Warum lohnt Erinnerung an Nazi-Gräuel?

seemoz-Birnau-HolgerDrei Generationen vereint im Protest gegen rechts: Bei der alljährlichen Gedenkfeier auf dem KZ-Friedhof Birnau nahe Überlingen mahnten RednerInnen ganz unterschiedlichen Alters an die Gefahr von rechts damals und heute. Der 88jährige Alois Thoma erinnerte an seine Zeit unter der Nazi-Herrschaft, der 61jährige Holger Reile warnte vor rechten Umtrieben heute schon wieder, und die 26jährige Franziska Reiffen fragte, warum Gedenken lohnt. Zwei Reden im Wortlaut:

Während Alois Thoma, Gründungsmitglied der VVN-BdA Ravensburg-Oberschwaben, in bewegenden, sehr persönlichen Worten über seine Erlebnisse während und nach dem 2. Weltkrieg berichtete, skizzierte der linke Konstanzer Gemeinderat Holger Reile das Erstarken rechter Kräfte überall in Europa und erklärte Franziska Reiffen für die „Aktion Sühnezeichen“, warum solches Gedenken auch für die jüngere Generation noch Sinn macht:

                          Birnau-Gedenkrede am 9. Mai 2015

Liebe Kameradinnen und Kameraden, liebe Freundinnen und Freunde, Genossinnen und Genossen, liebe Gäste aus nah und fern,

Wie schon seit vielen Jahren versammeln wir uns auch heute wieder an dieser Stelle, um derer zu  gedenken, die hier nach vielfach erlittenen Demütigungen, Erniedrigungen und Qualen durch die  Nationalsozialisten ihre letzte Ruhe gefunden haben. Es waren knapp 100 KZ-Häftlinge, die von  den Nazis zuerst in einem Massengrab verscharrt wurden, bevor man ihre sterblichen Überreste am 9. April 1946 auf diesen Friedhof brachte. Rund ein Jahr nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, der weit über 50 Millionen Menschen das Leben gekostet hat.

Wie an vielen anderen Orten auch erinnern wir in diesen Tagen an die Zeit der  nationalsozialistischen Barbarei, die eng verbunden ist mit unvorstellbarem Leid weit über die europäischen Grenzen hinaus. Am 8. Mai 1945 war es dann vorbei mit dem faschistischen Mörderregime und seitdem wurde eben dieser 8. oder zum Teil auch 9. Mai in vielen Ländern, die von den Nazis besetzt worden waren, zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Im Nachkriegsdeutschland aber sollte es noch 40 lange Jahre dauern, bis Richard von Weizsäcker diesen Tag als das  bezeichnete, was er auch zweifellos war: Der Tag der Befreiung von der Geißel des Faschismus. Es wird Zeit, diesen Tag endlich auch bei uns zum Feiertag zu erklären.

Nun, 70 Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur, sehen wir uns erneut mit einer Entwicklung  konfrontiert, die vor allem von staatlicher Seite lange ignoriert wurde. Waren es bis in die 1980-er Jahre noch halbwegs überschaubare Zirkel rechtsradikaler Glatzen mit Bomberjacken, Baseballschlägern und Springerstiefeln, sind wir seit geraumer Zeit mit bestens vernetzten  faschistischen Gruppen konfrontiert. Sie sitzen in kommunalen Parlamenten und Landtagen und sie  tragen dazu bei, dass das gesamtgesellschaftliche Klima an Zeiten erinnert, die wir längst vergessen glaubten. Nicht nur im Osten unseres Landes treiben rechtsradikale sogenannte Kameradschaften ihr Unwesen – auch hier rund um den Bodensee gibt es sie – im Hegau oder in Oberschwaben. Meist unbemerkt von der Öffentlichkeit und oft auch ignoriert von den Medien, organisieren sie Stammtische und Schulungsabende oder treffen sich bei Skinkonzerten in der nahegelegenen Schweiz, im Elsass oder in Vorarlberg.

