Wie Lindau mit seiner Geschichte umgeht
Nein – einer Einladung mochte der Stadtrat Lindau nicht zustimmen; eine erklärende Tafel am Straßenschild tut es auch. Wie in Konstanz, man erinnert sich an die Debatten um die Von-Emmich-Straße, sind viele auch in Lindau nicht bereit, sich ihrer Geschichte zu stellen. Karl Schweizer, in Lindau als Lokalhistoriker bekannt, berichtet zunächst über ein zeitgenössisches Buch voller Kriegsverherrlichung und dann über die aktuelle Entscheidung im Gemeinderat – und die ist voller Geschichtsverdrängung
Seit dem 2. August 1914 wurde das in Lindau und Kempten stationierte 20. bayerische Infanterieregiment Prinz Franz im 1. Weltkrieg (1914 – 1918) zum Angriff gegen Frankreich eingesetzt. Im Dreieck Strasbourg – Epinal – Lunéville griff es von Baccarat kommend auch das kleine Dorf Bazien an. Das von Oberst Hugo Höfl 1929 „nach den amtlichen Kriegstagebüchern“ verfasste Buch „Das K.B. 20. Infanterieregiment Prinz Franz“ enthält dazu u.a. folgende im Geiste einer weiter geschürten Franzosenfeindschaft geschriebenen Zeilen.
Der 25. August – der Namenstag S. M. des Königs – sollte unserem Regiment die bisher schwerste Aufgabe des Krieges bringen (…) Die 7. Armee, der wir unterstanden, hatte den Befehl, am 25. August in Fortsetzung der Verfolgung weiter nach Süden vorzudringen…Die Spitzenkompanie musste schwache feindliche Schützen vertreiben, die den Nordsaum besetzt hatten. Dann ritt das 4. Chev.Rgt. zur Aufklärung durch den Wald auf Bazien voraus, stieß aber, noch ehe es den Südausgang erreicht hatte, auf feindliche, am Waldrand entlang marschierende Infanterie (…) Es war das französische Jäg.Batl. 31 (…) Die Hörner blasen, die Tamboure schlagen ein, die Fahne wird entfaltet. So stürzt sich – wie im Frieden oft geübt – das Bataillon mit Hurra auf den Feind. ,Ein wütendes Gewehrfeuer empfing uns – berichtete ein Mitkämpfer in der Allgäuer Kriegschronik. – Hinter jedem Busch kracht und blitzt es, von den Bäumen herunter, aus dem grünen Moos des Bodens, hinter jeder Bodenwelle lag so eine verdammte Rothose (Spöttische Bezeichnung der französischen Soldaten , K.S.) …
Die Franzosen werden in einem ungeheuren Anlauf überrannt und hinausgetrieben auf die freien Höhen vor dem Wald. Hui, und nun hin auf den Boden! Rasch in Deckung! Verfolgungsfeuer! Und während noch die Brust keuchte und nach Atem rang, da donnerte es aus Hunderten von Zwanziger-Flinten, dass uns das Herz im Leibe lachte. Ja, wie die Kerls den Berg hinaufliefen. Himmel noch mal, das war ein Anblick, und wie unsere Kugeln hineinsetzten in die hüpfenden und springenden Reihen! Wie sie übereinander purzelten an den grünen Hängen! Und mit fliegenden Pulsen und jagendem Atem gings wieder hinterdrein. Hinauf! Dort hinauf, wo sich jetzt die letzten Franzosen unserem Feuer zu entziehen suchten!’
So gelangte das Bataillon auf die Höhe dicht nördlich Bazien (374) der gegenüber der Feind den Dorfrand besetzt hält. Um die Mittagszeit ist auch der Ort genommen. Die französische Infanterie hatte schwerste Verluste erlitten. Zu Dutzenden lagen die offenbar gänzlich überraschten Rothosen zumeist tot, aber auch verwundet am Waldrande und der freien Fläche davor…Aber da, wo der Feind aus Südosten und Osten näher an die sich steil abdachenden Hänge ostwärts Bazien herangekommen war, konnten ihn unsere Kanonen mit ihrer flachen Flugbahn nicht erreichen (…) Das inzwischen vom 11. Batl. mit Bravour genommene Bazien lag unter dem sehr ergiebigen Feuer der französischen Artillerie…
Auch am 26. August bestand auf deutscher und französischer Seite die gleiche Absicht, den Angriff fortzusetzen (…) Da kam aber dann Befehl, in den Grund ostwärts Bazien zwischen Höhe 374 und 356 zu rücken. Der Weg führte durch das immer noch brennende Bazien, sodass die Glut der Flammen uns fast sengte beim Durchmarsch. Eine Unmenge toter Pferde mit den entsetzlichsten Verwundungen lag krepiert in den Straßen. Stumme Zeugen des gestrigen Tages.“
Zu den aus Lindau und Umgebung stammenden Toten aus dem Morden rund um Bazien gehörten u.a. der 23-jährige Ingenieurstudent Richard Stolze, der 24-jährige Buchdrucker Gebhard Geiger, der 27-jährige Bahnsekretär Eberhard Zeitter, der 22-jährige Landarbeiter Josef Mesmer aus Unterreitnau und Johann Merk aus Hege.
