Wo der Kolonialist zuhause ist

In der Konstanzer Tirolergasse entdecken aufmerksam Flanierende ein altes gemaltes Ladenschild „Kolonialwaren“. Was heute eher einen Hauch verwehter Exotik vermittelt, hatte um 1900 einen handfesten Hinter­grund. Die gnadenlose Ausbeutung von Menschen in fremden Ländern wurde damals für skrupellose Unternehmer zum Grund­stock extremen Reichtums. Im Digitalen Lindauer Geschichtsbuch ist jetzt ein lesens­werter Text erschienen, der zeigt, wie auch Lindauer vom brutalen Kolonialismus profitierten.

Der Kolonialist ist nicht immer nur der Andere. Dass etwa noch heute in weiten Teilen Namibias deutsch gesprochen wird und dort auf den Kassenbons „Danke für Ihren Einkauf“ steht, ist nicht etwa einer putzigen sprachlichen Anwandlung der einheimischen Bevölkerung geschuldet, sondern brutaler Unterdrückung, die im Völkermord an den Herero und Nama gipfelte. Und schon um 1700 unterhielt Brandenburg eigene Kolonien in Afrika und der Karibik und mischte wacker im Sklaven-, Gummi- und Elfenbeinhandel mit. Dass Deutschlands Kolonialgeschichte am Ende aber relativ beschränkt ausfiel und am deutschen Wesen nicht noch mehr Völker genesen mussten, ist wohl weniger einem tiefen mitmenschlichen und wahrhaft christlichen Empfinden als vielmehr der deutschen Uneinheit und militärischen Schwäche vor 1871 zu verdanken.

Her mit dem Zaster

Es waren aber mitnichten nur die als Reeder tätigen Hamburger Pfeffersäcke, die schon früh den gesamten Globus nach Gewinnmöglichkeiten abscannten. Auch am Bodensee gab es findige Geschäftsleute, die bereit waren, im Ausland zu „investieren“, wie eine lesenswerte Studie von Karl Schweizer belegt. „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz ihrer Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel“, notierten Marx und Engels bereits im Kommunistischen Manifest.

Dass man in den Kolonien schnell sagenhaft reich werden konnte, sprach sich in Europa herum, und so könnte denn im 19 Jahrhundert der Spruch „Geh doch hin, wo der Pfeffer wächst“ einen anderen Sinn gehabt haben als heute. „Von dem sagenhaften Reichtum den sich europäische Kaufleute durch den Betrieb von Tabakplantagen auf Sumatra damals aneignen konnten, erfuhr auch Hermann Näher (1838–1908), christlicher Kaufmann in der bis 1922 selbständigen Landgemeinde Aeschach am Bodenseeufer nördlich der Stadt Lindau im Königreich Bayern.“ Näher machte sich also zusammen mit seinem Kompagnon Karl Fürchtegott Grob 1869 auf nach Sumatra, wo sie zuerst in Muskatnüssen tätig wurden. Wenig später erhielt die Firma Näher & Grob von den malaiischen und niederländischen Behörden die Lizenz, Urwald zu roden, um eine eigene Tabakplantage anzulegen. Nach der Rodung erfolgten dann Aussaat und Ernte sowie die Trocknung und Verarbeitung der Tabakblätter, die dann exportiert wurden. Da dieser Wald aber die Lebensgrundlage der einheimischen Bevölkerung gewesen war, kam es immer wieder zu Angriffen auf die Plantagen, gegen die das Militär den Kolonialisten half.

Lebensgrundlagen der Einheimischen zerstört

Auf den Plantagen selbst entstanden die Kulihäuser, in denen die – oft chinesischen – Arbeitskräfte leben mussten, die die schwere Feldarbeit verrichteten. Diese Arbeiter wurden zumeist mit einem Drei-Jahres-Vertrag angelockt, in einer Art Schuldknechtschaft gehalten und mit oft sehr willkürlichen Geldstrafen an ihren Herrn gebunden, auf Geflohene wurden gar Kopfgelder ausgesetzt. Eine schmale privilegierte europäische Oberschicht aus Plantagenbesitzern und deren engsten Mitarbeitern stand der breiten Masse der weitgehend rechtlosen einheimischen und chinesischen ArbeiterInnen gegenüber.

