Winfried Hermann zum Koalitionsvertrag: „Eine riesige Enttäuschung“
Winfried Hermann ist sauer. Darüber, dass die Grünen in der neuen Bundesregierung nicht das Verkehrs-Ressort bekommen haben, und auch im neuen Koalitionsvertrag findet er viele Leerstellen. Wo bleibt der Aufbruch, fragt der baden-württembergische Verkehrsminister – und kommentiert außerdem die Korruptionsvorwürfe bei Stuttgart 21.
Kontext/Oliver Stenzel: Herr Hermann, in Sandra Maischbergers Talkshow hat der Journalist Sascha Lobo vergangenen Mittwoch gesagt, er habe ein bundesweites Aufatmen gespürt – weil Andreas Scheuer nicht mehr Verkehrsminister ist. Haben Sie auch aufgeatmet?
Winfried Hermann: Nein. Auch deshalb nicht, weil die Enttäuschung bei vielen Grünen riesig ist, dass wir nicht das Ministerium bekommen haben. Klimaschutz ohne Verkehrsministerium, ohne Verkehrswende, wie soll das gehen?
Kontext: Jetzt soll es Volker Wissing von der FDP richten. Ist der Ihnen bislang als Verkehrsexperte aufgefallen?
Hermann: Er war immerhin Verkehrs- und Wirtschaftsminister in Rheinland-Pfalz. Ich will allgemeiner sagen: Die FDP ist in den letzten Jahren nicht aufgefallen als Partei der Verkehrswende. Sie war oftmals die letzte Organisation, die noch für „freie Fahrt für freie Bürger“ geworben hat. Das macht selbst der ADAC schon lange nicht mehr. Aber ich lasse mich gern positiv überraschen.
Kontext: Wie konnte das passieren, dass die Grünen nicht das Verkehrsministerium bekommen haben? Was ist da schiefgelaufen?
Hermann: Ich hoffe, dass es nicht daran lag, dass die anderen beiden Parteien nicht so viel Verkehrswende wollten und davor Angst hatten, dass Grüne das Ministerium führen und dann die Verkehrswende ernsthaft angehen.
Kontext: Auch die SPD nicht?
Hermann: Offenbar nicht. Bei der SPD gab es immer mindestens zwei Flügel. Einen, der in verkehrspolitischen Fragen eher oldschool ist, und einen, der ökologisch orientiert ist. Aber wer jetzt am Schluss wie agiert hat, das entzieht sich meiner Kenntnis. Es wurde ja bekanntlich hinter gut verschlossenen Türen verhandelt.
Kontext: Offenbar haben die Grünen schlecht verhandelt.
Hermann: Möglicherweise sind viele zu selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Grünen neben Umwelt und Klimaschutz auch das Verkehrsressort bekommen würden. Vielleicht hat es unerwartete Wendungen und Konflikte gegeben. Denn finale Verhandlungsrunden haben stets eine eigene Dynamik und es kommt immer auch darauf an, was die anderen beiden Parteien einem zu geben bereit sind.
Kontext: Dass es mit den Verhandlungen für die Grünen nicht so gut läuft, konnte man ahnen. Sie haben in der „Süddeutschen Zeitung“ ein Interview gegeben, erschienen am 8. November, in dem Sie Ihre Unzufriedenheit recht deutlich ausgedrückt haben. Unter anderem sagten Sie da: „Wenn wir beim Klimaschutz nicht zusammenkommen, drohen Neuwahlen.“
Hermann: Das Interview habe ich ja außerhalb der Verhandlungsgruppe und voller Sorge gegeben, weil mir alle, mit denen ich gesprochen habe, berichtet haben, dass die FDP viel blockiert, und dass im Verkehrsbereich eine Menge Fragen im Konflikt stehen. Ich habe meinen Freundinnen und Freunden geraten: Ihr könnt so nicht weitermachen, ihr könnt nicht wichtige grüne Forderungen aufgeben und dann sagen, das war schwierig zu verhandeln. Ihr müsst irgendwann die zentralen Streitpunkte benennen, sonst kann es unsere Basis und die Öffentlichkeit nicht nachvollziehen, wenn etwas gar nicht geht und ihr schmerzhafte Kompromisse machen müsst. Dieser Sorge wollte ich Ausdruck verleihen und damit nochmal aufzeigen, wie wichtig die Verkehrswende für den Klimaschutz ist. Das Verhandlungsteam war zum Schweigen verpflichtet, ich nicht.
