Zum Tod von Rolf Pape

Foto: © Günter Posch, 1993

Die seemoz-Nachricht vom Tode des widerständigen Querdenkers Rolf Pape verbreitete sich schnell. Vielen war der eigenwillige Mann ein Begriff. Er zählte zu den markantesten Gesichtern dieser Stadt. Grund genug auch für die hiesige Tageszeitung, an ihn zu erinnern. Doch Südkurier-Lokalchef Jörg-Peter Rau lehnte einen Nachruf strikt ab. Wen interessiert schon dieser randständige Alte, mag er sich gedacht haben. Hier ein Text von Ernst Köhler, der jahrelang mit Rolf Pape befreundet war.

„Jedes Kind entwickelt sich individuell – nach seinem persönlichen Rhythmus. Das ist ein Faktum. Das ist die Wirklichkeit, die auch niemand ernstlich bestreitet. Die Schule, so wir sie haben und wie sie heute funktioniert, schlägt aber die Kinder über einen Leisten und verlangt ihnen allen zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Leistung ab. Ganz schematisch, bürokratisch. Das ist das Notensystem. Schon diese einfache Überlegung zeigt, dass das in Deutschland praktizierte Bewertungsverfahren bodenlos und kontraproduktiv ist. Es hat keinen Halt an der Natur des Menschen.“ Das hat Rolf Pape 1979 in Tuttlingen gesagt, als dort ein Notenkonflikt an einem Gymnasium hoch kochte und in die Öffentlichkeit überschwappte. Vor 300 Schülern, Lehrern, Eltern. Unter großem, anhaltenden Beifall. Der Notenkonflikt ist vergessen, die Prägnanz und Fundiertheit dieser Worte verdienen in Erinnerung zu bleiben.

Ein paar Jahre später, als in Konstanz der „Fischmarkt“ liquidiert wird  – ein alternatives Kulturzentrum mit einer Arbeitsloseninitiative, mit dem kleinen, linken „Nebelhorn“–, tritt Rolf Pape als Zeuge vor Gericht auf. Er wendet sich in einer öffentlichen Sitzung an den ebenfalls anwesenden Konstanzer  Baubürgermeister Fischer: „Sie sagen, hier werde ja doch etwas Neues aufgebaut. Aber das ist irreführend. Wenn Sie diesen lebendigen, sozialen Treffpunkt hier abreißen, ist er weg. Definitiv weg. Sie können nichts Vergleichbares aufbauen. Das liegt überhaupt nicht in Ihrer Macht als Macher. Es ist nur der Wahn Ihrer technokratischen Hybris, der Ihnen das einredet. Sie können das Leben hier nicht wiederherstellen, wenn Sie es einmal zerstört haben. So etwas kann niemals hergestellt werden. Es kann nur wachsen.“ Der Baubürgermeister war damals sichtlich beeindruckt. So integer war der brachiale Macher immerhin. Vor allem aber war das Publikum im Gerichtssaal beeindruckt

Wie gewichtet man eine Leistung dieser Art? Oder ist es etwa keine?  Bei uns werden Menschen geehrt und ausgezeichnet, weil sie mit Anstand eine Sparkasse geleitet haben. Oder weil sie 20 Jahre lang in einem Gemeinderat tätig waren. Ihr Beitrag für das Gemeinwesen steht hier auch nicht zur Diskussion. Aber was ist mit der Leistung des Aussteigers, der diese auf ihr Funktionieren konzentrierte und oft genug auch beschränkte Gesellschaft von außen betrachtet und von außen hinterfragt? Im Fall des studierten Physikers und ruhelos autodidaktischen Zivilisationskritikers Rolf Pape mit unerschöpflicher gedanklicher Intensität hinterfragt –  und mit der Kraft einer feinen, geschmeidigen Eloquenz? Dass so jemand nicht den Ehrenring einer Stadt oder das Bundesverdienstkreuz erhält, lässt sich verschmerzen. Nicht hingegen, wenn man dem aus allen Einrichtungen und Arbeitszusammenhängen geflohenen Kritiker und Straßengelehrten den Ernst, das Niveau, die Aussage absprechen und ihn etwa zum „Original“ verharmlosen und neutralisieren wollte.

