Wohnungen fallen scheint’s doch nicht vom Himmel

Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist für Menschen mit normalen Einkommen eine existenzielle Last. Daher kommt auch kleineren Bauvorhaben wie der Jungerhalde West eine große Bedeutung zu. Hier könnte es zu einer Richtungsentscheidung in der städtischen Baupolitik kommen – will die Stadt wie gehabt SpekulantInnen füttern, will sie sich um Wohnraum für ihre BürgerInnen kümmern oder möchte sie die Landschaft unverbaut erhalten? Die Stadtverwaltung gibt sich einsichtig, die Stadtpolitik ist uneins.

Es ist auch mit der Jungerhalde das alte Lied: Wohnungsbau ist herzlich willkommen, aber bloß nicht in meiner Nähe, weil die ja ökologisch mindestens so hypersensibel ist wie meine esoterische Lebensgefährtin. Pflegeheime, logo, die brauchen wir ganz dringend, aber doch nicht mitten in der Stadt – und außerhalb der Stadtmitte schon gar nicht, das können wir doch den Alten nicht zumuten, da könnten wir sie ja gleich abmurksen. Alle wollen regenerative Energien ins Haus bekommen, aber niemand ein Windrad vor seiner Tür stehen haben.

Ist die Psyche des lautstärkeren Teils der Konstanzer BürgerInnenschaft wirklich derart einfach wie widersprüchlich gestrickt, oder geht es hinter den hohen Stirnen zumindest unserer LokalpolitikerInnen ein bisschen differenzierter zu? Es spricht einiges für die letztere Annahme.

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2040 über 100.000 EinwohnerInnen?

Die Debatte über die „Kleinräumige Bevölkerungsvorausrechnung Stadt Konstanz“ bot dem Gemeinderat Gelegenheit zu einer Aussprache über die Konstanzer Wohnungs(bau)politik bis 2040, denn natürlich ist die EinwohnerInnenzahl eine wichtige Kennziffer für den Wohnungsbedarf, genauso wie das Wohnungsangebot wiederum über den Zu- oder Wegzug von Menschen insbesondere der unteren Einkommensklassen entscheidet. („Dialektik“ nannte Hegel das.)

Im Gutachten hört sich das so an: „Knappheit auf dem Wohnungsmarkt führt in erster Linie zu erhöhten Fortzügen von Haushalten in das Umland und erst in zweiter Linie zu geringeren Zuzügen nach Konstanz. Umgekehrt führen Entlastungen auf dem Wohnungsmarkt vor allem zu einer Reduktion der Fortzüge in das Umland und nur in geringem Maße zu vermehrten Zuzügen in die Stadt. So haben bei einer Befragung zu ihren Wanderungsmotiven im Jahr 2011 fast 70% der fortziehenden Familienhaushalte angegeben, dass sie gerne in Konstanz geblieben wären.“ Kurzum: Diese Menschen, die nach Markelfingen, Engen oder Ebstorf flohen, wären gern hiergeblieben, aber sie konnten es sich einfach nicht mehr leisten, in Konstanz zu wohnen, und in diese Lücke stießen besser verdienende Menschen von außerhalb. Klassenkampf findet natürlich auch auf dem Wohnungsmarkt statt, und statt „Der Nächste bitte“ heißt es nicht nur beim Arzt, sondern auch auf dem Wohnungsmarkt schon längst „Der Reichste bitte“. Woran die Stadt Konstanz nicht ganz unschuldig ist, aber dazu später.

11,1 Prozent Wachstum

Die Statistiker von empirica, die die Stadt Konstanz alle paar Jahre mit einer neuen EinwohnerInnenprognose versorgen, konstatieren, dass die Bevölkerung seit 2008 kontinuierlich gewachsen ist, und zwar um insgesamt 11,1 Prozent. „Ende 2019 wohnten 86.332 Menschen in der Stadt Konstanz, für das Jahr 2020 ist aufgrund der Corona-Pandemie von einem Rückgang der Bevölkerung auf ca. 86.100 EinwohnerInnen auszugehen.“ In den Folgejahren dürfte die Einwohnerzahl wieder wachsen, so dass 2040 zwischen rund 94.000 und 100.000 EinwohnerInnen in Konstanz untergebracht werden wollen. Was genau geschieht, bleibt offen: Natürlich weiß niemand, wie sich Corona und ein eventuell durch die Seuche bedingter wirtschaftlicher Einbruch auf die Einwohnerzahlen auswirken könnten, aber die langfristigen Trends für Schwarmstädte wie Konstanz sind absehbar: Sie werden auch weiterhin boomen, sei es zwei Jahre früher, sei es zwei Jahre später.

Als Grund für kurzfristig sinkende Einwohnendenzahlen ist übrigens neben den Coronatoten auch zu bedenken, dass an der Uni viele Veranstaltungen online stattfinden, so dass manche Studierenden gleich bei ihren Eltern wohnen bleiben, statt an den See zu ziehen. Ludger Baba, einer der Autoren des Gutachtens, wies ausdrücklich darauf hin, dass Universitätsstädte auch deshalb wachsen, weil zwar der größte Teil der Studierenden nach dem Studium wegziehe, aber manche eben doch ihren Lebensmittelpunkt am Studienort finden und beibehalten, weil sie dort Jobs finden und Familien gründen.

