Wo sind Flüchtlinge wann, wie und warum willkommen?
Über Flüchtlinge und ihre Probleme wird derzeit in Konstanz heftig gestritten: Heute Nachmittag gibt es eine Protestaktion im Kreistag. Derweil regt sich Widerstand gegen die Unterbringung von Flüchtlingen im Atrium in der Luisenstraße (s. Foto) – gegen eine aktuelle Unterschriften-Aktion wehren sich Aktive der Bürgergemeinschaft Petershausen (BGP)
Dietmar Messmer plädiert für einen offenen Umgang mit Flüchtlingen
„Liebe BGP-Engagierte, StadtteilbewohnerInnen und Mitbürgerinnen,
eine neue Heimat beziehungsweise vorübergehend eine sichere Zuflucht zu finden, ist eine Schicksalsproblematik, die jeden treffen kann. Wir sind in der glücklichen Lage, dass in Europa dank demokratischer Politik und mächtiger Bündnisse relativ friedliche Zeiten bestehen. Wir sind deshalb in der Lage, anderen Menschen aus Krisenregionen Zuflucht zu gewähren.
Bei der letzten öffentlichen Vorstandssitzung der BGP am 3.12.2013 hatten wir Konsens darüber, dass das allgemein politische Thema, sollen wir als Bürgergemeinschaft ein mehrheitliches Votum für die Bargeldregelung statt Wertgutscheine für Asylbewerber abgeben, nicht in das Mandat eines Stadtteilvereins gehört. Stattdessen kann dazu jede Bürgerin und jeder Bürger sich eine eigene Meinung bilden und einen freien Gewissensentscheid treffen.
Ich halte es grundsätzlich für selbstverständlich und vernünftig, Informationen zu sozialen Themen weiterzuleiten, insbesondere wenn in unserem Stadtteil, in unserer Stadt sozialpolitische Entwicklungen und Auswirkungen anstehen. Inklusion und Integration stehen für eine demokratische Kultur, die bedürftige Menschen willkommen heißt und sie als gleichberechtigte Mitmenschen stützt.
Wer einmal in die USA reiste, ist angenehm überrascht, durchweg vorbehaltlos willkommen geheißen zu werden: You are welcome. (Vorausgesetzt die Zollprozedur ist überstanden.) Zur Erinnerung: Nach dem Abzug der französischen Garnison aus Konstanz hat sich von Anfang 1980 an gerade unser Stadtteil erheblich geändert. Die Klosterkaserne Petershausen wurde als neues, kulturelles und administratives Zentrum mit Archäologischem Landesmuseum, Landratsamt, Musikschule, Polizei und großzügig angelegtem Wohnareal ausgebaut. Die Jägerkaserne entlang der Steinstraße wurde für Gewerbebetriebe, Vereine und die Jugendkultur geöffnet. Zwei Studentenhotels entstanden. Die Chérisy-Kaserne wurde für Studierende, Familien, Gewerbe- und Kulturbetriebe erschlossen.
Die positive Dynamik in der Stadtentwicklung zeigte sich besonders in der zum Rhein offengehaltenen Stadt am Seerhein und der weitergehenden Bebauung entlang der von Emmich/ Bruder Klaus Straße. Dieser Dynamik entspricht nun auch der neue Masterplan Mobilität der Stadt Konstanz, in dem endlich dem Bedürfnis aller Bewohner nach Entschleunigung mit Tempo 30 Straßen/Zonen Rechnung getragen wird.
Diese positive Dynamik, Wohn- und Arbeitsräume zu schaffen, eine vernünftige Stadtentwicklung mitzuerleben, mitzugestalten und insbesondere wenn nötig auch kritisch zu stützen, ist ein Grundsatz der Bürgergemeinschaft Petershausen.
Seit kurzer Zeit regt sich allerdings auch Widerstand gegen Veränderungen im Stadtteil. Gerade war von der Stadt erklärt worden, dass die private Schweizer Herzklinik in der Luisenstraße für die Bevölkerung wichtig ist (die administrativen und ökonomischen Missstände der Betriebsleitung müssen jedoch aufgeklärt und behoben werden), befürchten nun einige Anwohner des Krankenhausareals, dass mit der Einrichtung eines Flüchtlingsheimes an der Luisenstraße im leerstehenden Atrium (im Besitz der städtischen Spitalstiftung – früher Pflegeheim, dann zeitweilig Studentenwohnheim) ein sozialer Brennpunkt entstehen könnte. Diese Anwohner wollen die Installation eines weiteren Flüchtlingsheimes in Petershausen (bisher in der Steinstraße und vorübergehend in der Hegaustraße) verhindern. Für die Ablehnung des auf zwei Jahre projektierten Nutzung des Gebäudes als Flüchtlingsheimes sammeln sie Unterschriften.