Brauner Mob

Wenn wir heute Parolen skandieren wie: „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! Oder: Kein Fußbreit den Faschisten“ – dann, liebe Freundinnen und Freunde, sind diese Forderungen zwar weiterhin richtig, entsprechen aber keineswegs mehr den Realitäten. Faschistische und rechtsradikale Bewegungen sind nicht nur bei uns auf dem Vormarsch – kriegerische  Auseinandersetzungen nehmen weltweit täglich zu – und der braune Mob hat sich nicht nur einen Fußbreit Raum erobert, sondern er hat längst die versteckten Hinterzimmer verlassen und besetzt die öffentlichen Räume. Und das in einem Ausmaß, das uns große Sorgen machen muss.

Ich will nur einige Beispiele nennen, mit denen wir mittlerweile täglich konfrontiert werden: Die Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte nehmen zu und es ist zu befürchten, dass wir bald mit Vorkommnissen rechnen müssen wie vor rund zwanzig Jahren in Mölln oder Rostock- Lichtenhagen  – Menschen, die ihre Heimatländer aufgrund der dortigen Verhältnisse verlassen haben, die es trotz der menschenverachtenden europäischen Abschottungspolitik geschafft haben, hierher zu kommen – wenn man sie nicht vorher im Mittelmeer hat ertrinken lassen –  und die sich bei uns ein halbwegs lebenswertes Leben erhoffen, werden schikaniert und bedroht. Wer sich für sie hierzulande einsetzt, muss mit Aktionen bis hin zu Todesdrohungen aus der rechtsradikalen Ecke rechnen, wie uns die Vorfälle in Tröglitz und anderswo gezeigt haben.

Jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger sehen sich wieder zunehmend einer antisemitischen Stimmung ausgesetzt, viele haben Angst sich öffentlich zum Judentum zu bekennen und denken an Auswanderung. Damit einhergehend blüht auch die Saat der rassistischen Vorurteile vor allem gegenüber Sinti und Roma in geradezu widerlicher Weise auf. Oft tauchen auch auf den Online-Seiten der hiesigen Tageszeitung anonyme Kommentare auf, in denen sinngemäß behauptet werden darf, dass Sinti und Roma ja nur zu uns kämen, um auf Raubzüge zu gehen, sich Kindergeld abzuholen und sich auf unsere Kosten ein schönes Leben zu machen. Wundern darf man sich darüber nicht, denn noch nicht allzu lange ist es her, dass auf den Wahlkampfplakaten von CSU und AfD die deutliche Botschaft zu lesen war, Deutschland sei nicht das Sozialamt Europas.

Doch diese volksverhetzenden Kommentare haben nichts mit freier Meinungsäußerung zu tun,  vielmehr sollten sich  die Medien ihrer Verantwortung bewusst werden und solchen anonymen Brunnenvergiftern kein Forum mehr bieten. Denn mit solchen Äußerungen, die übrigens  ursprünglich von der NPD verbreitet wurden, leistet man Vorschub für Fremdenfeindlichkeit und  Rassismus. Und dagegen, liebe Freundinnen und Freunde, müssen wir zusammen mit anderen  Organisationen und Initiativen angehen und zeigen, dass der einst geforderte Aufstand der Anständigen nicht nur eine leere Worthülse war.

Verunsicherte Kleinbürger

Seit Monaten erleben wir außerdem, dass zum Teil bis zu 30 000 Menschen glaubten, sie müssten gegen eine vermeintliche Islamisierung des Abendlandes protestieren. Diese Einschätzung ist völlig absurd. Die Teilnehmerzahlen gehen zwar zurück, aber das Problem bleibt. Ich warne aber all jene, die dieser sogenannten Pegida-Bewegung hinterher laufen, ausnahmslos in die rechtsradikale Ecke zu stellen. Da würden wir es uns zu einfach machen. Sicher aber ist auch: Hier rotten sich verunsicherte Kleinbürger zusammen, die ein diffuses Weltbild eint, das einer  Überprüfung nicht standhält. In ihrer Angst vor allem, was fremd scheint, flüchten sie sich in  dumpfen Nationalismus und unerträgliche Deutschtümelei und machen sich so – vereinzelt unbewusst, größtenteils aber sehr bewusst –  zum Handlanger derer, die im Hintergrund die rassistischen und fremdenfeindlichen Strippen ziehen.

