„Wir sind vier der über tausend …“ (2)

Einen „gravierenden, geschichtsverfälschenden Fehler“ nennt der frühere Leiter des Klinikums Spaichingen, Dr. Albrecht Dapp, das Verschweigen der Krankenmorde in der neuen NS-Dauerausstellung des Konstanzer Rosgartenmuseums. Für Dapp – selbst Enkel einer im Rahmen des NS-„Euthanasie“-Programms vergasten Großmutter – ist der Versuch, dies mit Platzmangel zu begründen, „nicht zu akzeptieren und nicht zu verzeihen“.

Konstanzer ganz weit vorn im Kampf um die NS-„Rassenhygiene“

Wer waren die 499 Frauen und 609 Männer, für die das Erbgesundheitsgericht Konstanz in der NS-Zeit eine Unfruchtbarmachung einleitete? Wer waren die 508 Patientinnen und Patienten der „Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz“ (heute: ZfP Reichenau), die in den Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar ermordet wurden und die der neuen NS-Dauerausstellung nicht der Rede wert sind? Und: Wie schnell konnte es damals in Konstanz geschehen, in die Mühlen der übereifrigen Rassefanatiker zu geraten? Heinz Faulstich, von 1973 bis 1991 stellvertretender Direktor des Psychiatrischen Landeskrankenhaus Reichenau, hat dazu in seinem 1993 erschienenen Standardwerk „Von der Irrenfürsorge zur ‚Euthanasie’. Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945“ wichtige Informationen hinterlassen.

So hält Faulstich unter anderem fest, wie Dr. Alfred Kuhn als Leiter der Heilanstalt und Dr. Ferdinand Rechberg als Bezirksarzt und ärztlicher Beisitzer des Konstanzer Erbgesundheitsgerichts zu Jahresbeginn 1934 ihre Positionen antraten. Beide waren bereits Monate vorher Hitlers NSDAP beigetreten – durchaus nicht aus Opportunismus, sondern aus innerer Überzeugung.
Eine der ersten Aufgaben von Kuhn bestand darin, dem Bezirksarzt alle  „fortpflanzungsfähigen“ PatientInnen, die im Freien beschäftigt waren, freien Ausgang oder gelegentlich Urlaub hatten, anzuzeigen, damit dieser deren Sterilisation über das Erbgesundheitsgericht betreiben konnte – eine Aufgabe, der Rechberg (ab 1935 auch Leiter des neugegründeten Gesundheitsamts) mit besonderer Akribie nachging. Ferner hatte der Anstaltsleiter dem Erbgesundheitsgericht alle Personen anzuzeigen, von denen ihm bekannt war, daß sie an einer „Erbkrankheit“ litten.

Wie wichtig ihm diese Aufgabe erschien, ist daran zu erkennen, dass er – völlig anders als andere badische Klinikleiter – sämtliche seit Bestehen der Anstalt, also seit 1913, angelegten Krankengeschichten auf das Vorliegen derartiger Krankheiten überprüfen ließ. Dabei wurden auch gleich Menschen der näheren oder weiteren Verwandschaft des oder der Kranken mit erfasst. Allein im Berichtsjahr 1934 wurden so 1596 Menschen willkürlich zur Anzeige gebracht.
„Dies war eine Leistung, die in Baden ihresgleichen suchte“, konstatierte Faulstich.
Auch der Konstanzer Stadtarchivar Jürgen Klöckler befand in seinem Beitrag zu „100 Jahre Eröffnung des heutigen Zentrums für Psychiatrie Reichenau“ im Jahr 2013, dass das Erbgesundheitsgericht mitsamt den dahinterstehenden psychiatrischen Fachkreisen „mit dem ideologischen Ziel, die Zahl der sich hemmungslose fortpflanzenden ‚Ballastexistenzen‘ zu minimieren“, konsequent Hitler zuarbeitete.

Doch dies war lediglich der erste Schritt der „Rassen“-Politik des NS-Regimes. Es folgte ein NS-Mordprogramm, dem ab Januar 1940 unter dem Namen „Aktion T4“ über 70.000 PsychiatriepatientInnen und AnstaltsbewohnerInnen zum Opfer fielen. Sie wurden vergast.