Unten die Arbeiter und Arbeiterinnen („Kulis“) in einer Sortierscheune im Sultanat Deli, oben das europäische Aufsichtspersonal in weißer Kleidung. Foto aus der Fotosammlung „Sumatra“ für Europäer von C.J. Kleingrothe, Medan (Deli) 1913 in der Sammlung von Jörg Poll, Lindau.

Es herrschte höchst profitable Willkür, und ein offizieller Untersuchungsbericht beklagte 1903 „ungesetzliche Freiheitsberaubung, Schlagen, Auspeitschung, Folterung, Tötungen sowie Vorenthalten von Lohn, Essen und medizinischer Pflege.“ Die Krankheits- und Todesraten waren in den tropischen Gegenden, in denen die Malaria und andere Tropenkrankheiten heimisch waren, absurd hoch. Dementsprechend hoch waren aber auch die Gewinnspannen: „Die 1880er Jahre waren für die Unternehmer ein goldenes Zeitalter. Die [in der Gegend führende holländische Aktiengesellschaft] Deli Mij erzielte enorme Renditen: Von 1879 bis 1890 zahlte die Gesellschaft ihren Aktionären auf einem Aktienkapital von gemittelt 5 Mio. Franken insgesamt knapp 40 Mio. sfr. an Dividenden aus; das entspricht einer durchschnittlichen jährlichen Dividende von 72%. Damit war die Deli Mij wohl weltweit das profitabelste Unternehmen in der Agrikultur.“

Privatvilla ist heute Musikschule

Zehn Jahre später, 1879, kehrten Hermann Näher und Karl Fürchtegott Grob als reiche Männer aus Sumatra zurück, blieben aber vorerst Eigentümer ihrer Plantagen. Hermann Näher heiratete in der Heimat „1881 Louisa von Gonzenbach, Tochter eines der St. Gallener Bankpräsidenten. Von Anbeginn an schaute er sich nun am bayerischen Bodenseeufer danach um, wie er seinen inzwischen enormen Reichtum weiter gewinnbringend sowie für die Finanzierung seines privaten Luxuslebens anlegen konnte.“

Das Gebäude, das heute als Musikschule der Stadt Lindau verwendet wird, ließ sich der Ehrenbürger Hermann Näher ab 1887 als Wohnsitz für sich und seine Frau errichten. Auch Nähers Kompagnon, der Züricher Kolonialkaufmann Karl Fürchtegott Grob, legte sich in Zürich-Seefeld die Prachtvilla Patumbah zu. Näher bewies allerdings kein sicheres Händchen bei der Anlage seines Geldes vor allem in Aktien und starb 1908 in relativer finanzieller Bedrängnis.

Die Studie von Karl Schweizer zeichnet die Lebenswege weiterer Menschen aus der Region nach, die damals (zumeist als Plantagenverwalter) in den Tropen ihr Glück suchten und fanden. Sie zeigt, wie eng die persönlichen und wirtschaftlichen Verflechtungen nicht nur Lindaus mit dem kolonialen Alltagsgeschäft waren. Sie macht aber auch verständlich, warum die einheimischen Menschen in Ländern wie Indonesien die europäischen Plantagenbetreiber keineswegs als Kultur- und Heilsbringer begriffen, sondern über Jahrzehnte hartnäckigen Widerstand leisteten, bis sie endlich ihre Unabhängigkeit von den europäischen Kolonialisten erkämpft hatten.

Luciana Samos

Bild am Textbeginn: Neue junge Arbeiterinnen für die Senembah Maatschappij in Deli nach der ärztlichen Begutachtung. Der Text auf der Bildrückseite lautet: „Diese Personen von mir medizinisch untersucht und als geeignet befunden. Samarang, 27. Juli 1902; Der Arzt.“ Foto in der Sammlung Jörg Poll, Lindau. Wiedergabe der Bilder mit freundlicher Genehmigung von Karl Schweizer.


Karl Schweizer, Als Sumatra-Kulis nicht nur den Lindauer Hermann Näher reich machten, kostenloser Download hier.

Weiterer Lesetipp: Adam Hochschild, Schatten über dem Kongo. Dieses Buch behandelt die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Verbrechen wider die Menschlichkeit und macht die alltägliche Praxis des Kolonialismus sehr deutlich.