Zwischen allen Stühlen: Synchronschwimmen in Erwartung einer Überraschung

Am 13. Juli geht die Vortragsreihe „Vom Gießberg in die Stadt“ mit einem Beitrag der Slavistin Maria Zhukova zum sowjetischen Fernsehen und der Verschränkung individuellen und kollektiven Erinnerns zuende. Der Vortrag findet im Café Blende 8, das zur Leicagalerie in der Gerichtsgasse 14 gehört, statt und beginnt, wie immer, um 19 Uhr.

Das Gehirn unterscheidet nicht zwischen Erinnerungen an tatsächlich Erlebtes und Erinnerungen an die medialen Schatten, die nie oder aber von anderen Gelebtes auf das eigene Leben werfen.

[the_ad id=“94028″]Als ich im September 2003 nach siebenmonatigem Forschungsaufenthalt aus dem kalifornischen Santa Barbara nach Konstanz zog, war der Bilderstrom Hollywoods, der noch immer hegemonial globale Gültigkeit beansprucht, in meinen Augen zum provinziellen Heimatkino geworden. Ich sah nicht mehr die Stars, folgte nicht mehr atemlos den Stunts in Wüsten und Häuserschluchten, sondern blickte nur noch auf painted curbstones, jene farbigen Markierungen der Bordsteine, die ich für die kalifornische Führerscheinprüfung auswendig lernen musste. Ich sah nicht das Ehedrama, sondern nur, wie die unförmig überdimensionierten Plastikkanister, die genau eine gallon Orangensaft enthielten (so viel, wie ich als Singlehaushalt nun wirklich nicht brauchte), in die ebenso überdimensionierten Kühlschränke gewuchtet wurden.

Fernsehen als elektronisches Lagerfeuer

Ich erzähle Maria Zhukova davon, als sie mir das Bild russischer Synchronschwimmerinnen im Sowjetfernsehen ihrer Kindheit beschreibt. Das ist für viele in der Sowjetunion Aufgewachsene wie ein Erkennungscode, eine Madeleine des Kalten Krieges. Und gleichzeitig eine Generationenscheide.

„Wenn man einen heutigen Jugendlichen in Russland fragt, was der TV-Bildschirm auf dem oben angeführten Foto zeigt, dann würde er sich vielleicht an die Serie The X-Files erinnern oder sogar an die Creepers aus dem Computerspiel Minecraft denken. Dagegen sollte der sowjetischen ‚Fernsehgeneration‘ aus den 1970ern-80ern das Sujet mehr als geläufig sein, da die Übertragungen der Synchronschwimm- (Bild im Teaser) genauso wie der Eiskunstlaufwettbewerbe zum begehrten Sujet des sowjetischen Zentralfernsehens gehörten – und somit auch zum kulturellen Gedächtnis (Halbwachs) der Nation, das heutzutage in Form der ‚reflektierenden Nostalgie‘ (Boym) in unterschiedlichen künstlerischen Unternehmungen zur Erscheinung kommt.“[1]

Marshall McLuhan, der Großvater aller Medientheorie, hat das Fernsehen als elektronisches Lagerfeuer beschrieben, vor dem wir uns abends versammeln. So ganz stimmte das nie, da das Fernsehen im Unterschied zum Lagerfeuer dem Raum eine klare Richtung – auf den Bildschirm hin – gab. Wärmen kann das Fernsehen Verfrorene auch nicht und auch Stockbrot lässt sich in seinem kalten Licht nicht backen. Gleichzeitig macht die schiefe Metapher jedoch darauf aufmerksam, dass ‚fernsehen‘ mehr ist als das, was auf dem Bildschirm erscheint; mehr noch als ein technisches Medium, ist (oder war) Fernsehen eine soziale Situation.

Bild russischer Synchronschwimmerinnen als Generationenscheide

„Als ich das Bild der Synchronschwimmerinnen gesehen habe, das längst aus meiner Erinnerung gelöscht schien, dachte ich, Mensch, das steckt doch in Dir drin. Das war das, was die Nation vereinigt hat. Bei so einer Sportübertragung haben sich alle vor dem Fernsehgerät versammelt. Die Synchronschwimmerinnen waren immer sehr beliebt. Wir haben uns in unserer Familie um den Fernseher geschart: einer saß auf dem Sofa, der andere an unserem  Esstisch im Wohnzimmer. Das Fernsehgerät stand vor dem Fenster – tatsächlich wie ein Fenster zur Welt – … Fernsehen war die Situation des Austausches, des gemeinsamen Mitfühlens. Fernsehen, auch das sowjetische Fernsehen, war sehr affektiv. Es löste Gefühle und Gespräche aus. Manchmal hat man zeitgleich telefoniert und beim Telefonieren über das im Fernsehen Gesendete gesprochen. Die abendliche Fernsehübertragung war eine Welt für sich.“

Fernsehsozialisierte in Westdeutschland (oder, möglicherweise, anderswo) werden die hier beschriebene Szene gar nicht so fremd finden. Fernsehen strukturierte und ritualisierte auch den bundesdeutschen Alltag. Werbung mit Mainzelmännchen. Tagesschau. Tatort. Sportschau. Robert Lemkes Schweinderln, Hans Rosenthals Sprung mit angezogenen Knien, Wum und Wendelin. Sonntagmorgens Frühschoppen oder Anneliese Rothenberger. Der Fernseher war mehr als eine Situation. Der Fernseher war ein Familienmitglied.