Eins ist, das ergab die anschließende Debatte, der Lokalpolitik durchaus klar: Mehr EinwohnerInnen brauchen mehr Infrastruktur: Kitas, Schulen, Busse, Kläranlagen, Pflegeheime, einfach die volle Lotte. Das heißt natürlich auch: Ohne Moos nix los. Selbst der sonst so staatstragende Roger Tscheulin (CDU) mahnte, dass Konstanz gerade auf das Wachstum der Altersgruppe über 65 schlecht vorbereitet sei, hier müsse dringend etwas geschehen. Recht hat er, denn es braucht offenkundig mehr Pflegeplätze.

Erfrischend selbstkritisch

Einen wichtigen Beitrag leistete Ewald Weisschedel (FWK): Angesichts der seit langem steigenden Wohnungsnot hätten „wir“ – er meinte wohl den gesamten Gemeinderat, sich selbst eingeschlossen, plus die Verwaltung, – viel zu spät angefangen, [endlich wieder] sozialen Wohnungsbau zu betreiben. „Derzeit entstehen massenhaft Reihen- und Einfamilienhäuser um die Dörfer im Hegau, und das ist ökologischer Wahnsinn. Darum müssen wir den Geschosswohnungsbau in der Jungerhalde entwickeln, der vom Platzbedarf, energetisch und vom Pendlerverkehr her viel besser ist als Eigenheime im Hegau. Einzelhäusle mit dem Garten drumherum sind Schnee von gestern.“ Weisschedel, der im Gemeinderat immer gut mit Herbert Weber (SPD und Mieterverein) gut konnte, ist es hoch anzurechnen, dass er so selbstkritisch sprach. Derartige Ehrlichkeit ist in der Politik selten.

Den wichtigsten (und emotional anrührendsten) Beitrag lieferte Peter Müller-Neff (FGL). Seine Fraktion ist natürlich in Gewissensnot, denn ein Stück freier Fläche zu bebauen, mordet das ökologische Gewissen, während die Wohnungsnot das soziale Gewissen schwer belastet (mal vorausgesetzt, die Grünen hätten ein solches). Die Frontenstellung in Konstanz scheint derzeit ja eindeutig zu sein: Öko & Allmannsdorf auf der einen Seite gegen die Jungerhalde, der Rest von rechts bis links auf der anderen Seite pro Jungerhalde.

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Euer Ehren

Der ehrenwerte Peter Müller-Neff jedenfalls war sichtlich angefressen, als er seinen Beitrag begann. Es ist immer wieder überraschend, wie sehr sich Menschen gerade in der Politik Dinge zu Herzen oder gar persönlich nehmen, Menschen wohlgemerkt, die verdammt gut austeilen können. Aber davon ab, Müller-Neff hatte tatsächlich was zu sagen. „Ich will nicht streiten, aber manchmal muss man streiten. Wir von der FGL wollen keine Käseglocke [das heißt den Stopp jeglicher Neubauten], wir wollen auch nicht, dass die Leute wegziehen müssen, das ist alles Polemik. Wir haben das Handlungsprogramm Wohnen 2014 beschlossen. Inzwischen haben wir den Klimanotstand ausgerufen, wir diskutieren über Klimawandel, Artenvielfalt und Landschaftsverbrauch. Im Hapro Wohnen planen wir 8.100 weitere Wohneinheiten für 15.000-20.000 Menschen, damit kriegen wir doch schon weit über 100.000 Einwohner. Brauchen wir da tatsächlich noch weitere Flächen außerhalb des Flächennutzungsplanes? Es ist eine Diffamierung, der Bürgervereinigung Allmannsdorf Staad zu unterstellen, das seien Egoisten, die ein Häuschen haben und anderen keins gönnen. ‚Die denken nur an sich‘ ist ein Totschlagsargument. Man darf Menschen, die Natur und Städtebau gegeneinander abwägen wollen, nicht unterstellen, dass sie nur an sich dächten. Wir haben natürlich auch Fehler gemacht: Die Stadt hätte mindestens die Hälfte des Siemens-Geländes kaufen und bebauen sollen, aber damals haben wir gedacht, die Stadt sei damit überfordert. Wir haben auch mit dem Vincentius einen Fehler gemacht, als wir es einfach an die Bank vergeben haben. Man hätte bessere Möglichkeiten gehabt, geförderte Wohnungen zu errichten, und diese Gelegenheiten haben wir versäumt. Aber wir haben andere Flächen überplant wie den Hafner, und dem zuzustimmen ist uns Grünen sehr schwergefallen. Ursprünglich wollten Sie [meint wohl die SPD] ja auch den Schwaketenwald abholzen, aber das Regierungspräsidium hat gefordert, dass wir erst mal die schon geplanten Flächen bebauen sollen. Nach unserer Meinung haben wir jetzt genügend Flächen für den Wohnungsbau bereitgestellt. Die Frage nach den Grenzen der Siedlungsfläche ist aus unserer Sicht durchaus berechtigt.“