Kontext: War das abgesprochen mit der grünen Parteispitze?
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Hermann: Sie war informiert, dass ich ein Interview gegeben habe. Ich habe übrigens auch nicht mit Neuwahlen gedroht, wie teilweise geschrieben wurde, das kann und will ich gar nicht. Ich habe nur gesagt, man müsse aufpassen, dass man am Ende nicht bei Neuwahlen landet, wenn jetzt keine Lösungen gefunden werden. Außerdem hat mich gestört, dass die FDP nach meinem Eindruck so getan hat, als könne sie bestimmen, wo’s langgeht. Und das geht nun mal nicht in dieser Dreier-Konstellation.
Kontext: Hatte das Interview Auswirkungen auf die Verhandlungsführung?
Hermann: Ich weiß nicht. Es wurde zumindest von sehr vielen Leuten gelesen und kommentiert, bis hin zum SPD-Parteivorsitzenden.
Kontext: Dann schauen wir uns den Koalitionsvertrag doch mal konkret an: In den gut sechs Seiten zum Verkehr findet sich nirgends das Wort Verkehrswende, es ist höchstens von einer Antriebswende, also E-Auto statt Verbrenner, die Rede. Nichts Konkretes zu neuen Mobilitätskonzepten, nichts zu Verkehrsvermeidung, kein Hinweis, dass beispielsweise keine neuen Straßen mehr gebaut werden sollen.
Hermann: Das stimmt. Aber nicht alles ist schlecht. Wenn man beispielsweise die Präambel des Textes vergleicht mit der Präambel des Verkehrsteils im grün-schwarzen Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg, stellt man fest: Bei uns steht ein klares Bekenntnis des Landes zu einer neuen nachhaltigen Mobilität und zur Verkehrswende, im Ampel-Koalitionsvertrag ist das etwas versteckt in Wendungen wie „Wir wollen die 2020er Jahre zu einem Aufbruch in der Mobilitätspolitik nutzen und eine nachhaltige, effiziente, barrierefreie, intelligente und für alle bezahlbare Mobilität ermöglichen“. Das deutet in Richtung Verkehrswende.
Kontext: Aber das Wort wird vermieden.
Hermann: Ja, das wird vermieden. Es fehlt ein konsistentes Leitbild für den Aufbruch. Ich hätte zudem erwartet, dass man klar beschreibt, was die großen Probleme und Herausforderungen im Verkehrssektor sind. Also zum Beispiel, dass gerade in diesem Bereich die Treibhausgasemissionen seit 30 Jahren trotz technischem Fortschritt nicht zurückgehen, dass es zu viele Unfälle gibt, dass wir zu viele Staus und in den Städten zu viele Autos haben, die sich gegenseitig im Weg stehen und die Lebensqualität beeinträchtigen. Und dass deswegen eine Verkehrswende überfällig ist, die zwei Elemente hat: Antriebswende und Mobilitätswende. Beim Antrieb bedeutet das, raus aus der fossilen Verbrennung. Und Mobilitätswende heißt: eine andere Mischung der Verkehrsmittel, also mehr ÖPNV, mehr Bahnverkehr, mehr Fußverkehr, mehr Radverkehr, mehr Verkehrsvermeidung, eine andere Nutzung des Autos, Car-Sharing, Ride-Pooling und so weiter. Diese Philosophie geht dem Text des Koalitionsvertrags ab. Sie taucht aber in Bruchstücken auf.
Kontext: Inwiefern?
Hermann: Es gibt ein klares Bekenntnis zum öffentlichen Verkehr. Auch, dass wir ihn massiv ausbauen wollen, dass man die Bahn massiv ausbauen, die Fahrgastzahlen verdoppeln will – das sind auch unsere Ziele in Baden-Württemberg, übrigens auch die der Verkehrsministerkonferenz.
Kontext: Ein Erfolg?
Hermann: Ja, es steht allerdings nicht konkret drin, wie viel Geld jetzt zusätzlich in die Schiene geht, aber immerhin ein Bekenntnis, dass zukünftig mehr in die Schiene investiert werden soll als in die Straße. Das ist ein Paradigmenwechsel.