Jetzt würde ich Ihnen gerne den Text dieser Unterschriftensammlung zur Verfügung stellen, aber die Nachbarin des Nebenhauses wollte mir eine Kopie des Schreibens nicht geben. Ich hatte nur die Zeit, die Erklärung zu lesen und wurde als betroffener Anwohner ziemlich gedrängt, zu unterschreiben. Mein Vorschlag war, dass sie mir das Schreiben auch per Email zusenden könnte, aber das passierte bis heute nicht. Die Einspruchs-Unterschriftenliste soll ohne Diskussion morgen dem Oberbürgermeister der Stadt Konstanz, Herrn Burchardt, übergeben werden.
Ein solch einseitiges, überfallartiges Vorgehen bei einer Unterschriftensammlung will und kann ich nicht wortlos vorübergehen lassen. Zwar wurde im Schreiben bemängelt, zu kurzfristig von der Stadt unterrichtet und ungünstig am kommenden Dienstag, 17 Uhr, zur Informationsveranstaltung eingeladen worden zu sein, aber die Unterschriftensammler verhalten sich kein bisschen besser. wenn sie den Protestbrief nicht nachlesbar den Mitbewohnern hinterlassen.
Da wird ungenügende Transparenz der Verwaltungsentscheider und unzumutbare soziale Konfrontation gegenüber den Anwohnern beklagt. Doch im Gespräch wurde kein Blatt vor den Mund genommen, es geht den Unterschreibenden um den Erhalt ihrer heilen Welt, besonders wird der mögliche Wertverlust der eigenen Immobilie befürchtet.
Meine Bitte an Sie – liebe Bürgerinnen und Bürger – bilden Sie sich eine profunde Meinung.
1. Zum Thema Flüchtlingsheim in der Luisenstraße
Lesen Sie die Pressemitteilung der Stadt Konstanz zum Thema „Stadt unterstützt Landratsamt bei Unterkünften für Flüchtlinge“ vom Montag, dem 9. Dezember 2013
http://www.konstanz.de/rathaus/medienportal/mitteilungen/05897/index.html
Schauen Sie sich um in den vielfältigen Pressemedien, den Online-Medien wie seemoz
http://www.seemoz.de/lokal_regional/fluchtlinge-ziehen-in-die-konstanzer-luisenstrase/comment-page-1/#comment-12552
2. Zum Thema Anerkennung und Selbstverantwortung der Flüchtlinge
Die aktuelle Petition der Flüchtlinge und Unterstützer im Kreis Konstanz
https://www.openpetition.de/petition/online/stoppt-essensgutscheine-stoppt-diskriminierung
Lesen Sie die am 19. Juli 2012 verfasste Konstanzer Erklärung des Stadtrats „FÜR eine Kultur der Anerkennung und GEGEN Rassismus“
http://www.konstanz.de/rathaus/medienportal/mitteilungen/04025/index.html
Engagieren Sie sich für eine weltoffene Stadt, in der alle Mitmenschen vorbehaltlos willkommen sind. Reichen auch Sie ihre Hand den Mitmenschen.
Mit freundlichen Grüßen
Dietmar Messmer“
Harald Stobinski: Wir Bürger sind mündig genug, uns den Herausforderungen zu stellen
„Liebe BGP-Engagierte, StadtteilbewohnerInnen und Mitbürgerinnen,
als Neumitglied der BGP und ebenfalls Nachbar eines Asylbewerberheims möchte ich folgendes beitragen: Zwar ist die BGP als Stadtteilvertretung nicht primär Forum allgemein politischer Themen, doch ist beim Flüchtlings- und Asylbewerberthema unser Stadtteil direkt betroffen, schließlich befinden sich alle Konstanzer Asylbewerberunterkünfte (Steinstr., Gustav-Schwab-Str., Hegaustr. und Luisenstr.) im Gebiet des größten, aber auch von baulicher Dichte wie von Bewohnerzahlen dicht besiedelten Stadtteils.