Ein ehrenwerter Beitrag, denn Müller-Neffs Argumente sind nicht schlecht. Seit Jahren erlebe ich als Linker übrigens, dass sich Grüne bei mir „privat“ entschuldigen, dass sie damals (aus meiner Sicht, ich kann’s nicht verhehlen: wider jegliche Vernunft) die Auslieferung des Vincentius- und des Siemens-Geländes an Spekulanten mitgetragen haben. Müller-Neff redet um diese Fehler nicht herum, dafür gebührt ihm meine Hochachtung. Über den Rest können wir uns – Visier hoch! – wie die Besenbinder streiten, als seien wir vernunftbegabte Wesen. Besserung von den Grünen ist übrigens ausdrücklich erwünscht.

Gut war auch Susanne Heiß (FWK), die daran erinnerte, „dass es nicht nur um Wohnungen geht. „Wir brauchen bis 2030 allein 400-500 Kita-Plätze, rund 1000 Grundschulplätze und 2000 Plätze an weiterführenden Schulen zusätzlich. Für die Senioren über 80 brauchen wir auch 2000 Plätze. Wie schnell können wir diese Einrichtungen bauen und wie können wir die bezahlen?“ Es lässt sich nicht anders sagen: Zeit wird’s, Gemeinderat aufgewacht!

Immer recht

Und was sagt die Verwaltung dazu? Dazu stieg Bürgermeister Karl Langensteiner-Schönborn ans Mikrophon: „Wir müssen nachverdichten, wo es sinnvoll ist, und außen bebauen, wir brauchen beides. Dabei müssen wir auf Freiräume achten. Im Siemens-Areal sind von 7 Hektar immerhin 2 Hektar Freiraum. Das ist schon luxuriös. Das HaPro Wohnen hat 7.900 Wohneinheiten, und bei diesem Markteingriff wollen wir alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen. Wir haben hier 3.700 Wohneinheiten, bei denen wir rein rechtlich zugunsten bestimmter Zielgruppen eingreifen dürfen und das tun wir auch. Darunter sind 2.000 geförderte Wohnungen. Wir haben damit die Ziele, die wir uns quantitativ und qualitativ gesetzt haben, erreicht. Wir denken bei allen Neubauprojekten auch an Kitas und Schulplätze und haben am Weiherhof gerade einen großen Schlag in Sachen Pflegeheime gemacht. Was das Döbele anbelangt: Wir wollen den Brückenkopf Nord zuerst ausbauen, um dann den Verkehr vom Döbele dorthin zu verlagern und dann das Döbele zu entwickeln. Erst wenn die Reisebusse vom Döbele weg sind, können wir das Döbele abräumen. Wir treiben das Parkhaus am Brückenkopf mit 800 Stellplätzen voran und werden dazu in den nächsten Wochen einen Bauantrag stellen. Es stimmt nicht, dass es einen Trend aufs Land gibt, nach unserer Erfahrung nehmen die Menschen eine familiengerechte Wohnung mit Freiräumen drumherum genauso gut an. Wir haben ja auch am Zähringer Hof überschaubare Innenräume, die für Kleinkinder extrem gut geeignet sind. Wenn wir das HaPro Wohnen wie geplant umsetzen, können wir für Familien attraktiv sein.“

Am Ende

Letztlich hat diese Debatte klar aufgezeigt, wer in Konstanz wie weitermachen will. Die Grünen wollen sich dem Wachstum der Stadt entgegenstemmen, für sie ist das Boot nach dem Hafner voll, die Grenzen des Wachstums sind für sie erreicht. Die anderen Interessengruppen wollen das Wachstum der Stadt verschieden ausgestalten – für sie ist klar, dass Konstanz weiterhin wachsen wird, und dass es darum geht, dieses Wachstum zu bewältigen. Das heißt natürlich, endlich bezahlbaren (!) Wohnraum zu schaffen, der allein Normalverdiener in der Stadt halten kann. Nachdem die Mehrheit des Gemeinderates mit dem Verkauf des Vincentius- und des Siemens-Areals schlichtweg Scheiße gebaut hat (nur die LLK und wenige Versprengte waren dagegen), scheint sich mittlerweile die Einsicht durchzusetzen, dass die Stadt selbst etwas tun muss, weil es der „freie“ Markt nicht richten wird. Es ist erstaunlich: Zumindest verbal klingt die heutige Wohnungspolitik der Stadt und der Gemeinderatsmehrheit genauso, wie es der Mieterbund und die LLK seit Jahren gefordert haben.

Aber warten wir‘s mal ab. Der Klassenfeind trägt stets noch ein paar Asse im Ärmel versteckt, und es lohnt sich, ungefragt noch mal draufzuhauen, weil seine Reue ja geheuchelt sein könnte. Bis zum Mieterparadies ist es auch in Konstanz noch ein weiter Weg.

O. Pugliese (Bild: Karsten Paulick auf Pixabay)