Profitieren von dieser islamophoben Gesinnungsgemeinschaft möchte unter anderem die AfD, deren völkischer Blut- und Bodensatz hofft, dadurch noch mehr Anerkennung auch aus konservativ-bürgerlichen Kreisen zu erhalten. Diese Bewegungen müssen wir weiterhin sorgsam beobachten und wir müssen uns ihnen entgegen stellen, denn was sich da zusammen braut, ist gesamtgesellschaftlicher Zündstoff, und eine weitere Radikalisierung Richtung rechts außen ist nicht ausgeschlossen. Lasst uns deshalb wachsam sein, liebe Freundinnen und Freunde, und nicht nachlassen in unserem Kampf gegen falsch verstandenen Nationalismus, lasst uns Eintreten für soziale Gerechtigkeit, gegen die aktuelle Kriegstreiberei, für Demokratie und Freiheit.

Der Blick über unsere Grenzen hinaus zeigt leider auch deutlich, dass sich seit geraumer Zeit in  unseren Nachbarländern reaktionäre und zum Teil rechtsextreme Kräfte etabliert haben. In der Schweiz ist es der SVP unter Christoph Blocher längst gelungen, weite Bevölkerungsschichten auf eine fremdenfeindliche Politik einzuschwören – ebenso in Österreich, wo die rechtspopulistische FPÖ in vielen Landesteilen bei Wahlen bis zu 30 Prozent bekommt und sich auch nicht davor scheut, vielerorts ganz offen den Schulterschluss mit faschistischen Bewegungen zu vollziehen – nicht viel besser sieht es in Frankreich aus: Dort verzeichnet der rechtsextreme Front National  ebenfalls enormen Zulauf und deren Chefin Marine le Pen werden sogar gute Chancen bei der kommenden Präsidentschaftswahl eingeräumt. Eine Entwicklung, die man sich vor zehn, fünfzehn Jahren nicht mal im Ansatz hat vorstellen können.

Auch in Ungarn regiert mit Victor Orban ein Rechtsextremer und zwar zusammen mit der faschistischen Jobbik-Partei, deren paramilitärischer Ableger in nachempfundenen SS-Uniformen und stilisierten Hakenkreuzfahnen durch die Städte marschiert, Hass schürt vor allem gegen Sinti und Roma und auch vor Mord und Totschlag gegen diese entrechtete Bevölkerungsgruppe nicht zurückschreckt. Zsolt Bayer, ein enger Berater und Freund von Victor Orban, hat dazu folgendes formuliert, Zitat: „Diese Zigeuner sind Tiere, benehmen sich wie Tiere … aus seinem tierischen Schädel dringen meistens unartikulierte Töne, und das einzige, was er bezüglich dieser elenden Welt versteht, das ist die Gewalt“. Zitat Ende. Ein Satz, den Joseph Goebbels nicht hätte furchtbarer formulieren können.

Ruchlose Geheimdienste

Liebe Freundinnen und Freunde: Trotz dieser schwer erträglichen Fakten gilt dennoch weiterhin auch für uns: Lassen wir die Köpfe nicht hängen, schließen wir uns zusammen, stärken wir die internationale Solidarität und reichen all denen die Hände, die gewillt sind, mit uns zusammen anzugehen gegen eine zutiefst asoziale und menschenfeindliche Politik, die nicht nur bei uns, sondern in ganz Europa grassiert. Auch das ist eine unserer zukünftigen und zentralen Aufgaben  Oft vermuteten wir in der Vergangenheit, dass die deutschen Behörden auf dem rechten Auge blind  sind und die aktuellen Ereignisse beweisen leider, dass es sich bei dieser Annahme nicht um verschwörungstheoretische Fantasien handelt. Im Gegenteil: Das Beispiel NSU verdeutlicht seit geraumer Zeit, dass die rassistische Mordserie ohne die Mitwirkung der deutschen Geheimdienste und mit ihr verbundener Behörden nicht möglich gewesen wäre. Ein kurzer Rückblick: Vor etwa neun Jahren endete die rassistische Attentatsserie des NSU mit einem Mord in Kassel. Danach ermittelte die Polizei gegen Angehörige der Opfer, von sogenannten „Döner-Morden“ ist die Rede und Verbindungen zur Mafia wurden vermutet. Die Opfer und ihre Angehörigen wurden wider besseres Wissen lange Zeit verhöhnt.