Kontext: Der Straßenbau soll zwar im Verhältnis weniger Geld kriegen, trotzdem fehlt ein Bekenntnis, keine neuen Autobahnen und Bundesstraßen mehr bauen zu wollen – wie es Annalena Baerbock etwa im Oktober 2020 gefordert hatte.
Hermann: Der Straßenbau war von Anfang an für viele Grüne das Oberkonfliktthema. Ich glaube, manche haben vielleicht eine zu einfache Vorstellung gehabt, dass wir, wenn wir an die Regierung kommen, alleine bestimmen können, dass jetzt diese und jene Bundesstraße nicht mehr gebaut wird. Aber es gibt halt rechtstaatliche Verfahren, es gibt Planfeststellungsbeschlüsse und politische Mehrheiten für bestimmte Projekte und im Bundestag für Ausbaugesetze.
Kontext: Über den Bundesverkehrswegeplan gäbe es Einflussmöglichkeiten.
Hermann: Der Bundesverkehrswegeplan ist ein Plan, den die Bundesregierung in den Bundestag einbringt, er wird dort beschlossen in mehreren Ausbaugesetzen, darin sind für den Straßenbereich viele Straßenprojekte enthalten. Die haben quasi Gesetzescharakter. Wer das ändern will, kann nicht einfach sagen, das machen wir nicht, sondern der muss dann das Gesetz ändern, und wenn man das Gesetz ändern will, braucht man eine Mehrheit im Bundestag. Wichtig jedoch ist, dass der bis 2030 geltende Bundeverkehrswegeplan jetzt evaluiert werden muss. Dabei wird man Kriterien festlegen müssen, nach denen die Projekte auf ihre Vereinbarkeit mit dem Ziel der Dekarbonisierung überprüft werden sollten. Im Koalitionsvertrag steht ja auch, dass man bei der laufenden Bedarfsplanüberprüfung einen Prozess starten will mit dem Ziel einer Verständigung über die Prioritäten bei der Umsetzung. Das ist ein Anfang.
Kontext: Ganz nebenbei: Im Koalitionsvertrag fahren keine LKW auf der Straße.
Hermann: Diese transportieren aber über 70 Prozent der Güter. Es erstaunt mich wirklich, dass trotz des Bekenntnisses zum emissionsfreien Auto absolut nichts zum emissionsfreien LKW-Verkehr drinsteht. Er ist für ein Drittel der Emissionen im Verkehrssektor verantwortlich. Bei einer klimaschutzorientierten Verkehrspolitik muss das deutlich weniger werden. Wenn man auf neue Bahnstrecken setzt, wird man frühestens in zehn Jahren einen CO2-Effekt messen können. Deswegen ist eigentlich die Elektrifizierung der LKWs dringend notwendig – ob mit Oberleitung, mit Brennstoffzelle oder mit batterieelektrischen Fahrzeugen. Da ist die Autoindustrie schon dran, deswegen verstehe ich nicht, warum das gar nicht aufgenommen wurde. Immerhin soll der Güterverkehr auf der Schiene „gesteigert“ werden. Das ist auch wichtig.
Kontext: Die Autoindustrie ist da schon weiter als die Politik?
Hermann: Sagen wir so: Ich hätte erwartet, wenn schon die Automobilindustrie begeistert die Transformation und die Verkehrswende fordert – wenn sie sagt, der Verbrennungsmotor ist ein Auslaufmodell, je schneller wir aussteigen, desto besser – dass dann eine Koalition, die mehr Fortschritt wagen will, das im Koalitionsvertrag nicht so verschämt formuliert. Einen Aufbruch stelle ich mir etwas anders vor.
Kontext: Sollte Volker Wissing also mal mit Ola Källenius von Daimler sprechen?
Hermann: Meine Erfahrung ist, dass das Management mancher großen Unternehmen, einschließlich der Zulieferer, augenscheinlich große Teile der Politik längst überholt. Ich will nicht sagen alle, aber im Landtag habe ich mich schon manchmal gewundert, was da noch für Debatten geführt werden, die ich mit keinem Verantwortlichen von der Automobilindustrie mehr führen muss.
Kontext: Wie kann es dann sein, dass kein Tempolimit kommt?
