»Wir machen nicht mit!« (II)

Verfolgt, ermordet, totgeschwiegen und heute so gut wie vergessen. Eine Erinnerung an den von den Nationalsozialisten ermordeten Philosophen, Publizisten und radikalen Kriegsgegner Theodor Lessing anlässlich seines 150. Geburtstages.

Dies ist der zweite Teil des Essays. Teil I finden Sie hier, der dritte Teil erscheint morgen.

Sensible und empfindsame Naturen – vor allem Pazifisten und Kriegsgegner – spürten, dass im August 1914 etwas Ungeheuerlihes geschah. Rosa Luxemburg warf sich, als sie die Nachricht vom »Ausbruch« des Weltkrieges erhielt, auf den Boden und wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Andere, die nicht ertragen konnten, was sie auf die Menschheit zukommen sahen, gingen in den Freitod. Auch Lessing war, wie er im »Gerichtstag über mich selbst« betonte, »mit jedem Blutstropfen angewidert von der grässlichen Barbarei des Zeitalters«. In den ersten Tagen nach dem 4. August 1914 bewegte ihn nur ein einziger Vorsatz: »Halte den Kopf frei. Lass dich nicht anstecken von Barbarei. Das Leben lassen, um das Grässliche zu hindern, tausendmal mit Freude! Aber Mitmachen, begeistert sein, weil alle begeistert sind, nein! Und wenn sie dich steinigen. Nichts gegen das eigene Gewissen.«.

Eine Welt brach zusammen

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs meldete sich Lessing zum Dienst als Lazarettarzt. »Ihn berührte« – so der einstige niedersächsische Kultusminister und Landtagspräsident Rolf Wernstedt in der Neuausgabe von Lessings Erinnerungen – »das Elend der Verwundeten und Sterbenden mehr als die überhöhte Propaganda, die vom Heldentod sprach. Diese Grundeinstellung gab er in seinem Leben nicht wieder auf, sondern fragte ohne Rücksicht auf Beeinträchtigungen oder Nackenschläge stets nach den Gründen und Folgen allen menschlichen und also auch politischen Handelns.« Nebenher verfasste er die »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen«. Die Veröffentlichung des Buches, während des Krieges von der Militärzensur verhindert, da Lessing sich darin gegen den Krieg aussprach, erfolgte erst 1919.

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»Mit dem Weltkrieg«, schreibt Lessing, »endete unsere Jugend« – »und alles, was vor ihm lag, war noch keine rechte Wirklichkeit«. Er fühlte sich »einsam und abgedrängt«. Der Krieg war für ihn »ein Wahnsinn, ein Verbrechen, eine abscheuliche Bestialität«, erschütterte ihn und gab seinem Leben eine andere Richtung. In welcher depressiven Stimmung Lessing sich zu Beginn des Krieges befand, ist seinen Tagebuchnotizen zu entnehmen. Im August 1914 verfasst, heißt es dort: »Ich fühle, dass meine Kräfte nachlassen. Mein Leben ist im Absinken. Die Müdigkeit und Nervenerschöpfung vieler Jahre hat sich in einem Zustand nicht mehr überwindlicher Schwäche angehäuft. Werde ich diese grauenhafte Zeit überleben? Ich weiß kaum, ob ich mir noch längeres Leben wünschen darf. – Mich hält einzig der Gedanke, dass ich die ›Philosophie der Not‹ vollenden muss. Dazu war ich geboren. Darum bitte ich. Gelingt das nicht, so bin ich um mein Leben betrogen.«

Noch im Wintersemester 1914/15 hielt Lessing im Plenarsaal der königlichen Technischen Hochschule in Hannover eine Reihe von Vorträgen gegen den Krieg. Ein halbes oder ein Jahr später wäre das schon nicht mehr möglich gewesen. Die Militärbehörden kontrollierten die öffentliche Meinung, verboten Zeitungen und verfolgten pazifistische Regungen, wo immer sie auftraten. Von Beginn an wurde die Friedensbewegung in ihrem Aktionsradius beschnitten, schließlich völlig lahmgelegt, ihre Vertreter unter Briefzensur gestellt oder gar verhaftet und weggeschlossen. Manche, wie Hans Paasche, Hans-Georg von Beerfelde oder Heinrich Vogeler, landeten wegen ihrer Kritik an der kaiserlichen Kriegs- und der Katastrophenpolitik des Hohenzollernreiches in einer Irrenanstalt.