So war es auch bei der estländischen Künstlerin Maria Kapejeva, die auf dem Dachboden entwickelte und unentwickelte Fotografien ihres Vaters in einem Pappkarton fand. Sie stammten aus der Zeit vor ihrer Geburt und zeigten den Fernseher – das Bild der fernsehübertragenen Synchronschwimmerinnen in diesem Artikel stammt von ihm.

Zwischen 1966 und 1974 hatte dieser Mann Fernsehbilder fotografisch festgehalten. Ganz bewusst wollte sie ihren Vater nicht zu den Fotos befragen, um die Bilder für sich, als Medien sans phrase, wirken zu lassen. Aus der Begegnung mit dem Vater als fernsehschauendem und gleichzeitig fotografierenden Subjekt entstand ein Kunstprojekt, das seinerseits Eingang fand in ein Seminar, das 2019 in den Räumen des Cafés Mondial durchgeführt wurde. Studierende lernten gemeinsam mit Maria Kapejeva, Familienfotos zu mehrdimensionalen, vielfach verzweigten Erzählungen zu kombinieren und zu collagieren und über die Trias von Subjekt – Medium – Kollektiv zu reflektieren.

Der Fernseher war ein Familienmitglied

„Es ist manchmal so, dass die Kunst viel mehr über die Medialität eines Massenmediums erzählen kann. In den offiziellen Printmedien – der Prawda zum Beispiel – wurde ja auch über das Fernsehen berichtet, aber affirmativ aus einer Position der Macht. Kunst ist eher ein deren Mechanismen beobachtender Gegendiskurs“, sagt Maria Zhukova, die Maria Kapejeva und den bulgarischen Schriftsteller Georgi Gospodinov nach Konstanz zu Workshop und Diskussionen einlud. „Es waren selten spannende Sachen im Fernsehen zu sehen. Deshalb hat man natürlich sehr genau aufgepasst. Die Nachrichtensendungen waren lange nicht so spannend wie der anschließende Film, weshalb man Angst hatte, den Film zu verpassen. Man tat so, als wolle man den Wetterbericht sehen. Tatsächlich aber ging es um den Film danach. Es gab keine Werbung, aber manchmal sah man in den Spielfilmen tolle westliche Waren. Die wollte man gar nicht unbedingt haben, aber sie gaben etwas anderes zu sehen. Oder sonntagmorgens gab es eine Musiksendung, in der man manchmal italienische Sänger hören konnte. Das war unheimlich populär. Zum Beispiel Robertino Loreti. Den kennt in Italien kein Mensch. Oder Toto Cutugno haben wir auch damals gekannt.“

Ein Schlüssel zu unseren Erinnerungen

Während Maria Zhukova erzählt, liegt mir „Karel Gott“ auf der Zunge – Biene Maja, Babuschka, die goldene Stimme aus Prag. Mir schwant, dass es hinter dem Eisernen Vorhang vieles zu entdecken gibt. Und dass es bei aller Vergleichbarkeit von Situationen tatsächlich um Losungsworte geht, Codewörter oder -bilder, die das Tor zur gemeinsamen Vergangenheit öffnen oder eben nicht. Dass gerade das scheinbar Vergleichbare das zutiefst Trennende in sich birgt. Wer man gewesen sein wird, lässt sich vielleicht auch ablesen an der Ansprechbarkeit auf mediale Codes oder Trigger.

Und so ist das Fernsehen vielleicht noch mehr gewesen als eine Generationenerfahrung, ein Familienmitglied oder eine soziale Situation: Es ist ein Schlüssel zu unseren Erinnerungen als je besonderem Allgemeinen. Welche kollektiven Zeichen werden sich einer Generation einprägen, deren mediale Erfahrungen sich zersplittern, weil sie sich nicht mehr auf gemeinsame erlebten Medienkonsum im Kino oder vorm Fernseher beziehen? Klingeln dereinst die Erinnerungsglocken bei viral gegangenen Youtube- oder Tiktok-Videos? Und ist Viralität dann dasjenige, was die Kollektive und Gemeinschaften der Vergangenheit ersetzt?

Ich bin schon gespannt, diese und andere Fragen am 13. Juli mit hoffentlich vielen anderen Zuhörerinnen und Zuhörern von Maria Zhukovas Vortrag im Café Blende 8 zu diskutieren.

Text: Albert Kümmel-Schnur.
Bilder:
– Das Foto von den Synchronschwimmerinnen stammt von der estländischen Künstlerin Maria Kapejeva.
– Alle anderen Fotos sind von Innokentij Urupin.

[1] Maria Zhukova: “You can call him another man mit Maria Kapajeva in Konstanz: Studentischer Workshop und Ausstellung”, in: Slavicum Press 9.12.2019