Heute kann man sagen: Dass sich die Ermittlungsbehörden lange weigerten, ein rassistisches Motiv auch nur in Erwägung zu ziehen, ist skandalös. Der Autor und Publizist Raul Zelik hat kürzlich dazu geschrieben, ich zitiere: „Nach mittlerweile sechs parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zeichnet sich ein noch sehr viel dramatischeres Bild ab: Die  Geheimdienste waren am NSU ganz nah dran, haben aber nichts gegen die Terrorzelle unternommen. So war das NSU-Umfeld durchsetzt mit Spitzeln der deutschen Geheimdienste. Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz ließ den 1997 untergetauchten Rechtsextremen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe über einen Vertrauensmann sogar Geld zukommen – angeblich, um an weitere Informationen zu gelangen – und immer wieder verschwand das NSU-Trio auf magische Weise aus der Fahndung“. Fast vierzehn Jahre lang blieb die Terrorzelle unbehelligt und konnte ihre Strukturen festigen.

Längst belegt ist auch: Der Thüringer Heimatschutz, jene rechtsradikale Organisation also, in der auch Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe aktiv gewesen sind, war nicht nur mit Informanten des Verfassungsschutzes durchsetzt, sondern wurde von ihnen tatkräftig mit aufgebaut. Insgesamt arbeitete zeitweise jeder vierte Aktivist des Thüringer Heimatschutzes für den Geheimdienst.

Versagen der Medien

Während die angeblich die Verfassung schützenden Behörden mit Neonazis kooperierten, keilten und keilen sie aus, wenn Antifaschisten auf die Straße gehen, um gegen die braunen Brandstifter und Mörder zu protestieren. In den Augen der Staatsmacht sind Linke und Antifaschisten eben immer noch der Hauptfeind Nummer eins, den es zu bekämpfen gilt. Wie beispielsweise bereits vor einigen Jahren in Saalfeld. Antifaschistische Gruppen wollten gegen einen Aufmarsch des Thüringer Heimatschutzes demonstrieren – also genau gegen jene, aus deren Reihen später der NSU hervorgehen sollte. Die Polizei reagierte mit brutaler Härte: 600 Demonstrantinnen und Demonstranten wurden auf der Autobahn gestoppt, von Sonderkommandos verhaftet und für zwei Tage in ein stillgelegtes ehemaliges Stasi-Gefängnis verschleppt. Auf dem Rücktransport zum Bahnhof wurden die Festgenommenen von der Polizei wie schon bei ihrer Festnahme zusammengeschlagen. Die Betroffenen sagen noch heute über die Ereignisse, sie hätten sich damals gefühlt wie in einer lateinamerikanischen Militärdiktatur.

Klar ist: Bei den Ermittlungen gegen den NSU haben neben Polizei und Justiz auch die Medien  versagt. Dies belegt übrigens eine ausführliche Studie der Otto-Brenner-Stiftung. Große Teile der Medien folgten willfährig den Irrwegen und Deutungsmustern der Ermittlungsbehörden und haben sich teilweise mit abwegigen Spekulationen an der Tätersuche beteiligt, so Tanja Thomas, Medienwissenschaftlerin an der Uni Tübingen. Die Studie belegt auch, dass die Verlautbarungen von behördlichen Quellen mit Glaubwürdigkeit verwechselt wurden – ein fataler und fahrlässiger Irrtum, wie wir heute wissen.

