Wie Mehrsprachigkeit allen Schülern hilft

seemoz-Podium„Mehrsprachigkeit in Kita und Schule: Neue Herausforderungen und neue Wege“. So der Titel einer ganztägigen Fachtagung des Zentrums für Mehrsprachigkeit der Universität Konstanz in Hegne. Damit sollten vor allem jene angesprochen werden, die professionell in den Bereichen Erziehung und Bildung arbeiten oder damit zu tun haben: ErzieherInnen, LehrerInnen aller Schularten, Mitarbeiter von Schulämtern, Stadtverwaltungen, Stiftungen und Studierende.

Die Veranstaltung war ausgebucht, sogar überbucht. Es kamen ca. 150 TeilnehmerInnen vor allem aus Kindergärten und Kitas, daneben einige LehrerInnen aus dem  Grundschulbereich, GymnasiallehrerInnen fehlten völlig. Sogar privat Interessierte wie zum Beispiel ein schwedisches Großelternpaar mehrsprachiger Kinder war gekommen. Das Programm war mit sechs jeweils einstündigen Vorträgen und einer Podiumsdiskussion groß angelegt und ambitioniert.

Für mich, eine Grund- und Hauptschullehrerin und Ausbilderin von LehrerInnen und Lehrern in der Grundschule und Werkrealschule, waren drei Vorträge besonders interessant.

Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit und Bildungsgerechtigkeit

seemoz-DirimProf. Dr. Inci Dirim von der Universität Wien fragte: Inwieweit wird die Mehrsprachigkeit von Migrantenkindern an Schulen wahrgenommen und wertgeschätzt – in einer „mono-lingualen“ Gesellschaft wie etwa der deutschen und österreichischen mit einer dominierenden Sprache?

Fremdsprachen werden durchaus geschätzt – allerdings gibt es verschiedene Wertigkeiten von Sprachen. Wer im Elternhaus Englisch, Französisch, Spanisch lernt, hat in der Schule Vorteile im Fremdsprachenunterricht, die sich im Zeugnis niederschlagen. Sprachkenntnisse in anderen Sprachen wie z.B. Türkisch, Arabisch, Kurdisch, Persisch, Bosnisch werden in der Schule selten als „Schatz“ gesehen. Das führt dazu, dass Schülerinnen und Schüler mit diesen Muttersprachen ein Gefühl der Unterlegenheit entwickeln.

Auf welche Weise sollten Lehrpersonen und Frühpädagogen die Migrationssprache mit einbeziehen? Inci Dirim fordert dafür nicht nur Sensibilität, sondern vor allem Professionalität, die sich u.a. darin zeigt, dass der aktuelle und historische gesellschaftliche Diskurs immer mitberücksichtigt und die eigene Haltung reflektiert wird. Sie nennt das „involvierte Professionalität“. An einem Beispiel aus der Türkei zeigte sie, dass man nicht überall und zu jeder Zeit eine Minderheitensprache ohne Probleme in den Unterricht miteinbeziehen kann und sollte. Es macht einen Unterschied, ob man die Armenische Sprache in Istanbul in den Regelunterricht einbezieht oder in einer Kleinstadt im Osten der Türkei. In der kulturell vielfältigen, weltoffenen Stadt Istanbul gelang dies problemlos. Die armenischen Kinder in der Provinz-Stadt wollten in der Schule als Türken gesehen werden, da Armenier in dieser Region zu einer unterdrückten Minderheit gehören.

Pädagogen sind in gesellschaftliche Verhältnisse eingebunden und sind gefordert, gesellschaftliche Hierarchien kritisch zu sehen und zu helfen, diese abzubauen. Damit ist allerdings nicht gemeint, die Kinder bei jeder Gelegenheit vor den anderen dafür zu loben, wie gut sie schon Deutsch gelernt haben, oder wie gut sie ihre Muttersprache sprechen. Was eigentlich gut gemeint ist, trägt dazu bei, das System der Über- und Unterordnung zu reproduzieren. Auch Lehrpersonen mit eigenem Migrationshintergrund können Kinder aus Migrantenfamilien zu Überanpassung drängen, indem sie, wie Inci Dirim erzählte, einen Schüler aus Hamburg in ihrer Muttersprache auf Türkisch aufforderte, sofort seinen unordentlichen Tisch aufzuräumen mit der Bemerkung „Was sollen denn die Deutschen von uns denken?“

Das Beispiel eines Programms für Elternarbeit in Kindergärten aus Vorarlberg zeigt, wie wenig die Verantwortlichen über gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren und wie sehr sie noch in „postkolonialen Denkweisen“ (Dirim) verhaftet sind: Migranten-Eltern sollen sich dadurch einbringen, dass sie bei Festen ihre Tänze zeigen und ihr typisches Essen mitbringen.

