Zwischen allen Stühlen … Kosmopolitismus! Eine Erinnerung und eine Vergegenwärtigung

„Man wird kein Kosmopolit durch Aufnahme und Unterricht; sondern man befindet sich in ihrer Gesellschaft, weil man ein Kosmopolit ist. Man wird dazu geboren, […].“ Dieses Zitat stammt aus Christoph Martin Wielands 1788 publizierten Essay „Das Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens“ (online hier im Projekt Gutenberg zu finden). Wir alle sind also, sagt Wieland, der in Biberach an der Riß geborene „unbekannteste unter den Klassikern“, von Geburt an, ohne jedes weitere Dazutun, Weltbürgerinnen und Weltbürger.

Was in diesem Zitat nicht deutlich wird, Wieland aber sehr wohl wusste, ist, dass man durchaus aus diesem herrlichen Naturzustand durch Erziehung und Unterricht vertrieben werden kann, um dann sein Leben als egoistischer Kleingeist, Wieland würde sagen als „Abderit“, zu verbringen. Eine ganze „Geschichte der Abderiten“, einen philosophischen Roman, hat er geschrieben, um seiner Zeit den Spiegel vorzuhalten. Literarisch schreiben, heißt für ihn, populär zu philosophieren.

Wie nun, wenn man genau dieses Anliegen Wielands aufnähme, um ausgehend von seiner Idee einer großen weltumspannenden Menschheitsfamilie, deren Mitglieder in engem Gespräch einander verbunden sind, die sich helfen und mit dem je anderen fühlen, die Gegenwart zu befragen? Wir alle haben die untrennbare Aufeinanderbezogenheit erlebt und erleben sie noch in der nunmehr seit zwei Jahren anhaltenden pandemischen Situation. Anfangs glaubte man noch, es ginge um Solidarität – auf Balkonen singen, für andere einkaufen, sich mehr Zeit füreinander nehmen.

… mit Bazookas auf Viren schießen

Doch schnell entpuppten sich diese positiven Erlebnisse als bloße Episoden. Angst, Misstrauen, Wut und Hass betraten die Bühne. Ihre großen Auftritte sind keinesfalls beendet. Im Gegenteil: soziale Spaltungstendenzen und autoritäre Erlösungsfantasien, die unsere Gesellschaften bereits vor der Pandemie gefährdeten, intensivierten sich und entwickelten eine furchtbar beschleunigte Dynamik. Und eine kopflos agierende Politik treibt sie an im Glauben, mit Bazookas könne man auf Viren schießen und mit dem Übertreten roter Linien die Demokratie retten.

Vor diesem düsteren Hintergrundprospekt wagten die Literaturwissenschaftlerinnen Sarah Seidel (Universität Konstanz) und Kerstin Bönsch (Leiterin des Wieland-Archivs Biberach) ein Kooperationsprojekt zum Kosmopolitismus. In fünf mehrstündigen, über ein Semester verteilten Sitzungen traf sich eine Gruppe von Studierenden des Fachbereichs Literatur-, Kunst-, und Medienwissenschaften der Universität Konstanz, um ausgehend von Wielands „Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens“ in Jahrhundertschritten das Feld des weltbürgerlichen Denkens gemeinsam zu durchmessen. Unter Pandemiebedingungen sind mehrstündige Videokonferenzen auf der Grundlage schwieriger Texte Hochleistungssport. Dass es dennoch gelang, hat vielleicht mit der Perspektivierung der Lektüren und Diskussionen auf das Ziel eines eigenständigen Weiterdenkens und einer Standortbestimmung zu tun: „Weltbürgertum Weiterdenken: Wer sind WIR?“

Ich darf nicht sagen, dass ich aus Stuttgart bin …

Unter diesem eindrücklich alliterierenden Titel sind die Ergebnisse des Seminars hier auf einer Website des Wieland-Archivs zu finden. Studierende haben Texte zu acht, je etwa vierminütigen Videos verfasst, in denen sie fremde Ideen zum Sprungbrett eigener Gedanken nehmen. So begegnen wir Martha Nussbaums anthropologischer Begründung weltumspannender Moralität, Seyla Benhabibs Nationen und Staatsformen übergreifender Weltrechtsordnung und Kwame A. Appiahs Hinterfragung von Identität als Zugehörigkeitsfiktion. „Ich darf nicht sagen, dass ich aus Stuttgart bin, weil – die Stuttgarter, die mögen das nicht so. Wenn ich dann aber sag‘, dass ich aus Hausen bin, dann weiß niemand, wo das ist. Und dann sage ich immer: bei Stuttgart. Aber dann glauben alle, dass ich aus Stuttgart bin.“

„Race“ ist nicht dasselbe wie „Rasse“

Die großen Themen der Identität heute sind „Nationalität, Gender, Klasse und race.“ Und dass Tom Fohler und Lea Schmalfuss, die Studierenden, die den Text geschrieben haben, hier von „race“ spricht statt das deutsche Wort „Rasse“ zu verwenden, zeigt, dass nicht einmal die Rede über Identität sich freimachen kann von der Sache, über die sie spricht. „Race“ ist eben nicht dasselbe wie „Rasse“, zumindest klingt das Wort für deutsche Muttersprachler neutraler und deshalb verwendbarer als sein deutsches Pendant.

