Vor allem Ruhe und Ordnung

Vor hundert Jahren tobten in Berlin heftige Auseinandersetzungen: Revolutionäre Matrosen verteidigten an Weihnachten 1918 ihre Revolution gegen die Reaktion, zwei Wochen danach kam es zum Januaraufstand, zehn Tage später wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet. Und was war in Konstanz los?

Zu Beginn des Jahres 1919 sparten die beiden Konstanzer Tageszeitungen – die liberale „Konstanzer Zeitung“ und die katholischen „Konstanzer Nachrichten“ – nicht mit Hasstiraden. In Berlin, so hieß es beispielsweise am 9. Januar unter der Überschrift „Straßenkämpfe in Berlin“ in der „Konstanzer Zeitung“ würden sich „Spartakusbanden“ austoben, es gebe einen „Terror der Spartakusleute“ und „spartakistische Putsche in Spandau“. Zwei Tage später doppelten die „Nachrichten“ nach und schrieben, dass sich „die Spartakusleute immer mehr als gewissenlose Verbrecher“ enthüllen.

Was war geschehen? Am 5. Januar hatte es in der Hauptstadt Massenversammlungen gegeben, die in einer spontanen, unorganisierten Erhebung mündeten. Auslöser war die Entlassung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn gewesen, den der sozialdemokratische Innenminister gefeuert hatte. Eichhorn, Sozialist und USPD-Mitglied, hatte den Widerstand der revolutionären Volksmarine-Division unterstützt, die an Heiligabend das Berliner Schloss – ihrem Sitz – gegen Truppen verteidigten. Diese Truppen, kommandiert vom alten monarchistischen Offizierkorps, waren im Auftrag der Regierung, dem sozialdemokratisch geführten Rat der Volksbeauftragten, vorgerückt.

Zu dieser bemerkenswerten Koalition aus Mehrheitssozialdemokraten unter der Führung von Friedrich Ebert (SPD) und den revanchistischen Militärs, die die alte Ordnung wieder herstellen wollten, war es schon kurz nach der Ausrufung der Republik am 9. November 1918 gekommen. Bereits am  Tag nach der Regierungsübernahme durch Ebert hatte sich Wilhelm Groener von der Obersten Heeresleitung beim Vorsitzenden des Rats der Volksbeauftragten gemeldet und ihm mitgeteilt, dass die Offiziere „die Bekämpfung des Bolschewismus“ verlangten und „dafür zum Einsatz bereit“ seien. Ebert stimmte zu – aus Angst vor der Bewegung, die die Monarchie gestürzt hatte. Und so versuchten Regierung und die Militärs, die Revolutionäre zu entwaffnen und Berlin von denen zu säubern, die sich für Freiheit und Sozialismus einsetzten und sich zum Teil Spartakisten nannten.

Gustav Noske, der Bluthund

Der erste Anlauf am 24. Dezember scheiterte; die Matrosen konnten den Sturm auf das Schloss abwehren. Als jedoch Eichhorn entlassen wurde, versammelten sich am 5. Januar 1919 ArbeiterInnen und Soldaten auf den Straßen Berlins – „die Demonstration übertraf alle Erwartungen“, erinnerte sich Richard Müller, Vorsitzender der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte und führender Vertreter der revolutionären Industriearbeiter, Jahre später. Und friedlich waren die RevolutionärInnen auch gewesen: „Sie waren keine Kopfabschneider, keine wilden Bolschewisten, sie wollten keine Allee der Gehenkten in Berlin haben“, so der Historiker Joachim Käppner im Deutschlandfunk. Sie wollten Freiheit, bessere soziale Verhältnisse und sahen im Bündnis zwischen Ebert und der Obersten Heeresleitung einen Verrat. „Die Ungeheuerlichkeit, dass der ‚Sozialist‘ Ebert versuchen könnte, mit kaiserlichen Truppen die Revolution niederzuschlagen, wollte uns nicht in den Kopf“, sollte später Ernst Brossat schreiben, ein Angehöriger der Volksmarine-Division.

Mit der Entlassung Einhorns schieden die Volksbeauftragten der USPD aus der Regierung aus, an ihre Stelle rückten SPD-Mitglieder, darunter Gustav Noske, der das Amt des Volksbeauftragten für Heer und Marine übernahm. „Einer muss ja den Bluthund machen“, sagte der rechte Sozialdemokrat. Parallel dazu  verließ der Spartakusbund, der linke Flügel der unabhängigen Sozialisten unter Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die USPD und gründete um die Jahreswende die KPD. Großen Einfluss hatte die neue Partei jedoch nicht: Als am 5. Januar nach den spontanen Kundgebungen bewaffnete ArbeiterInnen Bahnhöfe besetzten und das Zeitungsviertel stürmten, waren sie weitgehend führerlos. Von einem koordiniertem Aufstand konnte keine Rede sein, wie auch das KPD-Organ „Rote Fahne“ am nächsten Tag bedauernd kommentierte.

