Wohnen ist nicht Ware, sondern Menschenrecht

Nach jahrelanger Ignoranz gegenüber der Wohnungsnot in Konstanz ist der Gemeinderat jetzt richtig aufgewacht, und es kann ihm gar nicht schnell genug gehen mit all den Neubauten. In einer zweistündigen Sondersitzung am Donnerstag ließ sich der Rat von der Verwaltung über das Handlungsprogramm Wohnen in Konstanz informieren – und übte sich schon mal ein wenig in Wahlkampfgetöse

Dass sich Gemeinderat und Verwaltung Zeit für eine Sondersitzung nahmen, zeigt, dass die bereits seit Jahren bestehende massive Wohnungsnot breiter Teile der Bevölkerung endlich auch der Politik bewusst geworden ist. Wenn, wie es aus der CDU tönte, selbst leidlich wohlhabende Familien mit mehreren Kindern auf dem hiesigen Wohnungsmarkt nichts Adäquates mehr finden, kriegen selbst die eingefleischesten Vertreter vom freien Markt langsam kalte Füße, denn dann geht es so langsam auch ihrer Klientel an den Geldbeutel, und da hört ja bekanntlich jeder Spaß auf.

Fast wie in Woodstock

Spaß hingegen machte es an diesem Nachmittag, Herbert Weber (SPD) zuzuhören, denn der nahm sich Oberbürgermeister Uli Burchardt lauthals zur Brust. Uli Burchardt hatte sich einleitend einen rhetorischen Schlenker in die Stadtgeschichte gestattet und darauf verwiesen, dass Konstanz 1414 bei der Eröffnung des Konzils 6.000 Einwohner gehabt habe, aber aufgrund der Besucherscharen bald bis zu 20.000 Menschen beherbergen musste. Dabei müsse es wie in Woodstock hergegangen sein, aber es habe irgendwie geklappt. Heute aber funktioniere Wohnen in Konstanz nicht mehr, und deshalb habe er vor einigen Monaten das „Handlungsprogramm Wohnen in Konstanz“ vorgelegt. Er verwies ausdrücklich darauf, dass es sich dabei vorerst um ein Stück Papier handele, um nichts weiter als einen Plan, wie man vorgehen wolle, um in den nächsten Jahren eine ausreichende Zahl an Wohnungen zu bauen.

Damit war er bei Herbert Weber, nicht nur SPD-Stadtrat, sondern auch Vorsitzender des Bodensee-Mietervereins, an den Richtigen geraten. Der beklagte, dass die Verwaltung sich nicht bewegt und nicht mal eine Vorlage für diese Sitzung verfertigt habe. Er forderte, endlich praktische Schritte zu unternehmen und mit der Beratung über einzelne Bauvorhaben zu beginnen, statt weiter irgendwelche Pläne zu debattieren. Auch Roger Tscheulin (CDU), der es immer wieder unvermittelt schafft, die Satzenden so leise in sein Mikrophon zu nuscheln, dass sie die Zuschauer und -hörer erraten müssen, beklagte, dass laut der Bevölkerungswachstumsprognose die Spitze der Wohnungsnachfrage in den Jahren bis 2015 liege, und bis dahin komme man garantiert mit allem zu spät.

Uli Burchardt hingegen erwies sich als ein Mann der planenden Vernunft und vertrat die Meinung, man müsse sich an den Plan halten und zuerst einmal die nötigen Grundsatzbeschlüsse fällen statt über einzelne mögliche Bauflächen zu debattieren, ohne eigentlich zu wissen, wie und für wen man bauen wolle. Ein derartiges Verfahren, wie es offenkundig zahlreichen Gemeinderätinnen und -räten vorschwebte, hieße, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun und dann die Grundsatzdebatte bei jedem Einzelschritt wieder zu beginnen. Er wollte in dieser Sondersitzung die Rahmenbedingungen für den Konstanzer Wohnungsbau debattieren, und dabei vor allem die Bodenpolitik in den Mittelpunkt stellen. Bei dieser Aussicht stoben manchen Ratsmitgliedern vor Tatendrang die Funken aus den Ohren, denn sie hätten an diesem Tage nur zu gern und am liebsten einstimmig ein paar Bauplätze freigegeben und Sozialwohnungen beschlossen, statt in der Finsternis des Bodenrechts herumzuirren, die so dicht ist, dass auch die wohlmeinendsten Wähler die Volksvertreter gar nicht mehr sehen können.