Weltbürgertum, das ist eben auch eine Sprachfrage: schon der Weltbürger schließt ja die immer nur mitgemeinte Bürgerin aus – so wie der Bürgersteig, den man auch Gehweg nennen könnte. Und während tatsächlich in früheren Zeiten und heute noch in manchen Gegenden der Welt Frauen weder Philosophie lernen und lehren durften und erst recht nicht weltbürgerinnenhaft durch die Lande reisen, so macht der Bürgersteig vor allem deutlich, dass auch keine männlichen Arbeiter – und erst recht wohl keine Arbeiterin – auf ihm herumlaufen sollte. „Vor kurzem hat sich mein Mitbewohner Uncle-Ben’s-Reis gekocht, weil, Uncle-Ben’s-Asia, der geht am schnellsten. Und er hatte ja auch nicht mehr soviel Zeit, weil er wollte danach auf die black-lives-matter-Demo.“ So kann Wissenschaftskommunikation auch klingen.

Kant mit Metallica gekreuzt

Die Teilnehmer:innen des Kosmopolitismusprojektes haben ganz unterschiedliche Formen gefunden, ihre Gegenstände zu vermitteln. Da wird auch Kant mal mit Metallica gekreuzt: immerhin sehen sich ja „die Haarpracht des Metallica-Gitarristen Kirk Hammet und Kants ähnlich“, eine Aussage, die das Doppelporträt im Hintergrund, das eine strenge weiß gepuderte Perücke einer wild im headbanging um den Schädel wirbelnden Mähne gegenüberstellt, direkt dekonstruiert.

Nein, um Haare oder „kreischende Gitarrensoli“ geht es nicht, sondern um die Macht der Natur, die die Menschen notwendig, ob sie wollen oder nicht, zueinander zwingt. Diese Funktion schreibt Kant 1795 in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ der Natur zu. Doch traut Kant dem „krummen Holze“, aus dem der Mensch geschnitzt sei, nicht so sehr viel zu: es bräuchte „Engel“, um den erzwungenen Zusammenhalt tatsächlich zu leben. Metallica, so meint Nico Schiele, der diesen Text geschrieben hat, habe sich durch Benefizkonzerte für die Opfer der Flutkatastrophe an der Ahr wenn schon nicht ganze Flügel, so doch ein paar himmlische Federn erworben.

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Zum Teil sprechen die Autor:innen ihre Texte selbst vor der Kamera ein. Zum Teil übernehmen Schauspielschüler:innen der „akademie für darstellende kunst ulm“ diese Aufgabe. Die Videos wurden professionell im Studio von der Agentur 2einhalb aus Biberach produziert. Vor einfarbigen Hintergründen, auf denen diagonal gegenläufig die gesprochenen Texte als weiße Schriftbänder laufen, stehen die Sprecherinnen und Sprecher und werden in drei, wohl nur der Abwechslung halber wechselnden Einstellungen gezeigt. Hin und wieder werden zusätzlich illustrierende Bilder eingeblendet. Das Ganze wird von Elektropop untermalt. Diese akustische Tapete fand ich, gerade weil sie das Hören erleichterte und nicht etwa störte, etwas anstrengend. Sie führte nämlich hin und wieder dazu, dass ich Wendungen überhörte, die ich besser genau gehört hätte.

Denn: es lohnt sich genau hinzuhören! Die Studierenden vergegenwärtigen einen alten Gedanken auf plausible Weise. Sie vermitteln überzeugend Wissen, das in Form einer klassischen Seminardiskussion kaum Zugang in einen allgemeinen öffentlichen Diskurs gefunden hätte. Und es macht Mut, so viele junge Menschen engagiert eintreten zu sehen für eine kosmopolitische Haltung, die wir alle bitter nötig haben.

Text: Albert Kümmel-Schnur; Symbolbild Pixabay; Screenshots aus dem Archiv der Christoph Martin Wieland-Stiftung, Biberach, zur Verfügung gestellt vom Autor