Das Kriegserlebnis gab Lessings Philosophie eine tiefere, entschiedene und unumkehrbare Prägung, beeinflusste seine Haltung zur Geschichte und sein Bild vom Menschen nachhaltig. Seine Geschichtszweifel gründeten sich auf die »Eindrücke und Erlebnisse« der ersten drei Kriegsjahre. Ablesbar ist das an den ersten Fassungen seiner Werke »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« und »Europa und Asien«. Beide sind »ein einziger Aufschrei wider Zeit, Vaterland und Weltkrieg« und, wie Hans Stern es einmal ausgedrückt hat, »von einer echt plebejischen Skepsis gegen die ›großen Männer der Geschichte‹, gegen ihr ›Tötenkönnen‹, das andere zum ›Sterbenmüssen‹ verurteilt«. »Europa und Asien« sollte eigentlich schon 1915 erscheinen, aber die Militärzensur verbot es, und so kam es erst ein Jahr später heraus. Zu deutlich war die antimilitaristische Stoßrichtung. In der Vorbemerkung, verfasst im Winter 1914, schreibt Lessing: »Die vorliegende kleine Schrift ist aus jener Stimmung von Schmerz, Scham und tiefem Menschenekel geboren, die eine ganz kleine Schar Einsamer und Unzeitgemäßer aus allen Ländern Europas zur Notbruderschaft zusammenschmiedete, in demselben Augenblick, wo Europas Menschen – allen voran die ›führenden Geister‹ – am großen Flammenrausch des Vaterlandes zu Verzückungen politischen Machtwillens entbrannten.«

Über seine »Reden gegen den Krieg« sagt Lessing nachträglich: »Ich will, dass meine Urenkel erfahren, dass nicht jeder bessere Europäer in diesem ›Heldenzeitalter‹ seine Geistespflicht versäumt hat; die Pflicht, ein geistiger Mensch zu sein auch im Höllensturz. Ich gehöre nicht zu den Vertretern der ›europäischen Kultur‹. Ich verachte diese Kultur. Nein, mich ekelt vor ihr. Und mich ekelt vor ihren Vertretern.« Klarer und unmissverständlicher hat sich zu diesem Zeitpunkt wohl kein Deutscher und Europäer von den sogenannten Errungenschaften der westlichen Zivilisation losgesagt. Der Abwendung von einem seelenlos gewordenen Europa entspricht die Hinwendung zu einem idealisierten Asien, wo noch vorhanden, was den weißhäutigen Menschen längst verlorengegangen ist – der ungestörte Einklang mit der Natur –, wo »die Vergottung des Ich die Welt noch nicht verfälscht hat«, wie es in »Europa und Asien« heißt.

Text: Helmut Donat, Bild: Harry Fabel auf Pixabay

Literatur

– Helmut Donat: Wider den unrühmlichen Umgang mit der Vergangenheit – Theodor Lessing und die Umbenennung der Hindenburgstraße in Hannover, Bremen 2022.
– Theodor Lessing: Bildung ist Schönheit – Autobiographische Zeugnisse und Schriften zur Bildungsreform, Bremen 1995.
– Theodor Lessing: Wir machen nicht mit! Schriften gegen den Nationalismus und zur Judenfrage, Bremen 1997.
– Theodor Lessing: Einmal und nie wieder – Lebenserinnerungen. Hrsg. von Helmut Donat unter Mitwirkung von Jörg Wollenberg, Bremen 2022.