Zwischen allen Stühlen … Sprachlosigkeit. Ein Abend mit Vladimir Sorokin

Zum Abschluss des Let’s Ally-Festivals des Theaters lasen eine Schauspielerin und zwei Schauspieler aus dem Text „Das weiße Quadrat“ des russischen Schriftstellers Vladimir Sorokin. Vor der Spiegelhalle demonstrierten ukrainische Studierende gegen seinen Auftritt. Es war trotz aller Sprachmächtigkeit ein fundamental sprachloser Abend.

Eigentlich schien alles zu passen. Das Theater wollte ein Festival zu Frieden und Völkerverständigung anlässlich des Krieges in der Ukraine veranstalten. Wissenschaftler:innen der Universität wollten den russischen Schriftsteller Vladmir Sorokin einladen und ihm für seinen Auftritt einen Ort in der Stadt zur Verfügung stellen. Das Theater hielt Sorokin für einen idealen Redner. Er gilt als einer der prominentesten und schärfsten Kritiker des Putin-Regimes – und das lange, bevor sich die russische Regierung entschloss, in die Ukraine einzufallen.

Ein Moderator wird gehäutet

Also einigte man sich darauf, Sorokin anlässlich des Let’s Ally-Festivals nach Konstanz zu einer Lesung einzuladen. Sorokin selbst schlug sein 2017 geschriebenes, 2018 in deutscher Sprache publiziertes Buch „Das weiße Quadrat“ zur Lesung vor, eine groteske Satire über ein telekratisches Russland. Das Fernsehen ist hier eine Droge, die jedoch nicht sediert, sondern Gewaltpotentiale aktiviert. Aus einer Talkshow wird eine Horrorshow, an deren Ende nicht nur ein Moderator gehäutet und – unwissentlich – kannibalisiert wird, sondern der brutale Alex aus Clockwork Orange einen Zug von Lagerhäftlingen und Wachtürmen an einem tierköpfigen Politbüro vorbeiführt.

Der Text ist – siehe den seemoz-Artikel vom 15. Februar 2023 – eigentlich eine Graphic novel: Der Illustrator Ivan Razumov hat eine dem Text in Umfang und Qualität gleichrangige visuelle Übersetzung gefunden.

Eine Graphic novel auf der Lesebühne

Für die Lesung einigte man sich darauf, Bilder Razumovs auf eine große Leinwand zu projizieren. Davor auf der einen Seite die Schauspieler:innen Ingo Biermann, Patrick O. Beck und Anna Eger, auf der anderen Maria Zhukova und Innokentij Urupin, beide zur Slavistik der Uni Konstanz gehörend, mit Vladimir Sorokin in ihrer Mitte. Zwischen den Sprechenden und der Leinwand türmten sich weiße Paletten mit im Schwarzlicht sichtbaren Beschriftungen auf.

Vielleicht war diese Anordnung schon ein Hinweis darauf, wie der Abend verlaufen würde. Es gab verschiedene Erwartungen, die immer wieder aufblitzten, jedoch nie zum Thema gemacht wurden, ein therapeutisches Setting, bei dem man nicht zum wunden Punkt vordringt. Zwischen den Akteuren liegt ein großer ungeordneter Haufen von Ideen, Wünschen, Projektionen. Das trifft wohl nicht nur auf die Veranstalter, sondern auch das Publikum zu. Für die einen war das eine politische Veranstaltung – eine Stellungnahme gegen den Krieg in der Ukraine sowie gegen Kriege und für Friedfertigkeit überhaupt. Für die anderen war es der Auftritt eines berühmten Schriftstellers und die Begegnung mit einer Literatur, die alle Register postmodernen Schreibens zieht.

Wem gehört dieser Tag?

Für eine kleine Gruppe protestierender ukrainischer Studierender war es die deutliche Demonstration kulturtragender Einrichtungen Deutschlands, dass sie lieber Russland als der Ukraine zuhören. Vor allem am Datum der Veranstaltung, einen Tag nach dem Jahrestag des Angriffs Russlands auf die Ukraine, störten sie sich. Dieser Tag, so meinten sie, müsse ganz allein den Ukrainer:innen gehören.