Deshalb können wir diesem Thema nicht ausweichen. Der Versuch, durch Nichtbeachtung sich einer konfliktträchtigen Auseinandersetzung entziehen zu wollen, muss scheitern. Nur wer an der Diskussion teilnimmt, kann Einfluss nehmen im Sinn eines weiter friedlichen Zusammenlebens aller Menschen in unserer Stadt, was die Voraussetzung ist für alle weiteren Forderungen an die Lebensqualität – von Familienfreudlichkeit bis Verkehrsberuhigung.
Herr Thiessen vom Vorstand der BGP hat dazu im Südkurier klare Worte gefunden: „Transparenz sei wichtig und es dürfe keine Überraschungsaktionen geben. So könne möglichen Vorurteilen vorgebeugt werden.“ Herr Messmer vom Vorstand der BGP leistet durch sein Rundschreiben Aufklärungsarbeit und fordert zu Recht, Information vor Aktion zu setzen.
Dass die von offizieller Seite mit der Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern befassten Stellen die Nachbarschaft in der Luisenstraße durch Briefe und alle Bürger durch Veröffentlichung vor der Belegung über eine Veranstaltung im Rathaus informieren, ist nur zu begrüßen und vorbildlich. Durch den Versammlungsort wird deutlich, es geht alle in Konstanz an, und dort ist der Ort für Diskussion (Kritik, Anregungen und Engagement). Die Anwohner der Luisenstraße sollten die Berechtigung ihrer Besorgnisse zunächst an dem primär Ihnen gemachten Informations- und Beteiligungsangebot überprüfen, bevor Forderungen erhoben werden.
Meine Kritik an einigen vorschnellen Aktivisten der Luisenstraße erlaube ich mir, da ich selbst unmttelbarer Nachbar einer seit Ende August bestehenden Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber in der Hegaustraße bin. Wir im Quartier Hegaustraße haben seit über einem Vierteljahr praktische Erfahrungen. Bei uns ist die bauliche Situation wesentlich enger als an der Luisenstraße. Über 200 Nachbarn leben in einem Abstand, der minimal nur knapp vier Meter beträgt, in einem Hofquartier mit ca. 100 Asylbewerbern aus mindestens drei Herkunftsgebieten (Pakistan, Russland, Türkei). Nach meinen Informationen soll das Atrium im Park an der Luisenstraße primär mit Kriegsflüchtlingen aus Syrien belegt werden, deren Aufenthaltsstatus weniger einschränkend ist wegen zunächst angenommener späterer Rückkehr in die Heimat.
Bei solch dichter Nachbarschaft zu einem Gebäudekomplex, wo zuvor nicht mehr als 50 Menschen ihren Lebensmittelpunkt hatten, und wo jetzt mehr als doppelt so viele Menschen auch mit kleinen Kindern aus unterschiedlichen Herkunftsländern auf nun engstem Raum ohne Privatspähre mit ungewisser Perspektive untergebracht werden, sind Konflikte nicht zu vermeiden. Entscheidend ist, wie diese bewältigt werden.
Im Unterschied zur Luisenstraße wurden die Nachbarn der Hegaustraße zu keinem Zeitpunkt offiziell über die Umwandlung in ein Asylbewerberheim informiert! Erst über einen Monat nach der Belegung erschienen im Südkurier auf der Bodensee-Seite am 08. Oktober zwei Artikel zur Lage der Asylbewerber im Landkreis, aus denen auch die Belegung in der Hegaustraße hervorging. Wäre da nicht auch die Verantwortung des hiesigen Amtsblattes zu hinterfragen?
Gerüchte über die Umstände verbreiteten sich schnell. Wir mussten uns durch Nachfragen bei Ämtern über die Fakten informieren. Nach ca. einem Monat wurde ein Eigentümer, dem Mieterbeschwerden vorgetragen worden waren, beim zuständigen Amt vorstellig; Lösungsmöglichkeiten wurden erörtert und zugesagt. Das aktenkundige Ergebnis der Besprechung wurde den Mietern vom Eigentümer durch Aushang bekanntgemacht. Ruhestörungen und Gefährdung kleiner Kinder durch den Straßenverkehr waren Themen. Da mit kälterer Witterung sich das Leben eher in geschlossenen Räumen abspielt, bleibt abzuwarten, ob mit Beginn der wärmeren Jahreszeit solche Probleme wieder auftauchen werden.
