Zwischen allen Stühlen … Endlich! Northeimer Professor entdeckt Atlantis! (1)

2018 führte das Northeimer Theater der Nacht ein Projekt zur Belebung der verödeten Innenstadt durch. Von den dabei gemachten Erfahrungen kann man auch heute noch und auch anderswo profitieren, meint unser Autor Albert Kümmel-Schnur.

Teil 1/2

Atlantis, die Insel des weltentragenden Atlas, ist ein von Platon erfundener Stadtstaat, der von den Göttern, vielleicht waren auch ein paar Göttinnen darunter, das weiß man im antiken Griechenland ja nie so genau, im Meer versenkt wurde. Als Strafe für …, äh …, irgendwas. Ist auch egal. Wichtig ist, dass diese bei Platon eigentlich eher nebensächliche Geschichte eine ihrem unbedeutenden Anlass ganz unangemessen breite Wirkung erfahren hat. Die Erzählung von der versunkenen Stadt hat offenbar die Fantasie der postplatonischen Menschheit stark angeregt. Finden konnte man, trotz großer Anstrengungen, Atlantis also nie, weil es diese Stadt ja (ich spreche mal ganz, ganz leise), gar – nicht – gab.

Aber – manchmal, hin und wieder, findet man Dinge, die es nie gab. Oder man stellt fest, dass Dinge, von denen man glaubte, sie seien vorhanden, gar nicht existieren. Dass sie verschwunden sind, ohne dass wir es bemerkten.

Es könnte sein, dass das der Fall mit unseren Innenstädten ist. Derzeit fallen Geschäftsaufgaben und Leerstand ja deutlich mehr auf – Corona macht’s auch dort möglich, wo Fülle zu herrschen scheint. Radieschen, Rosgartenapothekenfiliale, das Costa del Sol, demnächst das Eugens, um nur ein paar prominente Konstanzer Fälle zu nennen. Aber ist die Verödung der Innenstädte tatsächlich ein neues Thema?

… manchmal findet man Dinge, die es nie gab …

Bleiben wir einen Moment im reichen Konstanz. Man kennt das Problem des Wohnungsleerstandes in besten Lagen, auch wenn wenig darüber gesprochen wird. Man kennt auch das Problem der völlig überzogenen, ständig weiter steigenden Mietpreise in der Innenstadt, die mancher liebgewordenen Einrichtung – gerade im Gastronomie- und Einzelhandelsbereich – die Fortexistenz erschweren oder gar verunmöglichen. Es kommt dann zur Lebendigkeitssimulation durch Ketten und große Konzerne.

Anderswo wird nicht einmal mehr simuliert. Sogenannten ‚strukturschwachen‘ Gegenden fehlt es an kaufkräftigem Publikum. Und was anderes als Konsum – ob nun Kleider oder Kaffee ist ganz wurscht – scheint kaum jemandem noch in den Sinn zu kommen. Aber das Wörtchen ‚kaum‘ indiziert auch: es gibt eben doch Heroinen und Heroen der ganz und gar unvernünftigen Lust am Leben, die sich nicht abschrecken lassen von den Riesen, gegen die zu kämpfen sie antreten. (Psst! Kommen’se mal ran. Ja. So. Ich kann Ihnen flüstern: diese ganz alltäglichen Held:inn:en wissen nämlich, dass die Riesen einfach nur Windräder sind …)

Eine dieser Heldinnen möchte ich Ihnen vorstellen: Ruth Brockhausen, die im Jahr 2001 gemeinsam mit ihrem Mann Heiko in der ehemaligen Feuerwache der niedersächsischen Stadt Northeim das Theater der Nacht eröffnet hat und sich dort dem Figurenspiel widmet.

Es kommt zur Lebendigkeitssimulation durch Ketten

Northeim ist eine Kleinstadt in der Nähe von Göttingen. Wenn man durch die Innenstadt läuft, hat man das Gefühl, die Stadt sei spätestens im Dreißigjährigen Krieg stehen geblieben: überall Fachwerkhäuser, aufs Hübscheste restauriert mit kleinen Schildchen dran, die detailliert jede einzelne dieser Arbeiten dokumentieren. Natürlich residieren darin heute Dönerbuden und MacPaper. Dennoch: der Eindruck einer schmucken Kleinstadt drängte sich mir beim ersten Rundgang im Sommer dieses Jahres auf. Und ich entdecke zu diesem Eindruck passendes: einen Laden für regionale Bioprodukte, eine Gastwirtschaft mit ausgesprochen netter Bedienung, einen wunderbaren Buchladen. Irgendwann jedoch fallen dann leere Schaufenster und kaputte Fassaden und Hinterhöfe auf und ich beginne zu ahnen, dass es hier nicht so idyllisch ist, wie es scheint.