Dennoch ließ Noske bewaffnete Verbände zusammenziehen, die am 10. Januar in Berlin einrückten und die durchaus gesprächsbereiten Rebellierenden im Gebäude der sozialdemokratischen Zeitung „Vorwärts“ mit Granaten, Maschinengewehren und Minenwerfern attackierten; fünf Delegierte der Besetzer, die verhandeln wollten und deswegen den „Vorwärts“ verließen, wurden sofort an die Wand gestellt und erschossen.

Reformismus im Südwesten

In Konstanz war von diesen dramatischen Ereignissen vor hundert Jahren wenig zu spüren. Lag es daran, dass niemand wusste, was in den anderen Teilen des Reichs gerade geschah? Oder daran, dass die hiesige Sozialdemokratie wenig Interesse daran hatte, eine Revolution zu verteidigen, die nicht die ihre war? Sicher ist, dass der Konstanzer Arbeiter- und Soldatenrat nach dem Krieg und den folgenden Wirrnissen vor allem damit beschäftigt war, moderate Ziele umzusetzen. Am 10. November hatten Soldaten noch „ohne größere Zwischenfälle die wegen politischer und militärischer Vergehen Inhaftierten aus den Arrestlokalen und dem Zivilgefängnis“ befreit, wie Dieter Schott im fünften Band der „Geschichte der Stadt Konstanz“ schreibt. Doch schon am Mittag erließ der neu gebildete Arbeiter- und Soldatenrat (ihm gehörten auch Gastwirte an) einen Aufruf, den er tags darauf wiederholen sollte: „Die Bevölkerung wird ersucht, unbedingte Ruhe zu bewahren, um den Gang der öffentlichen Geschäfte zu wahren.“

In der Folgezeit kümmerte sich der Rat um die Umsetzung der sozialen Errungenschaften der Revolution (Achtstundentag, Anerkennung der Gewerkschaften), stritt sich ein bisschen mit der  Stadtverwaltung (vor allem um eine vorgezogene Polizeistunde, die die Arbeiter ablehnten), stellte aber nie die Machtfrage. Diese Zurückhaltung war freilich keine Konstanzer Besonderheit. Überall in Baden – vielleicht mit Ausnahme der Industriezentren am Rhein – habe die Sozialdemokratie schon in Zeiten der Monarchie gemässigte Positionen vertreten, und das, obwohl die SPD seinerzeit reichsweit (zumindest offiziell) noch revolutionäre Ziele verfolgte. Der Grund dafür sei in der badischen Sozialstruktur zu suchen, erläuterte am vergangenen Mittwoch der Historiker Michael Kitzing, der im Rosgartenmuseum über den Sozialdemokraten und Konstanzer Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrats, Karl Großhans, referierte. Der Grund dafür sei in der badischen Sozialstruktur zu suchen: Da es im Südwesten keine Großindustrie gab und die Basis der Sozialdemokratie vor allem aus Handwerkern und Facharbeitern bestand, habe die Partei eine reformistische Politik betrieben.

Und so kritisierte hier auch niemand das langfristig verheerende Vorgehen der Mehrheitssozialdemokratie von Ebert und Noske. Das mag auch daran gelegen haben, dass jene Tage Anfang Januar ganz im Zeichen der bevorstehenden Reichstagswahl am 19. Januar standen. Der Wahlkampf dominierte die Spalten der „Konstanzer Zeitung“, der „Konstanzer Nachrichten“ und der sozialdemokratischen Wahlzeitung „Volksstaat“ von Großhans (die im Konstanzer Stadtarchiv leider nicht zu finden war). Immerhin sorgte der Wahlkampf für einen Tumult. Vor allem die „Nachrichten“ prügelten auf die SPD ein. Sie beschuldigten die Mehrheitssozialdemokraten aller möglicher Vergehen – und verstiegen sich zu Behauptungen wie: Die SPD habe „wochenlang Liebknecht und Rosa Luxemburg ihr gemeingefährliches Unwesen treiben“ lassen (eine glatte Lüge, wie man weiß). Also versammelten sich rebellische Soldaten immer wieder vor dem „Nachrichten“-Gebäude am Münsterplatz und protestierten gegen die haarsträubende Berichterstattung des reaktionären Blatts. Doch die Menge löste sich jeweils bald auf, auch aufgrund der Schlichtung durch Karl Großhans, wie Kitzing ausführte.

