„Wir sind vier der über tausend …“ (6)

In Konstanz, eben jener Stadt, deren Verwaltung über 40 Jahre lang bis 1983 annähernd 200 Urnen von „Euthanasie“-Opfern im Krematorium des Hauptfriedhofs verbarg, werden die Verbrechen der „Euthanasie“-Morde und der Zwangssterilisationen mit reichsweit circa  700.000 Opfern noch immer als „Repressionen im Alltag“ verharmlost.

In Konstanz wurde das Prinzip ‚Verschleiern und Vertuschen’ über 40 Jahre beibehalten

Am 3. April 1940 hatte Viktor Brack, einer der Hauptorganisatoren der reichsweiten „Aktion T4”, die in Berlin versammelten Oberbürgermeister des deutschen Gemeindetages leicht verklausuliert über die angelaufene Mordaktion unterrichtet und die Ankunft der Urnen bereits avisiert. Bald darauf trafen die sterblichen Überreste von Ermordeten auch in Konstanz ein. Daraufhin benachrichtigte die Friedhofsverwaltung deren Angehörige und teilte ihnen mit, dass sie die Urnen abholen könnten. Taten diese das – aus welchem Grund auch immer – nicht, blieben die Urnen in einem kleinen Kellerraum des Konstanzer Krematoriums. Bis zum Ende der „Aktion T4“ im Spätsommer 1941 waren dort knapp 200 Urnen zusammen gekommen.

Zwanzig Jahre später beauftragte der Konstanzer Oberbürgermeister Bruno Helmle 1961 sein Rechtsamt mit der Prüfung der Angelegenheit. Dessen Juristen kamen zu der Auffassung, dass „die Urnen im Friedhofsgebäude in Konstanz im öffentlich-rechtlichen Sinne ‚bestattet’ sind; der Anspruch auf Aushändigung der Asche ist von den Angehörigen verwirkt, die in Kenntnis des Aufbewahrungsortes auf eine Aushändigung der Aschen bisher keinen Anspruch erhoben haben.“
Da aber nicht sicher sei, ob damals wirklich alle Angehörigen verständigt wurden, würde  eine Kontaktaufnahme nun „Aufsehen“ erregen und zudem die Frage aufwerfen, warum die Benachrichtigung erst so spät erfolge. Auch das vermeintliche Wohl der Angehörigen hatte das Amt im Blick: Es würden mit einer Kontaktaufnahme bloß „diejenigen Angehörigen erinnert, die schon vergessen haben“. Deshalb empfahl es, „die Urnen noch einige Zeit aufzubewahren, bis nach menschlichem Ermessen feststeht, dass Rückfragen von Angehörigen nicht zu erwarten sind“.

Das städtische Rechtsamt hielt dafür den sechs Quadratmeter großen Kellerraum für durchaus geeignet und regte lediglich an, die Urnen „nicht wie bisher aufeinander zu schichten“, sondern einzeln nebeneinander zu stellen. Dem schloss sich OB Helmle an und ließ die Friedhofsverwaltung durch Bürgermeister Alfred Diesbach am 29. Mai 1961 wissen, dass die Ruhefrist um weitere zehn Jahre, also bis 1971, verlängert werde. Allerdings seien „die Fenster so zu verkleiden, dass von außen kein Einblick in diesen Raum mehr gegeben ist“.

Acht Jahre später, im Mai 1969, wurde dieses Verwahr-Procedere nochmals bestätigt. Einem internen Aktenvermerk der Friedhofsverwaltung ist zu entnehmen, dass es „nach Durchsprache der gesamten Angelegenheit bei der öffentlich-rechtlichen Beisetzung im Friedhofsgebäude bleibt“. Danach gingen die Urnen erneut vergessen.