Hermann: Meine persönliche Deutung ist: Es gibt unter Politikern und Journalisten eine kleine, aber wortmächtige Gruppe, die nie Zeit hat und gerne schnell fährt. Und die haben sich in allen Koalitionen durchgesetzt, schon 1998 bei Rot-Grün im Bund. Schon damals haben es die SPD und die Grünen im Parteiprogramm gehabt, aber Gerhard Schröder hat gesagt, nicht mit mir. Es gibt in der Gesellschaft Gruppen, für die das wirklich die Freiheit ist. Wenn ich im Landtag manche von der FDP höre, dann schnurrt da der Liberalismus zusammen auf freie Fahrt auf der Autobahn und freie Antriebswahl, das ist schon ziemlich absurd. Der Liberalismus war mal eine große historische Strömung für Freiheitsrechte, Menschenrechte und Bürgerrechte, aber davon ist wenig zu hören.
Kontext: Werden die Klimaschutzziele im Verkehr mit diesem Koalitionsvertrag erreicht werden können?
Hermann: Es gibt im Koalitionsvertrag eine unter Klimaschutzgesichtspunkten fragwürdige Stelle zu den sogenannten Sektorzielen. Im Klimaschutzgesetz der scheidenden Bundesregierung sind diese Ziele für alle Sektoren einzeln gefordert: Verkehr, Bauen, Wohnen, Industrie, Stromerzeugung, Industrie und Landwirtschaft. Und im Koalitionsvertrag steht nun einerseits, dass alle Sektoren einen Beitrag leisten müssen, andererseits, dass die Einhaltung der Klimaziele sektorenübergreifend in einer mehrjährigen Gesamtrechnung überprüft werden soll – was die Möglichkeit böte, dass ein Bereich zugunsten eines anderen mehr Emissionen reduziert. Eine problematische und widersprüchliche Stelle, denn was gilt nun: Sektorenziele oder sektorenübergreifendes Ziel? Da scheint mir, der eine Satz ist von uns, und der andere von der FDP, beides steht unverbunden nebeneinander, und diesen Eindruck habe ich an manchen Stellen.
Kontext: Weiter zu einem anderen Punkt des Koalitionsvertrags: Die nur fünf Zeilen, die zu Rad- und Fußverkehr stehen, die können Ihnen als passionierten Radfahrer auch nicht gefallen.
Hermann: Ja, das ist bescheiden. Hier fehlt mir, dass moderne Verkehrspolitik auch Stadtentwicklungs- und Lebensqualitätspolitik ist. Und dazu hätte ich mir gewünscht, dass endlich – was viele Kommunen seit langem fordern – die Grundgeschwindigkeit innerorts auf 30 Km/h festgelegt wird, und nur auf Durchgangsstraßen 50 Km/h erlaubt sein soll. Eine moderne Bundesverkehrspolitik würde Optionen schaffen, dass Flächen neu verteilt werden können: Für Aufenthalts- und Lebensqualität, Begegnungsorte und Grünzonen, mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer. Nun könnte man einwenden, es steht drin in dem abschließenden Satz: „Den Fußverkehr werden wir strukturell unterstützen und mit einer nationalen Strategie unterlegen.“ Man fragt sich dabei: Was heißt „strukturell“ in diesem Zusammenhang? Eine nationale Strategie wiederum fordern wir seit langem, und wer diese angeht, könnte dann alles umsetzen, was ich gerade als fehlend kritisiert habe. So ähnlich ist es auch bei der Straßenverkehrsordnung. Da steht die positive Ankündigung, dass man sie reformieren will, aber nicht genau, was und wie. Und so kann man eigentlich gerade weiter machen in diesem Vertrag. Der Satz ist gesagt, die Stichworte sind gesetzt, und die Arbeit beginnt jetzt.
Kontext: Was bleibt Ihr Hauptkritikpunkt?
Hermann: Neben guten Ankündigungen beim Schienenverkehr und dem ÖPNV ist die Verkehrswende unterbelichtet. Ein junger Wissenschaftler hat mit einem Klimarechenmodell nachgerechnet, dass der Koalitionsvertrag zu wenig CO2-Reduktion bringt. Für eine Verkehrswende braucht es auch die Einsicht: Wenn wir unser Mobilitätsverhalten nicht ändern, dann werden wir die Wende zu einem klimafreundlichen Verkehrs- und Mobilitätssystem nicht schaffen. Mein Fazit ist aber: Jeder Vertrag muss gelebt werden, die Arbeit beginnt, wir gehen sie kraftvoll an.