Lehrkräfte mit Migrationshintergrund

seemoz-EdelmannProf. Dr. Doris Edelmann aus St.Gallen befasste sich mit dem Thema „Lehrkräfte mit Migrationshintergrund – ein Potenzial für Mehrsprachigkeit?“ und stellte die Studie DIVAL (Diversität angehender Lehrpersonen) vor, die an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen gerade durchgeführt wird. Lehrpersonen mit Migrationshintergrund wird allgemein ein besonderes Potenzial für den Umgang mit migrationsbedingter Vielfalt in Schule und Unterricht zugeschrieben. Ihnen werden neben ihrer Lehrertätigkeit oft zusätzliche Aufgaben z.B. im Zusammenhang mit Problemen bei der Integration Schülern nicht-deutscher Herkunftssprachen übertragen, was durchaus eine Überforderung darstellen kann.

Sie sind allerdings in der Schule und in Lehramtsstudiengängen deutlich unterrepräsentiert. Im Vergleich zu anderen Hochschulen ist der Anteil der Studierenden mit Migrationshintergrund an den Pädagogischen Hochschulen deutlich geringer. Das gilt nicht nur für die Schweiz, sondern auch für Deutschland und Österreich. Warum das so ist, wird u.a. in der DIVAL-Studie untersucht (blogs.phsg.ch/dival).

Doris Edelmann brachte den Begriff „Migrationsgesellschaft“ ins Spiel – als Ersatz für „Einwanderungsgesellschaft“, in der die Eingewanderten und deren Kinder als verschieden im Vergleich zur angestammten Mehrheit wahrgenommen werden. Eine Migrationsgesellschaft ist geprägt von kultureller Diversität und kultureller Öffnung, die sich in einer weiteren Öffnung der Institutionen für Menschen mit Migrationshintergrund niederschlagen muss. Ein professioneller Umgang mit Diversität fordert die Haltung, dass nicht der Einzelne verschieden ist von der Mehrheit, sondern dass alle verschieden sind. In der Schweiz haben inzwischen 30 bis 35% der Bürger einen Migrationshintergrund, jedes zweite Kind hat mindestens einen Elternteil, der im Ausland geboren ist. Angesichts dieser Zahlen wäre es für die Schweiz naheliegend, sich dem Selbstverständnis einer Migrationsgesellschaft anzunähern.

Migrantenkinder zwischen Mutter-, Schul- und Jugendsprache

Sprachen kommen in verschiedenen Varianten vor – als Hochsprache und als Alltagssprache (oft Mundart). Je nach Situation wird die jeweils passende Variante genutzt: die Hochsprache oder Standardsprache in Wissenschaft, Politik, Schule und in Radio und Fernsehen, die Alltagssprache, die Mundart im privaten Bereich. Das nennt man „Diglossie“. Der Unterschied zwischen den beiden Sprachformen kann sehr groß sein. Ein überzeugendes Beispiel dafür ist das im mündlichen Sprachgebrauch verwendete Schwyzerdütsch und das Hochdeutsch für die Schriftsprache. Auch das Hocharabisch unterscheidet sich stark vom Arabischen, das z.B. in Syrien gesprochen wird. Die Schwierigkeiten für jemanden, der mit dem badischen Dialekt aufgewachsen ist und in der Schule Standard-Deutsch lernen muss, sind überschaubar im Vergleich zu einem Migrantenkind, das neben seiner Erstsprache eine völlig verschiedene Zweitsprache Deutsch lernt.

seemoz-KossmannSolche Kinder und Jugendliche sind vielen sprachlichen Einflüssen ausgesetzt. In seinem Vortrag „Sprachgebrauch bei Migrantenkindern: zwischen Muttersprache, Schulsprache und Jugendsprache“ zeigte Maarten Kossmann von der Universität Leiden (NL) am Beispiel eines marokkanischen Berbersohnes, der vielleicht in Frankfurt lebt, dass deutlich mehr Sprachen und Sprachvarianten im häuslichen und sozialen Umfeld eines Migrantenkindes vorkommen als eine Erstsprache und eine Zweitsprache. Auf Elternseite hört er das im Erwachsenenalter gelernte Deutsch, außerdem Berberisch, Marokkanisch, Hocharabisch und ein wenig Französisch. Im sozialen Umfeld kommt der Junge mit dem regional gefärbten Deutsch in Kontakt, wie es in Frankfurt von Einheimischen gesprochen wird und vielleicht mit dem Türkisch seiner Kumpels. In der Schule und im Fernsehen hört und liest er die Hochsprache.

Aus diesen verschiedenen sprachlichen Einflüssen entwickeln Kinder und Jugendliche Sprechstile (Jugendsprachen), die auf einheimischem Deutsch basieren und Elemente aus anderen Sprachen enthalten. Daneben müssen sie soweit Hochdeutsch lernen, dass sie in der Schule erfolgreich lernen können.