Nur ein Zufall beendete diesen unwürdigen Umgang mit den sterblichen Überresten von Opfern des NS-Regimes: Als im Herbst 1982 Umbaumaßnahmen im Kellergeschoss des Krematoriums genehmigt wurden, hielt die Friedhofsverwaltung deren Totenruhe für nicht mehr gewährleistet, da gleich nebenan Mitarbeiter des Friedhofs sanitäre Einrichtungen benutzten. Baudezernent Ralf Joachim Fischer, der dadurch von diesem Lagerraum erfuhr, verständigte noch am selben Tag Oberbürgermeister Horst Eickmeyer von dieser seiner Ansicht nach nicht hinnehmbaren Angelegenheit.
Eickmeyer hatte 1980 Bruno Helmle abgelöst und machte Schluss mit dem Prinzip des Verschleierns und Vertuschens: Er veranlasste die Prüfung des Vorgangs und übergab die Angelegenheit der Konstanzer Staatsanwaltschaft, die am 14. Januar 1983 die Ermittlungen aufnahm. Im Rahmen des „Ermittlungsverfahrens gegen Unbekannt wegen Mordes (Euthanasie) an 192 Opfern des NS-Regimes“, in das sich auch das Landeskriminalamt Baden-Württemberg einschaltete, konnte später festgestellt werden, dass die Mordfälle bereits Gegenstand abgeschlossener Strafverfahren waren.

Das Medien-Echo war enorm. Der ORF entsandte sogar ein Filmteam, um die unwürdige Lagerung der Urnen aufzunehmen. Im Südkurier berichtete Werner Schwarzwälder in seinem Artikel vom 15. Januar 1983 ausführlich über das Geschehen, bezeichnete es auch zurecht als „Skandal“. Erstaunen lässt sich jedoch nicht feststellen, reihte er die aufgedeckte Verschleierungsmaßnahme doch in die „Liste der unangenehmen Geschichten, mit denen Konstanz immer wieder Schlagzeilen machte“. Die Frage allerdings, wer für diesen Skandal verantwortlich war und ob alte Nazi-Seilschaften dies Vorgehen 40 Jahre lang ermöglichten, durfte anscheinend im Jahr 1983 noch immer nicht gestellt werden.  

Der Koordinator der T4-Aktion in Baden lebte nach dem Krieg lange in Konstanz

Ludwig Sprauer (Zeichnung eines Prozessbeobachters, in: Badener Tageblatt vom 18.11.1948)

Ohne die Mitwirkung der Landesbehörden und ohne regionale und lokale Akteure wären die NS-„Euthanasie“-Verbrechen nicht möglich gewesen. Deshalb ist ein Blick auf die Täter notwendig.
Ludwig Sprauer (1884–1962) arbeitete nach seinem Medizinstudium zunächst unter anderem in der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch, bevor er 1919 in den Staatsdienst eintrat. 1930 wurde er Bezirksarzt in Konstanz, eine Position, die er zuvor bereits in Stockach und Oberkirch ausgeübt hatte. Im Februar 1932, also noch vor dem Machtantritt der Nazis und damit offensichtlich aus voller Überzeugung, trat er in die NSDAP ein und begünstigte in seiner Funktion den Straßen- und Versammlungsterror der SA: Zwei zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilten Konstanzer SA-Führern stellte er im Herbst 1932 fragwürdige Haftunfähigkeitsbescheinigungen aus, die einer der beiden sofort zur Flucht nutzte. „1933 wird Dr. Sprauer für seine ärztliche Fluchthilfe mit einem Stadtratsmandat der NSDAP belohnt“, resümierte der Konstanzer Historiker Werner Trapp 1990.

Seine in Konstanz erworbenen Meriten waren seinem Aufstieg anscheinend sehr förderlich: Er wurde bereits zum 1. Januar 1934 in die Landeshauptstadt Karlsruhe versetzt und machte in der Folge eine steile Karriere im badischen Innenministerium: Er stieg zum höchsten Medizinalbeamten Badens auf und war zuständig für dessen „Euthanasie“-Programm.
In die ansonsten streng geheim gehaltenen Planungen für die „Aktion T4“ – auch im NS-Staat war vorsätzlicher Mord ein Verbrechen – war Sprauer selbstverständlich eingeweiht; er verbrachte zu Informations- und Schulungszwecken einige Zeit in Berlin. Anfang April 1940 hatte er eine Vergasung in Grafeneck auch selbst in Augenschein genommen. Die Ermordung erfolgte durch Kohlenmonoxyd-Gas der IG Farben. Beim Betreten des Vergasungsraums wurden die Menschen nochmals gezählt, dann die Tore geschlossen. Anfangs schienen manche Opfer noch geglaubt zu haben, es gehe tatsächlich zum Duschen, andere begannen sich im letzten Moment zu wehren und schrien laut. Die Dauer der Zufuhr des Gases betrug in der Regel etwa 20 Minuten; sie wurde eingestellt, wenn sich im Vergasungsraum keine Bewegung mehr feststellen ließ.