Wenn jetzt die „Offiziellen“ im Fall Luisenstraße durch ihr Handeln „eine lange Tradition der internationalen Solidarität, der Integration und der Toleranz“ demonstrieren wollen, bekommt dies in Kenntnis der Fakten zum Fall Hegaustraße einen schalen Beigeschmack. Die Nachbarschaft der Hegaustraße hat bislang bewiesen, dass die von Offiziellen in Selbstbeweihräucherung gehaltenen Fensterreden über Toleranz etc. in der Praxis sich bewähren können. Dazu war es auch nötig, mit der überraschenden Belegung als Asylbewerberheim einhergehenden Schuldzuweisungen entgegenzutreten, was Anwohnern durch Aushang und Wurfsendung in die Briefkästen der Nachbarschaft gelungen ist.
Hoffentlich zeigt der Fall Luisenstraße, dass die Verwaltung (von Stadt, Landkreis bis Eigentümer Spitalstiftung) lernfähig ist, und nicht nur mit einer leuchtenden Vorzeigeaktion von weiterhin grauem Alltagshandeln ablenken will. Herrn Messmer sei für sein Engagement gedankt, dem Unwissen entgegenzutreten. Das Unwissen ist die Basis von Vorurteilen und von Willkür. In diesem Dunkel scheint es für einige bequemer zu sein, Entscheidungen nicht verantworten zu müssen. Dort tummeln sich auch die Rattenfänger: im Quartier Hegaustraße fand sich am vergangenen Freitag in Briefkästen ein Werbezettel der NPD zum Thema Asyl mit sattsam bekannten Falschbehauptungen, Verleumdungen und Forderung nach Abschaffung des Asylrechts.
Wir Bürger in diesem Land, in dieser Stadt sind mündig genug, uns den Herausforderungen zu stellen. Sollten die „Oberen“ mit ihrer Strategie des Verschweigens im Fall Hegaustraße gemeint haben, durch Vermeiden von Aufsehen dem Standort Konstanz zu dienen, so müssen sie sich die Frage nach ihrem Demokratieverständnis gefallen lassen. Auch die Menschen in Konstanz können sachlich gebotene Kritik von menschenverachtender Hetze unterscheiden.
Mit freundlichen Grüßen
Harald Stobinski“
Weitere Artikel:
Lieber Herr Kirsten,
danke für Ihre Reaktion. Ich kann Ihren Ausführungen durchaus folgen und habe dadurch auch nochmals eine neue Sichtweise bekommen.
Ich möchte nicht untätig bleiben – und ich begrüße auch jede Form des Engagements ausdrücklich und mit großem Respekt. Deshalb habe ich auch ganz bewusst das Unterstützerschreiben unterzeichnet, das die Diskussion am Leben erhalten und besonders noch forcieren soll.
Die Petition halte ich allerdings auch weiterhin deswegen für problematisch, weil sie aus meiner Perspektive zu begrenzt, zu eingeschränkt formuliert ist – und damit die Gefahr birgt, unterschiedliche Bedürftige in ihrer Wertigkeit zu differenzieren (wenn auch sicher keinesfalls gewollt, aber in der Außenwahrnehmung möglich). Denn immerhin gäbe es die Möglichkeit, den Protest auch auf anderer Ebene anzulegen – unter anderem beim Land, denn die Regierung hat beispielsweise das Flüchtlingsaufnahmegesetz in der Frage des Gutscheinwesens überaus schwammig nachgebessert. Dort wäre und ist für mich der Ansatzpunkt, den ich auch verfolge – meinen Protest habe ich dorthin gerichtet, Gleiches gilt für die Bundesebene.
Es ist weder falsch, noch lehne ich den Einsatz der lokalen Initiativen ab. Im Gegenteil. Meine Intention einer Petition wäre aber gewesen, diese nicht vorrangig mit dem Ziel zu verbinden, den Landkreis zur Abschaffung der Gutscheine zu bewegen, sondern gerade den Kreistag und den Gemeinderat zu animieren, sich dem Protest anzuschließen. Ich bin ziemlich sicher, dass sich (gerade in letzterem) eine Mehrheit dafür finden ließe. Jeder Fortschritt, mit dem Gutscheine in einem Landkreis abgeschafft werden, ist ein guter und wichtiger. Ich möchte mit meiner Unterschrift unter die Petition aber nicht den Eindruck erwecken, ich würde mich auf regionale oder gruppenspezifische Interessen beschränken.