Die Gruppe hatte sich bereits im Vorfeld mit einem offenen Brief an das Theater gewandt. Das Theater antwortete seinerseits mit einem offenen Brief. Und für die Universität, die Sorokin eingeladen hatte, sprach zu Beginn der Veranstaltung die Rektorin persönlich, die sich auch dafür eingesetzt hatte, dass der Abend trotz angekündigter Proteste wie geplant stattfinden konnte.

Literatur ist keine Waffe

Sorokin, der sehr zurückhaltend, fast still auftrat, seine Worte auf Russisch – übersetzt von Innokentij Urupin – bedächtig wählend, betonte dreierlei: Einerseits, dass er für das Anliegen der Protestierenden der falsche Adressat sei, andererseits, dass er dennoch großes Verständnis für die Verletztheit der ukrainischen Studierenden habe, und schließlich, dass er Literatur nicht für eine Waffe halte.

Er berichtete von einem Bild aus Kiew, das einen Müllhaufen zeigte, auf dem auch ein Bild des russischen Dichters Alexander Puschkin gelandet war. Das verstehe er, meinte Sorokin und erinnerte daran, dass auch in den 1960er Jahren noch viele Menschen in den Niederlanden oder Frankreich sich weigerten, jemals wieder Goethe zu lesen: Deutsch – das war eben die Sprache der Mörder.

Für die Situation Russlands fand Sorokin das Bild einer Marschmusik spielenden Schallplatte, die hängengeblieben sei und dieselben Töne immer und immer und immer wiederhole. Putin hingegen sei die Nadel dieses Plattenspielers. Alle hofften darauf, dass sie endlich zerbreche.

Damit hatte er den Bildern seiner literarischen Figuren, die Russland als sentimentale Melodie, als blutgetränkte Eislaus, als Höhle voll verborgener Schätze und als tagtäglichen Kampf aller gegen alle sehen, ein weiteres hinzugefügt. Und darüber hätte man ja miteinander ins Gespräch kommen können. Oder über die Frage, ob der Zusammenhang von Massenmedien und Gewalt, wie ihn Sorokins Text behauptet, tatsächlich in dieser Form richtig beschrieben ist.

Das Negativ einer fiktiven Talkshow

Doch der Abend verlief wie mit angezogener Handbremse. Nicht einmal die Protestierenden wurden laut oder störten. Wofür sie von einzelnen aus dem Publikum auch noch wohlfeil gelobt wurden. Trotz aller Angebote also, die der bildstarke und verstörende, allerdings allzu routiniert vorgetragene Text Sorokins machte, trotz der Präsenz des Schriftstellers selbst, ja, trotz der geballten slavistischen Expertise auf der Bühne – es gab hervorragende Hinführungen in das Werk Sorokins und seinen Kontext durch Maria Zhukova und Innokentij Urupin – wollte einfach kein Gespräch aufkommen. Kontroverse Positionen kamen zur Sprache, fanden aber nicht zu- oder gegeneinander.

Dabei kann man das niemandem so recht vorwerfen. Es war nicht so, dass irgendetwas hätte anders sein müssen oder auch nur können. Der Abend war gewissermaßen das Negativ jener fiktiven Talkshow, die den Namen „Das weiße Quadrat“ trägt. Hier fiel niemand aus der Rolle.

Es war nicht so, dass irgendetwas hätte anders sein müssen

Alles war – irgendwie zumindest – nachvollziehbar und verständlich: die verletzten Demonstrant:inn:en, die klugen Slavist:inn:en, der zurückhaltende Schriftsteller, die routinierten Theaterleute, die eher politisch wie die mehr ästhetisch interessierten Zuschauer:innen. Nur zünden wollte so recht nichts. Das lag, vielleicht, an der allseitigen Höflichkeit. Oder am Aneinandervorbeiagieren. Oder an beidem.

Möglicherweise lag es aber auch daran, dass die Situation tatsächlich ratlos macht. Und das wäre dann doch eine Leistung des Abends gewesen: dieser Ratlosigkeit Raum zu geben und nicht, wie derzeit so viele andere, Lösungen zu empfehlen, die niemand hat.

Text von Albert Kümmel-Schnur, Bild von Pexels auf Pixabay