Liebe Freundinnen und Freunde: Wir alle stehen vor großen Herausforderungen, was den  Widerstand gegen den braunen Ungeist betrifft. Ich bin der Überzeugung, dass die Bedrohung unserer demokratischen  Zivilgesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten noch nie so ernst war wie heutzutage. Ich bin aber ebenso davon überzeugt, dass immer noch eine Mehrheit in diesem Lande auf unserer Seite steht. Vorausgesetzt, wir halten zusammen, überprüfen unsere jeweilige Bündnispolitik und verabschieden uns von gegenseitigen Ressentiments, die uns nur schwächen.

Erinnern wir uns diesbezüglich an Martin Niemöller, der einst rückblickend und auch selbstkritisch dazu folgende Zeilen formuliert hat, Zeilen, die aktueller sind denn je: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen – ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen – ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich nicht protestiert – ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie die Juden holten, habe ich nicht protestiert – ich war ja kein Jude. Als sie dann mich holten, gab es keinen mehr, der protestierte.“

Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit

Holger Reile, 9.5.2015

                                     Warum erinnern?

Ich möchte mich zunächst dafür bedanken, dass ich heute hier an diesem Ort sprechen darf. An einem Ort, an dem an Häftlinge des Konzentrationslagers erinnert wird, die Zwangsarbeit verrichten mussten dabei den Tod fanden.

Überlingen wurde im Frühjahr 1945 befreit. Dieses Ereignis und das Ende des 2. Weltkriegs auf europäischem Boden jähren sich im Mai 2015 zum siebzigsten Mal. Siebzig Jahre sind eine lange Zeit: Eine Zeitspanne, die kaum vorstellbar ist für jemanden, der, wie ich, erst Mitte zwanzig ist.

Auch deshalb ist es berechtigt, die Frage zu stellen: Warum möchte ich mich dennoch erinnern an das, was zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland passiert ist? Warum halte ich es für wichtig, an Gedenkveranstaltungen teilzunehmen und weiterhin über Verbrechen zu sprechen, die ich doch selbst nicht verschuldet habe? Verbrechen, die, in meinem Fall, nicht einmal meine Großeltern verschuldet haben, die 1945 noch Kleinkinder waren?

Immer wieder hört oder liest man heute: Wir reden immer nur von Vergangenem, dabei sollten wir doch auch in die Zukunft schauen. Und man hört auch: Wir haben schon zur Genüge über den Zweiten Weltkrieg, über den Nationalsozialismus und über den Holocaust gesprochen. Wir kennen uns aus. Wir müssen nicht noch weiter darüber reden. Solchen Äußerungen liegt, meiner Meinung nach, ein großer Fehler zugrunde.

Aleida Assmann, die noch bis vor kurzem an der Universität Konstanz gelehrt hat, hat es in einem ihrer Bücher so ausgedrückt: „Es ist ein verbreitetes und hartnäckiges Missverständnis, Erinnern sei eine rückwärts gerichtete Haltung, die an der Vergangenheit klebt und die Zukunft verstellt.“

Wie soll man das verstehen? Hat Erinnern denn nicht nur mit der Vergangenheit zu tun?

Ich möchte dazu etwas aus meinem persönlichen Umfeld erzählen. Ich komme aus Dortmund. Spätestens seit dem letzten Dortmunder „Tatort“, aber auch durch die Berichterstattung in überregionalen Medien, ist inzwischen weitestgehend bekannt: Dortmund hat eine große, rechte Szene. Dortmund hat ein Neonazi-Problem. Dortmund ist allerdings gleichzeitig ein Ort, an dem sich viele Kulturen treffen. Dortmund ist ein Ort, an dem viele verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Muttersprachen, unterschiedlichen Religionen und aus unterschiedlichen Ländern zusammenleben. Und es kommen immer wieder neue Menschen dazu. Beispielsweise Flüchtlinge.

