„Wir sind vier der über tausend …“ (4)

Mehrere Hundert Konstanzer Männer, Frauen und Kinder wurden Opfer von Zwangssterilisierungen und NS-„Euthanasie“-Verbrechen; weit über Tausend waren es im gesamten Landkreis. Doch während sich andernorts, etwa in Ravensburg und im Bodenseekreis, Landkreis- und Gemeindeverwaltungen seit vielen Jahren aktiv für die Aufarbeitung dieses Kapitels der lokalen NS-Verbrechen einsetzen, geht die Stadt Konstanz einen vollkommen anderen Weg: Sie banalisiert diese Massenmorde in ihrer neuen NS-Dauerausstellung – auf der einzigen und erst nachträglich angebrachten Schautafel zu dieser Thematik – als „Repressionen im Alltag“.

Wie andernorts das Schicksal von NS-Eugenikopfern vergegenwärtigt wird

Dass in Tübingen seit dem Jahr 2016 mit dem „Geschichtspfad zum Nationalsozialismus“ mit einer Info-Stele vor der Nervenklinik an die dort vorgenommenen Zwangssterilisationen erinnert wird und in Ulm im Oktober 2019 vor dem Landgericht eine Gedenkstätte für Zwangssterilisierte und die Opfer der „Euthanasie“-Morde errichtet wurde, ist hinlänglich bekannt. Doch wie stellen sich kleinere Städte in unserer unmittelbaren Nachbarschaft im Bodenseeraum ihrer Vergangenheit?

Die Stadt Ravensburg beispielsweise hat in den vergangenen Jahren in zahlreichen Publikationen die nationalsozialistische Vergangenheit der Stadt grundlegend aufgearbeitet und auch Erinnerungsorte für die Opfer von Krankenmorden und Zwangssterilisationen geschaffen. So wurde bereits im Jahr 2015  mitten in der Stadt am heutigen Heilig-Geist-Spital eine Tafel in Erinnerung an 602 Menschen angebracht, die dort dem Zwangssterilisierungsprogramm zum Opfer fielen. Das ist aber nicht alles: Das Gedenkbuch für die Opfer der „Euthanasie“ in Ravensburg porträtiert mit sehr ausführlichen Biografien das Schicksal aller derzeit bekannten Personen, die in Ravensburg geboren wurden oder dort zuletzt gelebt haben, bevor sie in Anstalten für Behinderte oder psychisch Kranke aufgenommen und schließlich im Rahmen der NS-„Euthanasie“ umgebracht wurden.

Auch im Bodenseekreis, um ein weiteres Beispiel anzuführen, widmet sich das Landratsamt in einem Forschungs- und Erinnerungsprojekt bereits seit vielen Jahren diesem Thema. Es dokumentiert die Schicksale aller Personen, die in den Orten des heutigen Bodenseekreises geboren wurden oder dort zuletzt gelebt haben, bevor sie im Rahmen der NS-„Euthanasie“ umgebracht wurden. Seit langem steht die dafür geschaffene Opfer-Datei online zur Verfügung. Nach Ansicht von Landrat Lothar Wölfle ist es wichtig, mehr Klarheit über diese Verbrechen zu gewinnen und damit auch den Betroffenen ein würdiges Andenken zu schaffen.

Und in Konstanz, der größten Stadt am Bodensee?

Anders als in anderen Städten vergleichbarer Größe und NS-Belastung existiert hier keine derartige Gedenkstätte. Es weist auch keine Gedenktafel – etwa an der ehemaligen Frauenklinik oder dem städtischen Krankenhaus – auf diese Verbrechen hin. Und wo selbst in kleineren Orten der Bodenseeregion eine aktive Auseinandersetzung mit einem der beschämendsten Kapitel der deutschen Geschichte seit vielen Jahren betrieben wird, blendet die Stadt Konstanz diese Opfergruppe aus der Stadtgeschichte aus: Bei der Eröffnung der neuen Dauerausstellung „Konstanz im Nationalsozialismus 1933–1945“ im vergangenen Jahr war ihnen nicht eine einzige Schautafel gewidmet. Mittlerweile wurde nachgebessert und eine zusätzliche Schautafel zu NS-Krankenmorden angebracht – unverständlicherweise noch immer verharmlosend als einem von vielen Aspekten der „Repressionen im Alltag“. Diese Tafel ist zudem so allgemein gehalten, dass ihr nicht einmal zu entnehmen ist, dass auch mehrere Hundert Bürgerinnen und Bürger der Stadt Konstanz diesen Verbrechen zum Opfer gefallen waren und dass es namentlich bekannte Täter gab.  Das Fehlen dieser Dokumentation dürfte zwar vielen Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung – darunter auch Schulklassen – mangels Vorwissen nicht auffallen. Wie aber mögen sich die Nachfahren der Opfer fühlen, die bei einem Besuch des Rosgartenmuseums erkennen müssen, dass der Mord an ihrer Oma, ihrem Opa, ihrer Großtante oder ihrem Großonkel nicht erwähnenswert ist?