Eines drängt sich beim Nachdenken über diese jetzt zu Ende gegangene Karriere außerhalb aller kanonisierten Karrieren auf: Sie war sozusagen nackt. Sie war ungeschützt, gänzlich unabgesichert.  Sie war dem Echo, der Resonanz exponiert oder besser ausgeliefert, die sie für eine gewisse Zeit und in einem begrenzten Segment der lokalen Gesellschaft finden konnte. Man kann auch sagen: sie war brutal konjunkturabhängig. Als Rolf Pape irgendwann in den 80er Jahren einmal mit seinen stadtbekannten Krücken auf eine den Bürgersteig verstellende Limousine eingeschlagen hatte und sich dann auch vor Gericht  nicht sonderlich einsichtig zeigte, wollte man ihn – was damals noch möglich war – „entmündigen“. Ein renommierter Rechtsanwalt der Stadt hat in dieser von vielen als lachhaft unverhältnismäßig, von vielen anderen als skandalös ungerecht empfundenen Situation mehr als zweihundert schriftlich ausformulierte Proteste von Konstanzer Bürgern gesammelt. Die konzertierte Aktion mitten aus der  „Zivilgesellschaft“ hat die Justiz veranlasst, ihr instinktloses Ansinnen zumindest auf Eis zu legen.

Jahre später, Mitte der 90er, war die Ausstrahlung des alternden Gegendenkers immer noch stark genug, um einen Hörsaal in der Fachhochschule bis auf den letzten Platz zu füllen.  Das Thema des Vortrags lautete „Brauchen wir eine neue Moral?“ Vorne saßen alte Bekannte des Vortragenden aus dem Milieu der Stadtstreicher und Obdachlosen – vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben auf diesen Bänken. Weiter hinten Physikstudenten von der Universität. Eine nachgerade utopisch sortierte Zuhörerschaft, der Auftritt war sogar dem „Südkurier“ einen Bericht wert.

Aber dann hat sich die menschenverknüpfende Aura dieser souveränen und streitbaren Randständigkeit doch langsam verbraucht. Die Ära Kohl mit ihrer innenpolitischen Stagnation und Reformblockade hatte eine exzentrische Figur wie Rolf Pape zunächst auch für Leute ansprechend und interessant gemacht, die politisch in die Mitte wollten – und nicht in irgendein Eldorado jenseits von moderner Industriegesellschaft, Staat und Kapitalismus. Die fröhliche – und wohl eher ästhetisch denn gesellschaftspolitisch motivierte – Toleranz für die libertär-anarchische Botschaft des Alten verschwand und schlug bald um in einen gereizten Überdruss. Die kontaktfreudigen Kreise um ihn herum zerfielen wieder in ernüchterte, nervöse Individuen. Und für Rolf Pape beginnen die Jahre einer fortschreitenden Vereinsamung. Er war schon immer am besten, wenn er sich am Monologisieren gehindert sah und echte, pietätslose Einwände parieren musste. Aber jetzt überwältigte ihn mehr und mehr die Schwerhörigkeit – bis hin zur völligen Taubheit

Aber ich wechsle hier besser in die Ichform. Den engsten Kontakt zu Rolf Pape hatte ich in den frühen 80er Jahren. Ich hatte mich selbst beruflich so ziemlich ins Abseits manövriert und versuchte, mich auf den ungebrochenen, furchtlosen Mann seelisch zu stützen. Die weiten zivilisationsgeschichtlichen Horizonte, die er im stundenlangen Gespräch zu öffnen wusste – bei den naturwissenschaftlichen Themen musste ich jeweils  passen, waren mir eine Ablenkung und ein Trost in meiner kleinen, privaten Misere. Perspektiven gegen Angst. Aus dieser Nähe ist auch ein Buchprojekt hervorgegangen. Wochenlang hat Rolf Pape mir die Geschichte seines Ausstieges auf Band gesprochen – den abrupten Abbruch seiner Laufbahn als Offizier in der Bundeswehr; seine Odyssee – um es einmal so zu nennen, für ihn war es eine Flucht –  durch Italien und die Schweiz bis nach Konstanz. Bis er mir eines Tages ins Gesicht sagte: „Doktor, das kotzt mich an! Ihre Methode mag gründlich sein. Aber vor allem ist sie stinklangweilig.“ Die Erzählung im Drumlin Verlag war dann nur das Surrogat für die ursprünglich angepeilte Autobiografie.

Aber diese aus meiner Sicht schon freundschaftliche Verbundenheit ist eine Episode geblieben. Auch mir ist es so ergangen wie manchen anderen, vorübergehenden Weggefährten von Rolf Pape: Ich wollte die unbeirrbare Feindschaft, das abgrundtiefe Misstrauen des alten Mannes gegen den bundesdeutschen Staat und seine Vertreter nicht weiter ertragen. Und geteilt habe ich sie ohnehin all die Jahre nicht.

Autor: Ernst Köhler