Und in Bezug auf das Gutscheinwesen im Gesamten: Hier plädiere ich dafür, mit ganz erheblichem Nachdruck auf Bundesebene aktiv zu werden. Und ich denke, dass es nicht verkehrt, sondern gar ein gutes Zeichen wäre, wenn sich auch die Flüchtlingsverbände für Bargeld für alle einsetzen würden – vom Flüchtling bis zum “Hartz IV”-Empfänger. Ich stehe dem Lobbyismus für Einzelinteressen generell skeptisch gegenüber, das gebe ich gern zu. Aber vielleicht kommen wir ja noch zu diesem Punkt, dass es einen öffentlichen Aufruf verschiedenster Interessengruppen gibt, die sich für alle sozial Schwachen stark machen.
Beste Grüße,
Dennis Riehle
Ich schließe mich an, dass die Rede von „Schützlingen“ nicht angebracht ist, wenn man über erwachsene und mündige Bürger spricht. Allerdings frage ich mich doch, wem man das jetzt zum Vorwurf machen möchte, weil ein Einzelner ein ungünstiges Wort wählt. Weder ist klar, ob und zu welcher Gruppierung derjenige zählt, noch ist es eine offizieller Aussage der Gruppe. Spontan fällt mir vom Bündnis Abschiebestopp niemand ein, der diese Worte wählen würde.
Herr Riehle, Sie machen sich denke ich nicht unbeliebt, allerdings kann ich ihre Aussagen trotzdem nicht so ganz nachvollziehen. Ich finde, man kann das eine tun ohne das andere zu lassen. Im Endeffekt laufen ihre Aussagen darauf hinaus, dass man lieber das gesamte System ändern sollte (Gutscheine generell verbieten; keine politische Arbeit in den Landkreisen sondern auf Bundesebene) und so lange das nicht der Fall ist, macht man gar nichts. Ich halte das ehrlich gesagt für wenig realistisch und es liegt ja nicht an einem mangelnden Willen der Unterstützer*innen. Sie werden sicherlich von allen die Aussage bekommen, dass auch gutscheine für Hartz-IV-Bezieher abgelehnt werden, aber das ist halt ein Themenbereich, zu dem die Flüchtlingsgruppen nicht arbeiten. Erstens gibt es hier schon noch einen gravierenden Unterschied, nämlich dass Flüchtlinge die Gutscheine anlasslos erhalten, Hartz-IV-Bezieher hingegen als eine Art Strafe. Davon völlig unabhängig ist natürlich, was man von diesen Strafen hält und ob es sie geben sollte, aber es hat einen anderen Hintergrund. Und wenn wir über Flüchtlingsarbeit reden ist es mühselig, auch noch die gesamte Hartz-IV-Kritik als Fass aufzumachen, so berechtigt wie diese natürlich auch ist, aber das ist ein riesiges sozialpolitisches Feld, was nicht mal eben von einer lokalen Initiative geändert werden kann. Die Umstellung auf Geldleistungen von Flüchtlingen obliegt aber dem Landrat und kann sehr wohl von lokalen Initiativen beeinflusst werden, wie man ja an den Berichterstattungen der letzten Zeit ablesen kann.
Auch würden wir gerne die genrelle Asylgesetzgebung ändern und das Sachleistungsprinzip generell abschaffen, allerdings muss man doch realistisch genug sein und sehen, dass dies unter der neuen Regierung nicht passieren wird. Und sollen wir daher 4 Jahre Stillstand einfach hinnehmen, obowohl wir auch im Rahmen dieser Gesetzgebung bereits jetzt Verbesserungen für die FLüchtlinge erreichen können?
Nein, eine Umstellung auf Geldleistungen für Flüchtlinge muss jetzt sofort kommen und trotzdem sollte man nicht aufgeben und die generelle Asylgesetzgebung verändern und verbessern wollen – Da sind ja noch viele Konfliktfelder offen wie beispielsweise die Residenzpflicht, Dublin II, Frontex und Eurosur.