Meine Eltern wohnen in Dortmund-Eving, einem Stadtteil, in dem vor kurzem ein Flüchtlingsheim eröffnet wurde. Schon vor der Eröffnung kam es zu Problemen: Dortmunder Neonazis störten eine Veranstaltung, die eigentlich dazu gedacht war, die Menschen in Eving über die baldige Eröffnung des Flüchtlingsheims zu informieren, sich mit ihren Fragen zu beschäftigen und Antworten zu geben. Die Veranstaltung litt erheblich darunter. Die Polizei musste eingreifen. Die Störenfriede wurden zwar entfernt, aber sie hatten ihr Ziel trotzdem erreicht: Nur wenige Informationen, vor allem kein ungestörter, angstfreier Dialog.

Sie demonstrieren gegen Einwanderung

Doch die Geschichte geht noch weiter: Das Flüchtlingsheim wurde inzwischen eröffnet. 160 Menschen aus vielen verschiedenen Ländern zogen dort ein. Frauen, Kinder, Männer, die in ihren Herkunftsländern Schreckliches erlebt haben. Die dort um ihr Leben fürchten mussten. Ich durfte an Ostern das Flüchtlingsheim besuchen. Dort sah ich einen kleinen Jungen aus Syrien, dessen Gesicht, Arme und Hände völlig verbrannt waren. Vor dem Flüchtlingsheim allerdings sah ich die Polizei und einen Zaun. Warum die Bewachung, warum die Abgrenzung durch den Zaun? Seit das Flüchtlingsheim eröffnet wurde, postieren sich regelmäßig rechte Gruppen in der Nähe und halten sogenannte „Mahnwachen“ ab. Mahnwachen wogegen, frage ich mich? Gegen den Jungen, dessen Haut verbrannt ist? Gegen seine Eltern, die ihr Kind nicht unversehrt aus dem Kriegsgebiet retten konnten?

Aber wir brauchen nicht nur nach Dortmund zu schauen. PEGIDA ist heute allen ein Begriff. Hier finden sich Menschen zusammen, die nicht einmal explizit rechten Gruppierungen angehören, die aber, wie sie selbst sagen, gegen den sogenannten Verfall des christlichen Abendlandes demonstrieren. Im Klartext heißt das: Sie demonstrieren auch gegen Einwanderung. Und sie demonstrieren gegen die Aufnahme von Flüchtlingen.

Zurück zu der Frage: Was hat Erinnerung mit mir zu tun? Und warum geht es bei Erinnerung nicht nur um Vergangenheit, sondern auch um Gegenwart und, vor allem, um Zukunft? Sprechen wir zunächst über die Gegenwart. Ich komme aus Dortmund, ich studiere in Konstanz. Ich bin in Deutschland geboren, in der deutschen Gesellschaft aufgewachsen und habe die deutsche Staatsbürgerschaft. Deutschland hat eine Geschichte, aus der der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus nicht wegzudenken sind. Die Bundesrepublik baut auf diese Geschichte auf, und die deutsche Geschichte anzuerkennen ist Teil des deutschen Selbstverständnisses und damit auch meines Selbstverständnisses als junge Deutsche.

Der europäische Traum

Ich bin aber vor allem nicht nur Deutsche, sondern ich bin auch Europäerin. Ich bin in einem friedlichen Europa groß geworden, in einem Europa, das sich zunehmend integriert und das ebenfalls auf der europäischen Erfahrung des Krieges aufbaut. Und dieser „europäische Traum“ ist auf der Vergangenheit begründet: Aus ehemals verfeindeten Völkern sollen befreundete Nachbarländer werden.

Und schon zeigt sich deutlich, was das Erinnern und was das Reden über die Vergangenheit mit unserer Zukunft zu tun hat. Ich muss dabei nur an Dortmund denken. Oder an Dresden. Oder an die NSU-Morde. Oder an die europäischen Diskurse zur Flüchtlingspolitik. Daran zu denken genügt, um zu erkennen, dass durchaus nicht alles gut ist, so, wie es ist. Es genügt, um zu erkennen, dass unsere Gesellschaft und offenbar die ganze europäische Gesellschaft es längst nicht immer schafft, aus dem Erinnern an die Vergangenheit die Schlüsse zu ziehen, die uns in Zukunft ermöglichen sollen, nicht mehr in alte Denk- und Handlungsmuster zu verfallen.