Keine Schautafel, keine Vitrine

Eine der 508 Patientinnen und Patienten der „Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz“, die in den Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar ermordet wurden, hieß Emma Wippler.
Emma Schweizer wurde am 5. Juni 1882 geboren und erlernte den Beruf der Näherin. Im Alter von 30 Jahren heiratete sie Eugen Wippler. Die größer werdende Familie – aus der Ehe gingen von 1914 bis 1926 sechs Kinder hervor, der erstgeborene Sohn starb bereits als Säuglinglebte in Konstanz in einfachen Verhältnissen. Den erlernten Beruf als Küfer konnte Eugen nach der Heimkehr aus dem 1. Weltkrieg nicht mehr ausüben. Er gründete eine kleine Milchhandlung.
In diesen anstrengenden und kräftezehrenden Jahren erkrankte Emma Wippler psychisch. Vom Alltag immer stärker überfordert, wurde sie schwermütig; heute würden wir sagen: depressiv. So wurde sie am 27. Juli 1929 Patientin in der Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz.
Ihre fünf Kinder, damals im Alter zwischen 3 und 11 Jahren, hatten plötzlich ihre Mutter verloren. Die Familie bezog in der Alemannenstrasse eine Wohnung im sogenannten Hindenburg-Block, eine Haushälterin versorgte die Kinder. Die Mutter ersetzen konnte sie jedoch nicht. Die Kinder konnten selbstverständlich nicht begreifen, warum ihre Mutter fort war, und litten sehr unter der Trennung. Es blieben nur die sonntäglichen Besuche. Die aber mussten gegenüber Außenstehenden mit Beginn der Nazi-Herrschaft unbedingt verschwiegen werden: Zu groß erschien dem Vater die Gefahr, dass bei Bekanntwerden einer an der vermeintlichen  „Erbkrankheit“ Schizophrenie leidenden Mutter auch seine Töchter in die Mühlen der „Aufartung“ zum Schutz der deutschen Volksgesundheit geraten könnten: Schließlich war  am 1. Januar 1934 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft getreten, und in zweifelhaften Fallen pflegten viele örtliche Gutachter auf die erbliche Belastung der gesamten Familie hinzuweisen und diese pauschal als „minderwertig“ zu bezeichnen.

Als Langzeitpatientin, deren Arbeitskraft in der Heilanstalt nicht zwingend benötigt wurde, fiel Emma Wippler in die Gruppe jener Pfleglinge, die die Anstaltsleitung im Zuge der „Aktion T4“ nach Berlin meldete. Sie wurde am Vormittag des 27. Juni 1940 in einem der grauen Busse abgeholt und wenige Stunden später in der Tötungsanstalt Grafeneck vergast und eingeäschert.

Dennoch weist keine Schautafel und kein Ausstellungsstück in der Konstanzer NS-Dauerausstellung auf Opfer wie Emma Wippler und auf die Konstanzer Täter hin.
Das Standardargument des Platzmangels, der lediglich eine „kursorische Behandlung“ der an Konstanzerinnen und Konstanzern verübten Krankenmorde und Zwangssterilisationen zuläßt, verfängt nicht, wenn die Ausstellungsfläche doch unter anderem sogar hinreichend Raum für eine Vitrine bietet, in der die Perücke und Haarnadeln aus der Inszenierung von Schillers „Kabale und Liebe“ aus dem Jahr 1948 präsentiert wird. Wenn beim Thema „Konstanz im Nationalsozialismus 1933 – 1945“ Requisiten einer Theateraufführung, die noch nicht einmal annähernd in diesen Zeitraum fiel, wichtiger sind als die große Anzahl von Konstanzer Opfern während des Nazi-Regimes, und das Schicksal von Zwangssterilisierten unter der  Rubrik „Repressionen im Alltag“ banalisiert wird, erscheint eine „strukturbedingte“ Lückenhaftigkeit wenig glaubhaft.
In unserer Stadt darf kein Platz sein für die Marginalisierung und Leugnung nationalsozialistischen Unrechts.

Sabine Bade für den Arbeitskreis NS-Eugenik Konstanz
(Fotos: Privatarchive Banholzer, Didra, Frey und Schroff)

Die Serie wird fortgesetzt. Demnächst folgen Informationen darüber, was Heinz Faulstich dazu bewog, das Zwangssterilisationsprogramm – bei dem Konstanz reichsweit einen der Spitzenplätze einnahm – als den ersten planmäßigen Massenmord der Nationalsozialisten zu bezeichnen.