Zwischen allen Stühlen … Zwei Jahre virtuelle Lehre

Das Ende des Wintersemesters ist eine gute Gelegenheit, Rückschau zu halten auf zwei Jahre Digitallehre. Ich bin’s, mal ehrlich gesagt und geseufzt, einfach nur leid. Und dabei bin ich alles andere als ein Gegner digitaler Medien im Hochschulunterricht. Im Gegenteil.

Ich habe 2003 als Juniorprofessor für Digitale Medien/Digitale Kunst an der Universität Konstanz angefangen. Lehrräume in den Geisteswissenschaften (über die anderen kann ich nichts sagen) waren mit Tageslicht- und Diaprojektoren ausgerüstet und der weitaus größte Teil des Kollegiums war der Ansicht, dass das eine zufriedenstellende Ausstattung sei. Ich habe damals für Internetzugang, Beamer, Rechner und, ja, es waren die frühen 2000er, Video- und DVD-Rekorder in vier Seminarräumen gesorgt, außerdem selbst drei Server betrieben – u.a. für die e-learning-Plattform Moodle – sowie das studentische Fernsehprojekt Campus-TV internetgängig gemacht. 2005/06 führte ich gemeinsam mit meinem Kollegen Christian Kassung, der damals an der Universität Siegen beschäftigt war, das erste Videokonferenzseminar meiner Berufslaufbahn durch. Also: nein, ich bin nicht digitalfeindlich. Ich war sogar bestens vorbereitet auf das, was Corona in der Lehre erforderlich machte und habe in den letzten zwei Jahren begeistert viele Plattformen getestet und eingesetzt.

Aber trotzdem: ich habe genug! Es reicht! Die Zukunft des Lernens ist nicht digital – es sei denn, wir selbst werden in irgendeiner fernen Zukunft einmal zu körperlosen Pixelwesen. Bis dahin ist die Zukunft des Lernens das, was Lernen auch in der Vergangenheit immer gewesen ist: das persönliche Wachstum unter Aneignung von Wissen und Kompetenzen, begleitet durch Menschen, die schon etwas länger auf diesem Weg sind (vulgo: Lehrende).

Digitale Lehre kann die Begegnung zwischen Lernenden und Lehrenden nicht ersetzen, sie nicht einmal ansatzweise simulieren. Es fehlen einfach zu viele Kommunikationskanäle: der reale physische Raum verfügt über eine Vielzahl an Freiheitsgraden. Welche sind das?

Die Zukunft des Lernens ist nicht digital

Erstens der architektonische Raum, in dem man sich trifft. Räume sind dem Lernen und der Lehre nicht äußerlich, sondern gestalten diese aktiv mit –  Pädagogiken im Anschluss an Maria Montessori schreiben dem Raum deshalb eine zentrale, eigenständige pädagogische Rolle zu. Die Gestaltung einer Seminarraumarchitektur ermöglicht und verhindert verschiedene Formen des Miteinanders der Lernenden und Lehrenden. Handelt es sich um eine klassische one-to-many-Situation (Frontallehre), dann sitzenden die Lernenden eng beeinander, können einander nur unter gewissem Aufwand ansehen und blicken alle auf eine Wand mit Tafel/Leinwand/Whiteboard/Smartboard whatever. Ist dieser Raum tageslichtdurchflutet oder ein fensterloser Ort mit Neonröhren an der Decke? Wie schwer sind die Tische und Stühle? Kann ich sie bewegen oder sind sie, wie im Hörsaal, festgeschraubt? Sitzt jede und jeder Lernende hinter einem Tisch, um darauf Unterlagen platzieren zu können? Ist der Unterricht so ausgerichtet, dass ‚mitgeschrieben‘ oder ‚aufgezeichnet‘ werden muss? Muss man an eine Tafel oder ein anderes Inskriptionsmedium blicken oder geht es darum, die anderen zu sehen, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen von Angesicht zu Angesicht und face-to-face (der berühmt-berüchtigte Stuhlkreis)?

Gedanken und Gefühlen, die … mit Händen zu greifen sind.

Zweitens ist da jene raumbildende Spannung, die mit dem architektonischen Raum nur wenig zu tun hat. Ein kaum greifbares Gespinst – man mag es ‚Stimmung‘ oder ‚Atmosphäre‘ nennen, gleichviel. Es entsteht aus den sympathetischen und antipathetischen Strebungen der Menschen im Raum, aus ihren Körperspannung gewordenen Gedanken und Gefühlen, die, das weiß jeder, der regelmäßig Versammlungen gleich welcher Art besucht, mit Händen zu greifen sind. Man spürt sie, wenn man das Wort erhebt oder aber sich nicht traut, den Mund zu öffnen aus Angst, er könne einem gleich wieder verboten werden oder das lebendige Wort bleibe einem in der Kehle stecken, weil es sich nicht behaupten kann gegen die Wand aus Widerwillen und Schweigen, die sich einem entgegendrückt. Und, ja, das Gegenteil natürlich: wenn die Menschen guter Laune sind, einander und sich selbst wohlgesonnen, wenn ein Wort das andere gibt, eines aus dem anderen erwächst und neue Reden zeugt. Wenn man getragen wird von der Stimmung und wenn andere diese Stimmung dann befördern, verstärken und weitertragen bis zur Begeisterung. Auch das geht digital nicht. Am wunderbarsten (oder schrecklichsten) artikuliert sich die Atmosphäre im gemeinsamen Schweigen, das keine Worte braucht, um den Kontakt zu vertiefen (oder ganz und gar unmöglich zu machen – die sprichwörtliche ‚Wand aus Schweigen‘).

Lehre ist Beziehungsarbeit

Drittens dann das Spiel von Nähe und Distanz der Körper. Da stecken zwei die Köpfe zusammen, da flüstert’s noch im strikt frontal ausgerichteten Unterricht, da wandern Zettelchen von Hand zu Hand und werden, manchmal, auf dem Weg eingesammelt zum Leidwesen von Sender und Empfänger. Da wuseln Hände beim Versuch, gleichzeitig ein Diagramm zu zeichnen, Karten im Brainstorming zu ordnen oder mind maps auf den Fußboden zu malen (nun gut, das tun wir eher selten, jedoch täte ich’s gern – die Erfahrung meiner Promotionszeit in einem Zimmer mit beschreibbarem Fußboden wirkt noch nach). Da kann eine Gruppe, gewollt und/oder ungewollt in Grüppchen zerfallen, sich atomisieren, um sich wenig später nur wiederzufinden.

Ja, ich habe viele gute Erfahrungen gemacht mit der digitalen Lehre. Und ich habe es genossen, auf langweiligen Sitzungen einfach mal Kamera und Mikrophon abschalten zu können. So radikal anwesend-abwesend kann man physisch gar nicht sein. Und, ja, mehr noch: ich will vieles auch nicht missen. Und doch: Lehre ist Beziehungsarbeit und die braucht nun einmal den ganzen physisch präsenten Menschen und alle fünf bis sieben Sinne.

Es tat wohl, in den wenigen Präsenzsitzungen des vergangenen Wintersemesters das schiere Tempo und die Leichtigkeit des gemeinsamen Lernens unter Anwesenden zu erleben. Möge das Frühjahr endlich den Winter unseres digitalen Missvergnügens beenden und uns ein vollpräsentisches Sommersemester gewähren.

Text: Albert Kümmel-Schnur, Bild von Sasin Tipchai auf Pixabay