Dass die neue Tafel darüber hinaus auch fehlerhaft ist, sei hier nur am Rande vermerkt: So trat etwa das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ nicht „bereits 1933“ in Kraft, und die Morde nach Einstellung der Aktion T4 wurden keineswegs nur „an kranken Kindern und in den Konzentrationslagern“ verübt, sondern an bis zu 230.000 weiteren Menschen aller Altersgruppen vor allem in Heilanstalten. Auch Menschen aus Konstanz.

Nur eine Schautafel

Eine der 508 Patientinnen und Patienten der „Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz“ (heute: ZfP Reichenau), die in den Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar ermordet wurden, hieß Anna Geiser.
Als geborene Kessler am 7. Oktober 1890 in Konstanz/Allmannsdorf geboren und katholisch getauft, heiratete Anna Geiser 1915 den verwitweten Ziegeleifacharbeiter Anton Geiser. Sie zog zu ihrem Mann und dessen vier Kindern aus erster Ehe in die Schneckenburgstraße 27. Drei gemeinsame Kinder kamen in den Jahren 1918, 1920 und 1926 zur Welt.
Bereits im Jahr 1920 war die damals 30-jährige Frau für vier Wochen Patientin der Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz. Im Jahr 1929 folgte ein halbjähriger Aufenthalt, und auch im Jahr 1930 wurde sie drei Monate stationär behandelt. Ab dem 23. Mai 1933 blieb sie dauerhaft in der Einrichtung; die Diagnose lautete wenig aussagekräftig „manisch-depressives Irresein, resp. Schizophrenie“. Sie arbeitete unter anderem in der Anstaltsküche und erhielt regelmäßig Besuch von ihrem Mann und den Kindern.
Im Rahmen der „Aktion T4“ wurde Anna Geiser am 14. August 1940 zusammen mit weiteren 65 Männern und Frauen von einem der grauen Busse aus der Heilanstalt abgeholt und noch am selben Tag in der Tötungsanstalt Grafeneck vergast.

Während die ersten Eugenik-Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes – die Zwangssterilisationen von etwa 400.000 Frauen, Männern und Kindern – noch auf Grund des am 1. Januar 1934 in Kraft getretenen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vollzogen wurden und damit einen legalen Anstrich erhielten, verliefen die Krankenmorde der „Aktion T4“ klammheimlich. Die Vernichtung von „unwertem Leben“, die systematische Ermordung von über 70.000 PsychiatriepatientInnen und AnstaltsbewohnerInnen, erfolgte von Beginn an unter dem Motto „verschleiern und vertuschen“. Kein Wunder, denn  schließlich galt zu dieser Zeit auch im NS-Staat vorsätzlicher Mord als Verbrechen.
Organisiert wurde die „Aktion T4“ von der „Kanzlei des Führers“ (KdF), die dem NSDAP-Reichsleiter Philipp Bouhler unterstand. Unter seinem Vorsitz fanden ab Sommer 1939 in Berlin mehrere Vorbereitungstreffen mit Ärztevertretern statt. Die Planer und Täter der NS-„Euthanasie“ stützten sich auf einen zuerst mündlich, dann auch schriftlich erteilten Auftrag Hitlers vom Oktober 1939, der auf den Tag des Kriegsbeginns zurückdatiert wurde.

