wieder auf freien Fuß kamen.

Offensichtlich wurden die Studenten vom harten Einschritten der Polizei überrascht. In den Tagen danach sammelt der AStA der Ingenieursstudenten Zeugenaussagen, die das unverhältnismäßig harte Vorgehen der Polizei belegen sollen. Außerdem kritisiert das daraufhin erstellte Dossier mit dem Titel „Warum Polizei gegen Studenten in Konstanz?“ die Umstände der Verhaftungen: „Übereinstimmend sagten alle Festgenommenen aus, daß trotz wiederholter Fragen nach den Gründen der Festnahme ihnen keine Antwort gegeben wurde. Keinem der Festgenommenen wurde während der Inhaftierung erlaubt, seine Angehörigen zu benachrichtigen. Es wurden trotz der langen Haftzeit nur die Personalien aufgenommen und keine mündlichen oder schriftlichen Vernehmungen zur Sache durchgeführt. Keiner der Festgenommenen bekam eine Rechtsmittelbelehrung.“

Dass viele Studenten den Polizeieinsatz als „Übung zur Durchsetzung der Notstandsgesetze“ auffassten, erhält durch ein Dokument im Polizeibericht eine besondere Note. Darin wird über die Erfahrungen mit dem „Einsatz von Tränengas“ berichtet und dieses als probates Mittel zur Auflösung von Demonstrationen empfohlen.

„Konstanzer Extrablatt“

Wie eingangs erwähnt, fanden die Ereignisse überregionale Aufmerksamkeit. Namhafte Tageszeitungen berichteten. Der SDS der Uni widmete den „Unruhen“ eine eigene Ausgabe des „Konstanzer Extrablatts“. Dort wurden die Ereignisse der Nacht als „Konstanzer Notstandsübung Nr.1“ bezeichnet und Solidaritätstelegramme der „Genossen“ anderer Hochschulen abgedruckt. Der AStA der Freien Universität Berlin gratulierte „der Konstanzer Polizei zu gelungener Politisierungsaktion der Konstanzer Ingenieursstudenten.“ Süffisant fuhr man fort: „Da aber auch wir uns am Bodensee von Berliner Knüppelaktionen erholen wollen, fordern wir die sofortige Absetzung des Notstandsübers Stather.“

Die „Unruhen“ waren einige Tage später auch Thema im Konstanzer Gemeinderat. Dort wurde jedoch die von der SPD beantragte Einsetzung eines Untersuchungsausschusses abgelehnt. Vielfach klang Kritik an der Einsatzleitung an. Schließlich sprach der Gemeinderat dem Anliegen der Ingenieursstudenten seine Unterstützung aus.

Wie ein Monat später im „Südkurier“ zu lesen war, führten die Vorgänge vom 24. Juni zur Einleitung von insgesamt 161 Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft Konstanz. Aus Solidarität mit den festgenommenen Kommilitonen hatten sich 141 Ingenieursstudenten wegen Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration selbst angezeigt. Drei weitere Anzeigen richteten sich gegen die Polizei. Basierend auf 49 Zeugenaussagen wurde dem Einsatzleiter der Polizei Körperverletzung und Freiheitsberaubung im Amt vorgeworfen. Ein junger Mann erstattete Anzeige, weil er, so seine Behauptung, festgenommen wurde, als er aus dem Kino kam. Gegen den Einsatz von Tränengas protestierte ein namentlich nicht genannter Bürger mit einer Anzeige wegen Gefährdung des Straßenverkehrs.

Die Polizei ihrerseits reichte 17 Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft ein, die meisten davon von Anwohnern der Marktstätte, der Mainau- und Säntisstraße wegen Ruhestörung oder Sachbeschädigung. Von den 21 Studenten, die in der Nacht vom 24. auf 25. Juni von der Polizei verhaftet worden waren, erhielten 10 eine Anzeige wegen Ruhestörung, Auflauf und Widerstand gegen die Staatsanwaltschaft.

Wie diese Verfahren ausgingen, konnte nicht ermittelt werden. Vermutlich mit Geldstrafen. Möglicherweise haben die Vorkommnisse vom 24. Juni dem Anliegen der Ingenieursstudenten mehr genutzt als geschadet. Die Aufmerksamkeit für sie stieg und fand nun bis in die Bundeshauptstadt Bonn Beachtung. Die Staatliche Ingenieursschule wurde im Oktober 1971 in eine Fachhochschule umgewandelt.

Unklar bleibt, was den damaligen Konstanzer Polizeichef zu diesem harten Vorgehen bewogen haben mag. Stather hatte bereits im Februar 1968 in Freiburg mit einem massiven Einsatz von Wasserwerfern eine Demonstration gegen Fahrpreiserhöhungen aufgelöst. Andererseits wurde ihm vonseiten führender Vertreter der Konstanzer Protestbewegung bei vorhergehenden Anlässen ein durchaus verständnisvolles und kooperatives Verhalten gegenüber den Anliegen der Demonstranten bescheinigt. Auf jeden Fall schadeten die Vorkommnisse vom 24./25. Juni der Karriere von Hans Stather nicht. Er ging knapp zehn Jahre später in Ruhestand und verstarb im Jahr 2001.

Stefan Feucht

Der Autor ist Leiter des Kreiskulturamtes im Bodenseekreis und organisiert für September 2018 eine Ausstellung zur 68er-Bewegung in der Bodensee-Region.