Das Konstanzer Grunderwerbsmodell

Marion Klose, Leiterin des Amtes Amt für Stadtplanung und Umwelt, Christoph Sigg vom Hochbau- und Liegenschaftsamt sowie Josef Wiemers, bei der Stadt zuständig für Grundstückswertermittlung und Bodenordnung, umrissen das seit 1985 praktizierte Konstanzer Grunderwerbsmodell, mit dem die Stadt versucht, den Wohnungsbau zu steuern und eine möglichst spekulationsfreie Bodenvorratshaltung zu betreiben. Insbesondere Marion Klose betonte, für einen gelungenen Wohnungsbau müsse der Gemeinderat klare Grundsätze vorgeben, sonst sei das Ziel von 400 neu errichteten Wohneinheiten pro Jahr nicht zu schaffen. Sie forderte mehr Personal und beschwor den Gemeinderat, bloß nicht am Flächennutzungsplan zu rütteln. Erste handfeste Ergebnisse stellte sie für das erste Quartal 2014 in Aussicht, denn der Planungsprozess sei nicht nur kompliziert, sondern müsse zudem noch ständig mit dem Regierungspräsidium abgestimmt werden, das das letzte Wort habe.

Das Konstanzer Grunderwerbsmodell wurde dann von Josef Wiemers in einem fachkundigen und äußerst faktenreichen Vortrag mit dem Münchner Grunderwerbsmodell verglichen, und das Augenrollen vieler Gemeinderätinnen und -räte bewies, dass auch hier wieder einmal ein Fachmann bei allem Fleiß und aller guten Absicht misslungene Politikberatung betrieb, indem er haufenweise detaillierte Kostenaufstellungen auf die Bildwand zauberte, die keinem im Raum beim Verständnis des Modells und seiner Stärken oder Schwächen im Vergleich mit anderen Modellen half.

Beim Grunderwerbsmodell geht es, kurz – und hoffentlich nicht allzu falsch?! – gesagt, um folgendes: Wenn es irgendwo unbebaute Flächen gibt, die zu Bauland werden sollen, setzt für gewöhnlich eine erhebliche Bodenspekulation ein, weil massive Wertsteigerungen zu erwarten sind. Während ein Quadratmeter Wiese für 5 Euro zu haben ist, kostet ein Quadratmeter erschlossenen Baulandes schnell 500 Euro. Außerdem fallen für die Stadt ganz erhebliche Erschließungskosten von Straßen bis hin zu Kindergärten an. Die Frage ist also, wie Kosten und Profite zwischen den privaten Grundstücksbesitzern und der Stadt verteilt werden sollen.

In Konstanz praktiziert man ein eigenes Modell mit dem Ziel, die Grundstückspreise zu dämpfen, zu einer zügigen Bebauung der ausgewiesenen Flächen zu kommen und gewünschte Zielgruppen mit Bauland zu versorgen (welche Zielgruppen das sind, blieb übrigens unerwähnt). Mit einem ganzen Bündel an rechtlichen Vorgaben wie einem Vorkaufsrecht geht die Stadt daran, in Gegenden, die der Flächennutzungsplan als Bauland ausweist, billig Grundstücke zu erwerben. Sobald der Stadt nach Jahren oder manchmal auch Jahrzehnten 60% der Grundstücke in dem entsprechenden Gebiet gehören, gibt es dann einen Bebauungsplan. Anschließend verkauft die Stadt die Grundstücke in ihrem Besitz an Bauherren weiter und kann so die Bodenpreise selbst bestimmen und niedrig halten. Außerdem erlegt sie den Grundstückserwerbern auch eine Baupflicht auf, damit die das Grundstück nicht einfach leerstehen lassen, um es später mit Gewinn verkaufen zu können.

Wiemers führte in etwa 20 Folien detailliert und bis auf zwei Nachkommstellen genau aus, wie sich die einzelnen Faktoren in Heller und Pfennig nach dem Konstanzer und nach dem Münchner Grunderwerbsmodell entwickeln. Mit dieser gut gemeinten und äußerst fleißig vorbereiteten Faktenparade hatte er die Aufmerksamkeit der meisten Gemeinderätinnen und -räte schnell verloren, und auch die Zuhörerschaft wand sich gequält in ihren Sesseln.

Unter all den in ihrer Menge hirnerweichenden Zahlen zu Nettobauland-Summen, Geschossflächenzahlen und der Lastenverteilung mit den Planungsbegünstigten für Ausgleichsflächen im Umgriff und per Ökokonto wurde nämlich schnell klar, dass Wiemers dem Rat die Antwort auf alle wichtigen Fragen schuldig bleiben würde. Diese Fragen sind: Funktioniert das Konstanzer Grunderwerbsmodell, erlaubt es eine schnellere Baulandentwicklung, verhindert es Bodenspekulation? Muss aus Sicht der Fachleute aus der Verwaltung an diesem Modell etwas geändert werden, um es im Sinne des Handlungsplanes effektiver zu machen? Auch Marion Klose monierte beispielsweise ausdrücklich, dass es in Konstanz keine „baulandpolitischen Grundsätze zur sozialen Mischung“ gebe, half dem Rat aber auch nicht mit einem klaren Beschlussvorschlag weiter.