Während in Württemberg das Samariterstift Grafeneck – wo diese NS-Mordaktion ihren Anfang nahm – zur Vergasungsanstalt umgebaut wurde, schuf die KdF für das euphemistisch „Gnadentod“ oder „Euthanasie“ genannte Mordprogramm vier Tarnorganisationen (Briefkastenfirmen): die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ (RAG), zuständig für die Erfassung und Selektion der Opfer mithilfe von Fragebögen; die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, die für die Finanzierung des Programms sorgte und als Arbeitgeber des „Euthanasie“-Personals in Erscheinung trat; die „Gemeinnützige Krankentransport GmbH“ (Gekrat), die die Patiententransporte in die Zwischen- und Tötungsanstalten durchführte, und die im April 1941 gegründete „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten“, die die finanzielle Abwicklung mit den Kostenträgern übernahm. Zusammen bildeten diese vier Organisationen die Zentraldienststelle „T4“, die ab April 1940 ihren Sitz in der Berliner Tiergartenstraße 4 hatte.

Planmäßiger Massenmord – nicht einfach bloße „Repression“

Verschleiern und vertuschen war auch die Maßgabe nach der Ermordung der Menschen. So wurde in jeder T4-Tötungsanstalt ein eigenes Standesamt installiert, in dem die Standesbeamten unter falschem Namen Sterbeurkunden mit frei erfundenen Todesursachen aus verschiedenen Einrichtungen ausstellten. Von der sogenannten Trostbriefabteilung erhielten die Angehörigen die Todesnachricht: Da der Tod zu vieler Kranker am selben Tag und am selben Ort zwangsläufig Verdacht erregen würde, waren vorher in der sogenannten Absteckabteilung auf Landkarten Markierungsnadeln für den Wohnort angebracht worden.  Um sonst offensichtliche Todesfallhäufungen zu kaschieren, wurde reger Aktentausch betrieben.

So erhielt Anna Geisers Ehemann zunächst einige Tage nach ihrer Ermordung ein Schreiben aus Grafeneck, mit dem er darüber informiert wurde, dass seine Frau dort vorübergehend eingewiesen sei, in den nächsten Tagen aber weiterverlegt würde. Zwei Wochen danach erhielt Anton Geiser erneut Post. Diesmal von der Landesanstalt Hartheim bei Linz. In dem Brief wurde mitgeteilt, dass seine Frau am 8. September 1940 unerwartet an einer Gallenblasen- und Bauchfellentzündung verstorben sei.

Dass Konstanzer Opfer und Konstanzer Täter in der NS-Dauerausstellung weder Namen noch Gesicht erhalten, sei dem Platzmangel geschuldet, heißt es immer wieder, die Raumnot erlaube lediglich eine „kursorische Behandlung“ des Themas Konstanzer Krankenmorde und Zwangssterilisationen. Doch das Argument verfängt nicht: Schließlich bietet die Ausstellung neben einer Perücke aus der Inszenierung von Schillers „Kabale und Liebe“ aus dem Jahr 1948 (!) unter anderem auch hinreichend Raum für mehrere Schautafeln, die darüber aufklären, welche Prominenten aus Berlin in der Nachkriegszeit an den Bodensee kamen: René Deltgen, Gustav Knuth, Lola Müthel, Johannes Riemann und Elisabeth Flickenschild scheinen für „Konstanz im Nationalsozialismus 1933–1945“ relevanter zu sein als Berta Amann, Emma Wippler, Hilda Schroff, Anna Geiser und all die anderen Frauen und Männer dieser großen Konstanzer Opfergruppe.
Zudem erscheint eine „strukturbedingte“ Lückenhaftigkeit wenig glaubhaft, wo Schicksale wie jenes von Anna Geiser als „Repressionen im Alltag“ banalisiert werden.
In unserer Stadt darf kein Platz sein für die Marginalisierung nationalsozialistischen Unrechts.

Sabine Bade für den Arbeitskreis NS-Eugenik Konstanz
(Fotos: Privatarchive Banholzer, Didra, Frey und Schroff)

Die Serie wird fortgesetzt. Demnächst folgen Informationen darüber, was es bedeutete, dass in die jenseits des Fürstenbergs errichtete Siedlung Haidelmoos nur „bestes Menschenmaterial“ ziehen durfte.