zu 2.) Petition
Auf die Gefahr hin, dass ich mich unbeliebt mache:
Ich habe als Sprecher der Humanistischen Alternative Bodensee zwar das Unterstützungsschreiben, das bereits vor einiger Zeit in Umlauf ging, unterzeichnet. Die aktuell vorliegende Petition, zu deren Unterschrift aufgerufen wird, werde ich jedoch nicht unterstützen, da ich im Petitionslaut sachliche Fehler einerseits, die zu populistischer Verzerrung führen können, erkennen kann. Andererseits scheint mir insgesamt aber auch der Adressat der Petition falsch zu sein. Diese Einschätzung treffe ich auf Grundlage folgender Abwägungen:
Zunächst einmal formuliert die Eingabe, dass mit der Ausgabe von Gutscheinen eine Unterscheidung zwischen „(guten?) Deutschen und angeblich unzuverlässig und damit zu bevormundenden Menschen“ vollzogen werde. Hierbei wird möglicherweise bewusst verschwiegen, dass auch Deutsche von der Versorgung mit Sachgutscheinen betroffen sein können – beispielsweise bei sogenannten „Hartz IV-Sanktionen“ oder in bestimmten Regelfällen der Sozialhilfe. Somit wird das Gutscheinwesen in Deutschland nicht nur auf Asylbewerber und Flüchtlinge angewandt, der Diskriminierungsvorwurf scheint mit dieser Betrachtungsweise kaum haltbar.
Ich persönlich halte Sachgutscheine in der Gesamtheit für nur schwerlich mit unserer Verfassung vereinbar. Tatsächlich nehmen sie den betroffenen Menschen die Freiheit zur Selbstbestimmung und schränken einen Leistungsbezug auf bestimmte Sachleistungen (wie Essen und Kleidung) ein. Sie führen Menschen in der Öffentlichkeit erkennbar vor und stempeln sie als Personen zweiter Klasse. Dies verträgt sich weder mit dem Grundgesetz, noch mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf Anspruch eines sozio-kulturellen Existenzminimums, was beispielsweise jedem Bürger auch das Anrecht auf Teilhabe am öffentlichen Leben, an Bildung, Kultur und Information zusichert, das durch Lebensmittelgutscheine u.a. nicht gedeckt werden kann. Allerdings hat der Gesetzgeber hieraus (was ich als eigentlichen Skandal wahrnehme) bisher noch keine eindeutigen Schlüsse gezogen. Deshalb bleibt die Rechtslage undurchschaubar, subsidiär und willkürlich – und damit die Anwendung des Gutscheinwesens bis auf Weiteres – vollkommen unverständlich – legitim, was ich als Affront gegen unser Grundgesetz bewerte.
Der Verweis auf den bereits publizierten und zur Anwendung empfohlenen Entwurf zum Flüchtlingsaufnahmegesetz wäre in der Debatte insofern seinerseits diskriminierend, beschränkt er seine Forderung nach einer Auszahlung von Leistungsansprüchen in bar nur auf Flüchtlinge, was eine Beibehaltung des Gutscheinwesens für Empfänger von Sozialleistungen (u.a. nach SGB II, III, IX und XII) – und damit neuerlich eine unterschiedliche Behandlung von Flüchtlingen und sonstigen sozial Bedürftigen – zur Folge hätte. Auch der Hinweis auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, wonach eine „Relativierung der Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu rechtfertigen“ sei, führt in diesem Zusammenhang in die Irre. Denn würde man im Gutscheinwesen einen Verstoß gegen Art. 1 GG sehen (worüber zweifelsohne trefflich diskutiert werden kann), so wäre dies keine „migrationspolitische“ Angelegenheit, sondern eine Frage, die für alle Empfänger von sozialen Leistungen in Form von Gutscheinen von Bedeutung wäre.
Insofern rate ich den Initianten der Petition, den Gesetzgeber zum Beschluss einer eindeutigen Rechtsgrundlage aufzufordern, die entweder zunächst die Legitimität des Gutscheinwesens bestätigt und danach allenfalls durch die obersten Gerichte geprüft werden müsste; oder sie regelt die insgesamte Abschaffung der Abgabe von Leistungen in Gutscheinform für alle Menschen (was nach meinen Vorstellungen eher den Auffassungen aus den bisherigen Urteilen zu Art. 1 GG u.a. entsprechen würde). Die Eingabe an einen einzelnen Landrat erachte ich als wenig zielführend, da durch unterschiedliche Entscheidungen einzelner Landkreise die Rechtslage immer diffuser wird. Das kann nicht im Sinn der Flüchtlinge und ihrer Unterstützer sein, denen sicherlich auch im Blick auf die Solidarität mit Asylsuchenden in anderen Landkreisen daran gelegen sein dürfte, sich auf eine flächendeckend einheitliche und verbindliche Regelung berufen zu können. Dies gilt im Übrigen auch für Unterbringung und Arbeitserlaubnis – hier sind die zuständigen Gesetzgeber in Land und Bund gefragt, auf die nachhaltig Einfluss genommen werden sollte.