Ansonsten blieb es ruhig. Im Lokalteil der „Konstanzer Zeitung“ ist jedenfalls nur eine Meldung (am 15. Januar) über SPD-Umtriebe zu finden. Mit Verweis auf den sozialdemokratischen Turnverein „Bahnfrei“ steht da: „In sehr gut besuchter Versammlung wurden die Vereinsangelegenheiten in sachlicher Weise beraten und erledigt, mit dem allgemeinen Wunsche, den Turnbetrieb so rasch wie möglich wieder aufzunehmen. Im Weiteren wurde der Beschluss gefasst, einen Tanzkurs zu veranstalten.“

„Schlagt ihre Führer tot!“

Am Tag, als diese Meldung erschien, wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet. Der Januaraufstand, den 200 Revolutionäre mit dem Leben bezahlten und den Luxemburg kritisiert hatte, war beendet. Und dennoch hatte eine – auch von der SPD-Führung tolerierte – Hetzkampagane begonnen. In Berlin tauchten großformatig plakatierte Appelle an „Arbeiter und Bürger“ auf: „Das Vaterland ist dem Untergang nahe, rettet es! Es wird nicht bedroht von außen, sondern von innen: von der Spartakusgruppe. Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht!“ Und so griffen sich am 15. Januar rechtsextreme Freikorpssoldaten der von Waldemar Pabst kommandierten Garde-Kavallerie-Schützen-Division Luxemburg und Liebknecht und verschleppten sie ins Freikorps-Hauptquartier, wo man sie verhörte und misshandelte. Danach wurde Liebknecht mit dem Auto in den Berliner Tiergarten verschleppt und von hinten erschossen. Luxemburg wurde ebenfalls in einen Wagen gepackt, auf der Fahrt schoss ihr ein Oberleutnant eine Kugel durch den Kopf. Danach warfen Freikorps-Soldaten ihre Leiche in den Landwehrkanal; sie wurde erst vier Monate später gefunden.

Mit diesen beiden Morden war noch nicht alles vorbei. Im März 1919 kam es zu neuen Erhebungen, als Arbeiter die Sozialisierung der Schlüsselindustrien und die Einführung des Rätesystems verlangten; die Kämpfe forderten allein in Berlin rund 1200 Todesopfer; mehrere hundert starben auch bei der Niederschlagung der bayrischen Räterepubliken durch SPD und aufgehetzte Soldaten. Spätestens ab diesem Zeitpunkt gaben die restaurativen Kräfte wieder den Ton an. Die danach etablierte Weimarer Republik bekam es zu spüren.

Den beiden großen Konstanzer Blättern war die Ermordung von Luxemburg und Liebknecht keine Schlagzeile wert. Sie brachten kurze Notizen über „Das Ende zweier Fanatiker“ („Konstanzer Zeitung“) am 18. Januar und übernahmen in den folgenden Tagen wortwörtlich eine Verlautbarung der dafür verantwortlichen Freikorps-Division: Eine aufgebrachte Menschenmenge „stürzte sich auf Frau Luxemburg und schlug sie nieder. Bewusstlos wurde Frau Luxemburg in das Auto getragen. Als der Wagen anfuhr, um die Bewusstlose fortzubringen, sprang ein Mann auf das Trittbrett und gab dabei einen Schuss auf die Bewusstlose ab  …“. Die „Nachrichten“ gaben nicht einmal eine Quelle an, sondern vermeldeten die Geschichte als Tatsache. Fake-News sind keine neue Erfindung.

Am 21. Januar schob die Konstanzer Zeitung dann noch einen empörten Bericht über die Reaktion in der Schweiz nach. „Die Schweizer Bolschewisten sind über den Tod Liebknechts und Rosa Luxemburg trostlos“, steht in dem Text, der sich darüber mokierte, dass die sozialdemokratische Zürcher Zeitung „Volksrecht“ die Nachricht „mit einem schwarzen Balken“ umrahmte, dass die „Berner Tagwacht“ von „Lynchjustiz des Bürgerpöbels“ schrieb, dass „im Stadtrat von Bern von sozialdemokratischer Seite ein dringlicher Antrag eingebracht“ worden sei, an die Frau von Karl Liebknecht ein Beileidstelegramm zu senden. Der Antrag wurde mit 33 zu 27 Stimmen bei 4 Enthaltungen abgelehnt.

Apropos Schweiz: Hier gab es viel Solidarität mit den Revolutionären in Deutschland – aber auch das Gegenteil, wie die NZZ vor kurzem in einem Beitrag über Waldemar Pabst festhielt. Pabst war verantwortlicher Generalstabsoffizier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division gewesen und hatte den Befehl zur Ermordung von Luxemburg und Liebknecht gegeben – mit Billigung, zumindest aber  stillschweigendem Einverständnis von Noske. Später beteiligte sich Pabst am rechtsextremen Kapp-Putsch; anschließend ging er zuerst nach Österreich, wo er für die deutsche Rüstungsindustrie arbeitete, danach (1943) in die Schweiz. Mitte der fünfziger Jahre kehrte er nach Deutschland zurück, wo er für den militärischen Geheimdienst tätig war. Beerdigt wurde der lebenslange Faschist 1970 im Kanton Bern. Für seine Taten wurde er nie belangt.

Pit Wuhrer (Foto: Rosa-Luxemburg-Denkmal am Landwehrkanal, Berlin, © Pit Wuhrer)