Kurz vor dem Zusammenbruch des NS-Regimes ordnete Ludwig Sprauer – als eine seiner letzten Amtshandlungen überhaupt – die Vernichtung all jener Akten an, die die „Verlegungen“ nach Grafeneck dokumentierten.
Danach zog Sprauer wieder nach Konstanz, wo er von den Besatzungskräften verhaftet wurde. Für seine Taten musste er sich vor dem Landgericht Freiburg verantworten. Das Urteil erging am 16. November 1948: „Der Angeklagte Dr. med. Ludwig Sprauer, früherer Ministerialrat, wird wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, rechtlich zusammentreffend mit tateinheitlich begangener Beihilfe zum Mord an Anstaltsinsassen, zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.“

Aber die Zeiten änderten sich schnell. Die Verfolgung der Täter trat in den Hintergrund, an der Aufarbeitung der Geschehnisse gab es keinerlei Interesse mehr: Zunächst wurde Sprauers Haftstrafe auf elf Jahre reduziert und 1951 seine Haft durch Gnadenerlass ganz ausgesetzt – wie für so viele verurteilte Kriegsverbrecher. Nach seiner Freilassung kehrte er nach Konstanz zurück und lebte dort im Stadtteil Paradies in der Gartenstraße 40 bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1962. Seinen Titel „Medizinalrat“ führte er übrigens weiter.

Und heute? Über 40 Jahre nach Aufdeckung dieses Skandals?

Als im Juni 2022 das städtische Rosgartenmuseum die neue Dauerausstellung „Konstanz im Nationalsozialismus 1933–1945“ eröffnete, wurde das Verfolgungsschicksal der vielen Konstanzer „Euthanasie“-Opfer noch nicht einmal am Rande erwähnt. Die Vergasung von 508 Patientinnen und Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Reichenau zwischen Mai 1940 und Februar 1941 in den Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar wurde schlichtweg ausgeblendet. Als ein  seemoz-Artikel über die Anhörung des Kulturausschusses des Deutschen Bundestags zu Opfern von „Euthanasie“-Morden und Zwangssterilisationen auf diese Auslassung hinwies, kritisierte der Leiter der Städtischen Museen dies als „fachlich absurd und menschlich bösartig“.
Es benötigte einige Monate (und weitere Artikel), bis endlich etwas nachgebessert wurde: Nun werden Krankenmorde und Zwangssterilisationen zwar auf einer einzigen Schautafel knapp geschildert – aber als bloße „Repressionen im Alltag“ verharmlost. Auch Hinweise auf die mehreren Hundert Konstanzerinnen und Konstanzer, die Opfer dieser planmäßigen Massenverbrechen wurden, fehlen auf dieser – im übrigen nach wie vor fachlich verkehrten – Schautafel noch immer. Sie wurden in einen kleinen Touchscreen verbannt, der (falls er funktioniert, was längst nicht immer der Fall ist) mit einigen biografischen Notizen als „digitales Vertiefungsangebot“ dienen soll.

Noch im Jahr 1969 galt ein der Öffentlichkeit verborgener, knapp sechs Quadratmeter großer Kellerraum als „angemessen“ für die Aufbewahrung der Urnen der Opfer. Im Jahr 2023 sollte nicht „Platzmangel“ angeführt werden dürfen, um eine lediglich „kursorische Behandlung“ ihrer Schicksale zu rechtfertigen.
In unserer Stadt darf kein Platz sein für die Marginalisierung nationalsozialistischen Unrechts.

Sabine Bade für den Arbeitskreis NS-Eugenik Konstanz
(Fotos: Privatarchive Banholzer, Didra, Frey und Schroff)

Die Serie wird fortgesetzt. Demnächst folgen Informationen über die Voruntersuchung, die der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gegen eine große Anzahl von hochrangigen Juristen einleitete, die sich seiner Ansicht nach der Beihilfe zum Mord im Rahmen der „Aktion T4“ schuldig gemacht hatten. Und die nach Bauers plötzlichem Tod sang- und klanglos eingestellt wurde.