Kontext: Kein Interview mit Ihnen ohne Stuttgart 21. Waren Sie überrascht – oder enttäuscht –, dass sich im Koalitionsvertrag kein Wort zu S 21 findet? Immerhin das momentan größte Infrastrukturprojekt in Deutschland, dessen Kosten immer weiter steigen. Und die Bahn klagt seit 2016 um die Übernahme von Mehrkosten durch die Projektpartner Land sowie Stadt und Region Stuttgart.
Hermann: Selbstverständlich haben wir auch für S 21 Formulierungsideen nach Berlin geschickt. Allerdings hat dieses Projekt keine Erwähnung gefunden, weil sehr früh klar war, dass bei hunderten Projekten versucht wurde, diese positiv oder negativ in den Vertrag zu bringen. Deshalb haben die Chefverhandler und Chefverhandlerinnen schnell klargestellt, da kommt keines rein. Deswegen finde ich es nicht so schlimm, dass S 21 nicht drin ist. Die Arbeit geht weiter. Und das Land ist bereit, den Schienen-Knoten zu verbessern, wir geben dafür auch Landesmittel, wir sind aber nicht bereit, für S 21 mehr Geld zu geben. Zudem erwarten wir natürlich, dass der Bund sich angemessen an S 21 finanziell beteiligt.
Kontext: Ein anderes S-21-Thema hat vergangene Woche Furore gemacht, ein Artikel der „Financial Times“ über großangelegte Korruption im Projekt, über Schäden von bis zu 600 Millionen Euro. Hat Sie das überrascht?
Hermann: Sagen wir mal so, es hat mich konkret überrascht, aber nicht grundsätzlich. Deshalb müssen bei Großprojekten gegen so etwas Vorkehrungen getroffen werden, um solche Gefahren abzuwehren. Bei Projekten dieser Größe muss man damit rechnen. Die DB hat uns versichert, dass die Vorwürfe schon lange ausgeräumt seien. Wir haben die DB aufgefordert, dies aufzuklären und uns umfassend zu informieren.
Kontext: Durchaus erwartbare Korruption also?
Hermann: Im konkreten Fall muss allerdings der schwerwiegende Vorwurf erst noch geprüft beziehungsweise belegt oder widerlegt werden.
Kontext: Sind Projekte wie Stuttgart 21 oder die Neubaustrecke besonders anfällig für Korruption?
Hermann: Schon wegen der Vielzahl von Firmen und Menschen und der schieren Größe und Komplexität von Bauvorhaben ist das natürlich eine große Herausforderung. Das wissen alle, die mit Bauvorhaben zu tun haben. Deshalb gibt es ja Kontrollverfahren.
Kontext: Hat sich da die Bahn oder die Projektgesellschaft PSU schon in irgendeiner Form gegenüber dem Verkehrsministerium zu den Vorwürfen aus dem Artikel geäußert?
Hermann: Gleich am Tage der Veröffentlichung habe ich meinen Ministerialdirektor gebeten, der Bahn einen Brief zu schreiben, dass wir schnelle Aufklärung fordern. Diese hatte bereits vor unserem Brief über die Medien schnell geantwortet und die Vorwürfe zurückgewiesen. Die Bahn hat den Projektpartnern am Tag der Berichterstattung eine erste Stellungnahme übermittelt. Das Land bekommt bei der Neubaustrecke, zu der eine einmalige Zuwendung von 950 Millionen Euro geleistet wurde, keine Abrechnung, wie das Geld im Detail verwendet wird. Bei Stuttgart 21 bekommen wir als Partner Kostenabrechnungen, die jedoch nicht so detailliert sind, dass wir einzelne Rechnungen überprüfen könnten, ob sie richtig bezahlt sind. Aber wir erwarten Aufklärung, weil das Land das Projekt immerhin mit 930 Millionen Euro fördert. Wenn etwas dran sein sollte, dann erwarte ich, dass die Bahn das jetzt umfassend aufarbeitet. Wir wollen da wirklich eine genaue, nachvollziehbare Aufklärung haben – das, was die Bahn als Antwort an die Medien gegeben hat, reicht uns nicht.
Text: Oliver Stenzel
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Kontext
Foto: Joachim E. Röttgers