Ich möchte noch einmal Aleida Assmann zitieren. Sie schreibt, mit Bezug auf die NSU-Morde in Deutschland: „In diesem Land haben wir eine besonders dramatische Anschauung davon, wie schnell die Grundsolidarität zwischen den Menschen aufgehoben werden kann und die Gesellschaft sich spaltet in eine Gruppe, die zählt – das sind ‚wir‘ – und eine Gruppe, die nicht zählt – das sind die ‚anderen‘.

„Wir“ und die „anderen“

Und genau darin liegt doch das Problem. Denkmuster wie der Rassismus oder wie die Ausgrenzung bestimmter sozialer Gruppen haben sich von der Kolonialzeit über den Nationalsozialismus bis heute gehalten. Sie werden allerdings immer wieder an die aktuellen Gegebenheiten angepasst. Auch heute grenzen wir Migranten aus oder Menschen mit einer anderen Religion. Auch heute grenzen wir Menschen mit einer anderen Hautfarbe aus oder Menschen, die als Flüchtlinge zu uns kommen, weil sie in ihren Herkunftsländern nicht mehr sicher sind.

Die Ausgrenzungsdiskurse können dabei ganz unterschiedlich sein: Ob man sich nun, wie beispielsweise die NSU-Terroristen, auf ganz klar nationalsozialistisches Gedankengut bezieht oder aber, wie andere Migrationsgegner, auf soziale Argumente à la „Wir sind nicht das Sozialamt des Mittelmeerraums“. Es geht immer um dieselbe Struktur: „Wir“ und die „anderen“. Die Gruppe die mehr zählen sollte gegen die Gruppe die weniger zählen sollte. Und schon sind wir wieder bei der Erinnerung.

Ich möchte mich erinnern, weil ich wissen möchte, was die deutsche Geschichte ausmacht, warum Deutschland so ist, wie es ist, warum es die europäische Integration gibt und warum ich in meinem Leben noch keinen Krieg hautnah miterleben musste. Ich möchte mich aber vor allem auch erinnern, weil ich meine, sagen zu dürfen, in was für einer Gesellschaft ich leben möchte. Mit welchen Werten ich leben möchte. Und dafür ist es so unglaublich wichtig, die Strukturen zu entlarven, die, wie der Rassismus, ja überhaupt nicht neu sind, die aber immer wieder aktualisiert werden. Gerade hier in Deutschland können wir nachvollziehen, wozu es führt, wenn das Unterscheiden in „wir“ und „die anderen“ überhandnimmt.

Deshalb möchte ich, obwohl ich den Zweiten Weltkrieg nicht miterlebt habe und obwohl mich sicher auch keine Schuld daran trifft, trotzdem das Gedenken weitertragen. Den Dialog über die Vergangenheit aufrechterhalten. Es geht nicht darum, immer dasselbe zu wiederholen, was manche in meiner Generation mit einem „Das habe ich alles schon tausendmal gehört“ abtun würden. Es geht für mich darum, auf die Vergangenheit aufmerksam zu machen, auch im lokalen Kontext, ob bei mir zuhause in Dortmund oder auch hier am Bodensee. Denn zumindest ich kann von mir nicht behaupten, schon alles zu wissen und schon alles tausendmal gehört zu haben.

Und es geht für mich vor allem darum, das Erinnern mit dem zu verknüpfen, was wir heute erleben und was wir uns von der Zukunft vorstellen. Von der Zukunft in einem Deutschland und in einem Europa, in dem wir nicht nur im Frieden, sondern hoffentlich irgendwann auch in einem anderen Verständnis für Migration und Vielfalt leben werden.[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]

Franziska Reiffen, 9.5.2015

Fotos: Mikuteit/hpk

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