Kriegstrunken bedankte sich der später gefallene Leutnant Wilhelm Mebert zusammen mit einem Brief von Bataillonskommandeur Major Aschenauer in einem am 18. September 1914 im Lindauer Tagblatt auszugsweise veröffentlichten Brief für die von der Stadt Lindau und dem örtlichen Roten Kreuz erhaltenen Lebensmittelspenden u.a. mit dem Satz: „Bei Bazien haben wir am Königstag für unsere jungen Farben herrliche Lorbeeren erworben.“
In der Sitzung des Lindauer Stadtrates am 20. September 2012 lehnte es die Mehrheit seiner Mitglieder mit einer 2/3-Mehrheit ab, dem nachfolgend im Wortlaut dokumentierten Antrag von Bunte Liste Lindau und Ökologisch-Demokratischer Partei Lindau ÖDP zuzustimmen.
Antrag an den Stadtrat Lindau
Der Stadtrat Lindau beschließt, vor dem Hintergrund des hundersten Jahrestages des Beginns des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914 zum Kinderfest Lindau im Juli 2014 den Bürgermeister und den Gemeinderat der französischen Gemeinde Bazien/Lorraine auf Kosten der Stadt Lindau für drei Tage nach Lindau einzuladen. Die Mitglieder dieser Delegation aus Bazien werden für drei Tage lang rund um das Kinderfest Gäste der Stadt Lindau sein. Die Stadt Lindau wird für Unterkunft, Verpflegung, ein Gastgeschenk und ein Betreuungsprogramm aufkommen.
Begründung:
Seit 1936 – Hitler hatte drei Jahre zuvor die Macht übernommen – gibt es in Lindau die Bazienstraße. Damals wurden dort einfache Häuser für die bisherigen Bewohner der Maxkaserne errichtet. Seit Ende des 1. Weltkriegs hatten in der Kaserne hauptsächlich kriegsgeschädigte Familien gewohnt, nun mussten sie im Rahmen der Erweiterung des Wehrmachtstandortes Lindau zur Wiederaufrüstung der deutschen Armee den Rekruten weichen.
Der Name „Bazienstraße“ war von den örtlichen Nationalsozialisten um Ersten Bürgermeister Fritz Siebert bewusst gewählt worden. Zweiundzwanzig Jahre zuvor, am 25.August 1914, drei Wochen nach Kriegsbeginn, hatte das seinerzeit in Lindau beheimatete 20. Bayerische Infanterieregiment beim Dörfchen Bazien in Lothringen, nahe der elsässischen Grenze, eine, wie es damals hieß, „ehrenvolle Schlacht“ gegen das 31. Feldjäger-Bataillon der französischen Armee gewonnen. Dass bei diesen Kämpfen auch 764 Franzosen und 650 Deutsche den Tod fanden, und Bazien völlig zerstört zurückblieb, wurde kaum zum Thema gemacht.
Durch diese Namensgebung 1936 sollte die „Schmach“ des verlorenen 1. Weltkriegs örtlich wenigstens zum Teil wieder „getilgt“ werden, und die so betriebene Heldenverehrung zur allmählichen Bereitschaft für Revanche umgemünzt werden, was dann bekanntlich im Desaster des 2.Weltkriegs endete.
Leider ist das Wissen um diesen geschichtlichen Hintergrund des Namens der Lindauer Bazienstraße inzwischen fast verloren gegangen. Anlässlich des 100. Jahrestages der Schlacht bei Bazien ist es jedoch an der Zeit, das historische Gedächtnis auch diesbezüglich aufzufrischen und im Sinne einer friedlichen Zukunftsgestaltung und Völkerverständigung den heute in Bazien lebenden Menschen in diesem Sinne die Hand zu reichen. Bunte Liste Lindau, Ökologisch-Demokratische Partei Lindau ÖDP“
Geschichtsbewusstsein und PR-Aktion
Nach der schäbigen mehrheitlichen Ablehnung dieses Antrages wurde folgender Ersatzbeschluss gefasst: „Der Stadtrat beschließt, wie von der Verwaltung vorgeschlagen, im August 2014 an der Bazienstraße, begleitet von einer PR-Aktion, ein entsprechendes Schild zu installieren.“
Autor: Karl Schweizer
Sehr geehrter Herr Fraidling,
So Leid mir der Verlust Ihres Großonkels auch tut – auch ich habe mehrere Familienangehörige in beiden Weltkriegen als Tote zu verzeichnen – so wenig Verständnis habe ich für ihre nationalistischen Worte.
Wer für ‚Volk und Vaterland‘ in den Krieg zieht, kann und wird sterben, das ist das bittere Schicksal des Krieges. Deswegen müssen wir um jeden Preis verhindern, dass es jemals wieder dazu kommt, dass Soldaten – welcher Nationalität auch immer – auf den Feldern der Schande fallen.
Keinem der gefallenen Soldaten hat die sog. Ehre, die sie sich durch ihren Tod erwarben, irgendetwas geholfen. Sie sind tot und haben trauernde Angehörige hinterlassen, denen ein lieber Mensch durch Nationalismus und Großmannssucht entrissen wurde.
Ein Volk, dass seine Kinder in den Krieg schickt, hat keine Anerkennung verdient. Ein Vaterland – oder Mutterland, dass seine Kinder im Krieg sterben lässt, hat seine Aufgabe verfehlt und nichts verdient, als niedergerissen und neugeschaffen zu werden.
Gruß
Simon Pschorr
Es ist sehr schade, wie die Nachwelt mit dem Ruf der Gefallenen der Weltkriege umgeht, die doch für unsere bessere Welt ihr Leben gelassen haben. Ich habe letztes Jahr das Grab meines Großonkels in Reillon erstmalig besucht, der im Alter von 20 Jahren am 25.08.1914 für Volk und Vaterland sein Leben in der Schlacht bei Bazien geopfert hat. Ich wäre gerne zum Gedenktag nach Lindau angereist.