Der Kommentar von Dennis Riehle zeigt für mich exemplarisch, was an der Unterstützungsarbeit für die Flüchtlinge (zumindest in Konstanz, aber auch andernorts) grundsätzlich falsch läuft:
Zum einen zeugt schon die Rede von „Schützlingen“ von einer paternalistischen Einstellung, die erwachsenen und mündigen Personen gegenüber schlicht unangemessen ist — genauso wie das Bedürfnis, geflüchteten Menschen erstmal ordentliches Benehmen in der Öffentlichkeit beibringen zu wollen (habe ich in Unterstützer*innen-Gruppen schon öfter erlebt).
Zum anderen: Wenn das Gutscheinsystem im Namen der (Wahl-)Freiheit und Gleichheit des Individuums kritisiert wird, dann muss mensch halt auch damit leben, wenn sich die Leute für den Kauf/Konsum von Alkohol usw. entscheiden. Das gerade den Flüchtlingen im Namen eines von der Unterstützer*innen-Gruppe formulierten höheren „Anliegens“ verbieten zu wollen, scheint mir auch schon wieder rassistisch zu sein.
Schon klar: um mit bürgerlicher Flüchtlingshilfe, die sich immer im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Grundordnung bewegt, etwas erreichen zu können, braucht es letzten Endes die Gunst derer, die an den Hebeln sitzen (Landrat; OB; Pfarrer, die Kirchenasyl gewähren usw.) und die Dinge „von oben“ verändern können. Da passen „pöbelnde“, trinkende und streitende Flüchtlinge natürlich nicht so gut ins (heile Welt-)Bild…
Den Verdacht am Ende halte ich für vollständig berechtigt: in vielen Fällen werden die Flüchtlinge von ihren „Unterstützer*innen“ ganz offensichtlich nur als Projektionsfläche für die eigenen Sehnsüchte benutzt — daher wahrscheinlich die große Enttäuschung, wenn sich zeigt, dass es halt doch nur ganz normale Menschen sind, die sich auch mal streiten, betrinken usw. wie so ziemlich jeder andere Mensch eben auch.
Zum Weiterlesen: jungle-world.com/artikel/2013/50/49005.html
Ich war heute selbst im Landratsamt und zeige mich enttäuscht darüber, dass eine nicht geringe Zahl der anwesenden Flüchtlinge leider die Gelegenheit genutzt hat, vorherrschende Klischees zu bedienen und Kritiker in manchen populistischen Vorurteilen zu bestätigen.
Selbst einige Unterstützer, die vor dem Landratsamt warteten, schienen unzufrieden mit dem Verhalten diverser Flüchtlinge. „Solche Pöbeleien helfen unseren Anliegen nicht“, hörte ich von einem jüngeren Aktivisten auf dem Benediktinerplatz, als einige seiner „Schützlinge“, wie er sie bezeichnete, offenbar untereinander uneins waren und begannen, Bürger, die aus dem Amt kamen, lautstark anzuhalten. Ein anderer Begleiter rief einem Kollegen zu: „Sie sollen die Flaschen wegtun“. Böse Zungen fühlen sich bei solchen Eindrücken sicherlich versucht, das Gutscheinwesen neuerlich zu verteidigen – „um den Missbrauch von Bargeld für den Kauf von Alkohol etc. zu verhindern“, wie es auch heute wieder in der Diskussion am Rande der Kreistagssitzung verlautbarte.
Gerade, weil ich großes Verständnis für die unzumutbare Situation der Flüchtlinge habe, empfand ich es als überaus missglückt, dass solche Szenen pauschalisierenden Haltungen gegenüber Vorschub geleistet haben. Besonders, weil hier eine Atmosphäre von einigen Wenigen geschürt wird, die keinesfalls repräsentativ ist. Allerdings wurde auch spürbar, wie groß die Resignation vieler Flüchtlinge ist – wenngleich sich heute für mich auch offenbarte, dass nicht alle Forderungen der Flüchtlinge mit denen ihrer Unterstützer konform gehen. Daher sollte der Appell zur Einigkeit nochmals wiederholt werden – denn nichts wäre schlimmer, als der Verdacht, dass die Initianten die Lage der Flüchtlinge für Eigeninteresse, Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit ausnutzen.