Einer ist das schon vor Jahren aufgefallen: Ruth Brockhausen. Gemeinsam mit dem Team des Theaters der Nacht möchte sie 2018 im Projekt Nortlantis (ein aus Northeim und Atlantis zusammengesetztes Kunstwort) Impulse zur Wiederbelebung der Innenstadt geben. Zwei Jahre zuvor beginnen die Vorbereitungen. Ich habe am 8. November 2022 mit Ruth Brockhausen über das Projekt gesprochen, nicht nur, weil ich der Meinung bin, dass dieses großartige Projekt über die Grenzen Northeims hinaus bekannt zu werden verdient, sondern weil ich denke, dass man ihm auch heute noch Lehrreiches abgewinnen kann für die Möglichkeiten und Grenzen kultureller Einrichtungen, demokratische Prozesse mitzugestalten, sowie die für unsere Gemeinwesen kaum überschätzbare Bedeutung des öffentlichen Raumes, der nicht veröden darf – weder zur sozialen Wüste noch zur Open-Air-Shopping-Mall.

… ein riesiger Frustberg

„Es ging darum, die momentane Situation der Stadt anzuschauen und nach Möglichkeiten zu suchen, diese Situation zu verbessern. Ausgangslage war der Leerstand vieler Ladengeschäfte in der Stadt. Sie wirkte auf mich wie eine Geisterstadt. Wir wollten zuallererst die ehemaligen Ladenbesitzer interviewen. Kein Erfolg! Die Ladenbesitzer wollten überhaupt nicht sprechen. Der Niedergang der Geschäfte war augenscheinlich auch der Niedergang ihrer Besitzer. Sie waren so frustriert, dass sie überhaupt nicht bereit waren zu reden. Die Leute, die in der Stadt Geschäfte vermieten, lassen nichts und niemanden an diese Orte ran – dass da z.B. das Theater oder jemand anderes ein Schaufenster dekoriert, ist fast undenkbar –, es sei denn, die Läden werden für teures Geld vermietet. Hinter diesem Verhalten steckt so viel verletzter Stolz, eine große Verletztheit und ein riesiger Frustberg. Wir haben versucht, möglichst viele Leute in dieses Projekt einzubeziehen, aber schnell gemerkt, da ist gar kein Rankommen.“

Die Suche nach freiwilligen Mitspieler:innen in der Stadt gestaltete sich ebenfalls schwierig: „Es waren am Anfang sehr, sehr viele Freiwillige da, die mitmachen wollten. Durch die schwierige Kooperation mit anderen Vereinen in der Stadt waren zum Schluss nur noch sechs Ehrenamtliche dabei. Das fand ich schon ganz traurig. Wir haben als Theater aber noch 60, 70 Leute gewinnen können, die mitgespielt haben. Das war eine irre Arbeit, die zusammenzukriegen.“

Schön, dass mal richtig was los ist

Rangekommen ist das Theater der Nacht letztlich immerhin an doch einen städtischen Akteur. Schülerinnen und Schüler des Corvinius-Gymnasiums spielten dem Projekt selbstgeschriebene Szenen vor leerstehenden Geschäften, die die Vorgeschichte des Versinkens von Nortlantis erzählten, im Vorfeld der Nortlantis-Nacht am 11. August 2018. Dass es auch für die Schülerinnen und Schüler nicht einfach war, ist auf der Website der Schule noch nachzulesen: „‚Schön, dass in Northeim mal richtig was los ist‘, hieß es, es gab aber auch Kommentare wie: ‚Die sollen mal verschwinden, man kommt ja gar nicht durch.‘“ Die Einschätzung der Theaterleiterin scheint die Schule zu teilen: „Es war förmlich zu spüren, wie durch die Umbrüche das kulturelle und ökonomische Leben der ganzen Stadt sich änderte. Eine Entwicklung, die sich, so bedauerlich und schmerzhaft sie auch ist, nicht einfach umkehren ließ“.

Text: Albert Kümmel-Schnur, Bilder: Marco Wolff, Northeim