An diesem Nachmittag haben Verwaltungsfachleute und Politikvertreter oft aneinander vorbei geredet. Die Politik wünschte sich griffige und allgemeinverständlich formulierte Entscheidungshilfen, während die Fachleute versuchten, durch einen Haufen Fakten im Schnelllehrgang aus Politikern mündige Fachleute zu machen, die ihre Entscheidungen selbst treffen können, weil sie ja hunderte Kennzahlen gehört haben. Die Experten sollten in Zukunft genauer instruiert werden, wie sie in solchen Situationen ihr geballtes Wissen effektiver und in einer für den Gemeinderat und die Öffentlichkeit auch wirklich nützlichen Form präsentieren können.

Was hat eigentlich der Gemeinderat all die Jahre gemacht?

Selbstkritische Töne vermisste man übrigens bei den Gemeinderätinnen und -räten: Bei allem Tatendrang und aller Entscheidungswut tat niemand sein Bedauern kund, nicht schon vor fünf oder mehr Jahren lautstark einen Antrag zur Wohnungsnot eingebracht und ein massives Gegensteuern gefordert zu haben, sondern die Gemeinderätinnen und -räte schienen in der Debatte entschlossen, vor allem der Verwaltung die Schuld zuzuschieben.

Holger Reile (Linke Liste) holte zu einem Grundsatzreferat aus und führte den für viele Menschen existenzbedrohenden Mangel an bezahlbarem Wohnraum nicht nur auf die steigenden Einwohnerzahlen, sondern auch auf die Standortkonkurrenz der Kommunen untereinander zurück. Weitere Ursachen sah er in der Vergabe von Filetstücken ausschließlich für „gehobenes“ Wohnen oder der sinnfreien Ausweisung von Flächen etwa für das gescheiterte Kompetenzzentrum. Er forderte ein radikales Umdenken, da die steigende Armutsgefahr für viele Menschen existentiell bedrohlich sei. Es sei jetzt endlich an der Zeit für eine Politik, die Wohnen als ein Recht für alle Menschen betrachte. Die Politik setze auf Marktkräfte und Profite statt auf Daseinsvorsorge, und habe so den derzeitigen Schlamassel verursacht. Er forderte im Namen der Linken Liste eine massive finanzielle Förderung des Wohnungsbaus durch die öffentliche Hand und erwartet von der Wobak, dass sie nicht mehr in Eigentumswohnungen zum Verkauf und ins Luxussegment investiert, sondern sozialen Wohnungsbau betreibt, wofür man ihr ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stellen müsse. „Wohnen ist nicht Ware“ rief er in Richtung der bürgerlichen Fraktionen mit Elan aus, „sondern ein Menschenrecht.“

Das blieb natürlich nicht unwidersprochen. Jürgen Faden (FWK) brach eine Lanze für die Wobak: Nach seiner Meinung braucht die Wobak Gewinne aus dem Verkauf von Immobilien, um damit ihre sozialen Aufgaben finanzieren zu können. Außerdem schien ihm der Ruf nach der öffentlichen Hand nicht ganz geheuer, denn er wies eigens darauf hin, dass 60% der Mietverhältnisse in Konstanz mit privaten Bauherren bestünden. Er forderte ganz in deren Sinne auch, im Grunderwerbsmodell davon wegzukommen, dass niemand bei Grundstücksgeschäften profitieren solle. Dass vermutlich genau diese Profitgier eine wesentliche Ursache für die Mietexplosion und den Mangel an bezahlbarem Wohnraum sein dürfte, vergaß er allerdings zu erwähnen.

Roger Tscheulin (CDU) schließlich warf seinem anerkannten Lieblingsfeind Holger Reile vor, der habe die Verstaatlichung des Wohnungssektors gefordert, und dabei habe er, Tscheulin, sofort das Bild der DDR-Plattenbauten vor Augen gehabt. Immerhin haben Tscheulins Visionen einiges für sich: Wenn man den zusammengebrochenen Konstanzer Wohnungsmarkt betrachtet, wäre man heilfroh, wenn derzeit irgendjemand ein Modell auf Lager hätte, mit dem man derart effektiv wie zu DDR-Zeiten eine große Menge bezahlbarer Wohnungen auf die Äcker Wollmatingens zaubern könnte.

Autor: O. Pugliese