Podiumsdiskussion

In der 45-minütigen Podiumsdiskussion, geleitet von Dr. Svenja Kornher vom Zentrum für Mehrsprachigkeit, sollte die Frage erörtert werden „Was können weiterführende Schulen von Kitas und Grundschulen lernen?“ Bei fünf Teilnehmerinnen und einem Teilnehmer war die Zeit zu knapp, um eine wirkliche Diskussion führen zu können. Einige zentrale Aussagen und Wünsche aus den Statements der „Diskutanten“ (auf dem Foto von links nach rechts):

Elke Cybulla (Integrationsbeauftragte der Stadt Konstanz): Wenn ein Schüler, eine Schülerin ins Gymnasium kommt, wird von Seiten der LehrerInnen angenommen, dass alle sprachlichen Voraussetzungen für diese Schulart vorhanden seien. Das ist nicht so und war übrigens noch nie so, wie Elke Cybulla selbst als Dialektsprecherin erfahren hat. Sie fordert Sprachzentren an den Schule, wo sich Lehrpersonen beraten lassen können und im Unterricht unterstützt werden.

Für Birgit Ruf (Lehrerin an der Gebhardschule) ist es sehr wichtig, dass Kinder und Jugendliche mit Migrantenkinder ihre Herkunftssprachen – die „Sprache des Herzens“ – leben. Sie beklagt, dass sie dies kaum tun würden. Auch wenn sie in der Schule dazu ermutigt würden, wollten sie ihre Familiensprache nicht einbringen. Für den Grammatikunterricht empfiehlt Birgit Ruf, fehlerhafte Sätze von den Sprachlernern aufzugreifen und sie in korrekter Form mehrfach – auch mit kleinen Änderungen – nachsprechen zu lassen. Grammatik zu lernen durch das Erklären von grammatikalischen Strukturen hält sie für nicht sehr erfolgversprechend.

Anmerkung der Autorin: Mit den Konzepten „Funktionaler Grammatikunterricht“ (Wolfgang Menzel) und „Integrativer Grammatikunterricht“ (Jakob Ossner) lässt sich sehr gut Grammatik lernen.

Dr. Waltraud Liebl-Kopitzki (Leiterin des Amtes für Schulen, Bildung und Wissenschaft in Konstanz) fragte, ob Gymnasiallehrkräfte im Publikum seien. Dass keine da waren, lässt darauf schließen, dass das Thema „migrationsbedingte Mehrsprachigkeit“ in dieser Schulart noch nicht wirklich angekommen ist. Sie wünscht sich, dass die Defizit-Orientierung besonders in Gymnasien überdacht wird und sich diese Schulart öffnet. Auch Vorbereitungsklassen und Vorbereitungskurse, in denen Migrantenkinder Deutsch lernen, damit sie am Regelunterricht teilnehmen können, sollten dort einrichtet werden. Ihr Traum ist ein kommunales Bildungshaus mit Pädagogen, Sozialarbeitern, Psychologen.

Dirk Tinner (Rektor der Realschule an der Geschwister-Scholl-Schule): Da die Geschwister-Scholl-Schule eine Gesamtschule ist, werden Schüler aus Vorbereitungsklassen auch ins Gymnasium integriert. In der Regel kommt in Gymnasien „Mehrsprachigkeit“ fast nur akademisch vor, und zwar im Fremdsprachunterricht Englisch, Französisch, Spanisch oder manchmal auch Italienisch. Wichtig sind ein besseres Verständnis von Mehrsprachigkeit und die Wertschätzung aller Sprachen.

Für Monika Hellmich (Leiterin des Kinderhauses am Rhein in Konstanz) ist die Gestaltung der Beziehungen elementar, damit die Kinder frei sein können. Nur so können sie in Beziehung zu anderen treten, sich verständigen, sich austauschen, Sprache lernen. Die Grundlage dafür sind Vertrauen und eine gute Beziehungen zwischen Kind – Mutter/Vater – Erzieherin.

Aylin Güngör (Studierende ) war im Gymnasium. Sprachförderkurse hält sie für nicht sehr effektiv. Dagegen kann man in Arbeitsgemeinschaften, in denen die deutsche Sprache praktiziert wird, zum Beispiel über Theater oder über Spiele, sehr gut und mit Freude Sprachen lernen. Es sollte Pflicht sein, dass Sprachlerner ein solches Angebot bekommen und auch daran teilnehmen.

Wie kommt das Wissen in die Schulen?

Es besteht ein enormer Fortbildungsbedarf bei Lehrerinnen und Lehrerin zu den Themen Mehrsprachigkeit und Unterricht Deutsch als Zweisprache. Auch in der Lehrerausbildung müssen in diesen Bereichen mehr qualifizierte Veranstaltungen stattfinden, und es sollte selbstverständlich werden, sich als Lehrperson regelmäßig weiterzubilden.

Es bleibt zu wünschen, dass das Zentrum für Mehrsprachigkeit mal wieder eine solch spannende Tagung plant und durchführt. Vielleicht dann eher am Freitagnachmittag und –abend, da Lehrkräfte während der Unterrichtszeit kaum freigestellt werden.

Ingrid Maurer/Fotos: Tobias Weigold  

Weitere Informationen: www.mehrsprachigkeit.uni-konstanz.de

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