Die 99 Prozent
Hunderttausende in Madrid, Barcelona und Rom, Demonstrationen und Kundgebungen in mehreren Hundert Städten weltweit – darunter auch in Konstanz, und noch immer Besetzungen in New York, von wo aus die Bewegung um sich griff, in Washington, London, Frankfurt, Berlin und Zürich: Selten zuvor hat ein internationaler Aufruf so viele Menschen mobilisieren können.
Es war zwar kein globaler Protest. Aber immerhin: Ein Großteil der westlichen und der westlich orientierten Welt erlebte am vergangenen Wochenende, wie schnell ein Funke überspringen kann.
Was macht nun diese Bewegung aus, und wo geht sie hin? Auffällig ist, dass sie ohne Führung auskommt, basisdemokratisch agiert und die Beschlüsse überaus friedlich umsetzt – von Italien mal abgesehen, dem Land der ehemaligen Geheimorganisationen Gladio und P2, wo noch unklar ist, ob bei den Ausschreitungen nicht jemand im Hintergrund an Strippen zog. Gemeinsam ist den Protesten, dass sich überall auch Menschen beteiligen, die vorher noch nie auf die Straßen gegangen waren, und dass Leute zusammenfinden, die sich zuvor unterschiedlichen parteipolitischen Lagern zugerechnet hätten.
Die Bewegung gegen die Macht der Finanzwelt, gegen die willfährige Politik und gegen die Entdemokratisierung der Entscheidungsprozesse hat mittlerweile alle Schichten und Altersgruppen erfasst. Nicht zu unterschätzen sind zudem die neuen Formen von Interaktion wie die Gesten, die Zuhörenden eine Mitsprache erlauben, oder das «menschliche Mikrofon»: Die Sätze der Redenden werden von allen, die sie gehört haben, nachgesprochen. Das zwingt zu kurzen pointierten Ansprachen und lässt selbst die in der letzten Reihe teilhaben. Und dann ist da noch das breite Spektrum an Forderungen – von der Einführung einer Transaktionssteuer bis zu mehr Demokratie, von der Beschränkung der Rüstungsausgaben bis zur Verteidigung des Sozialstaats. Ein All-inclusive-Ansatz, in jeder Beziehung.
Aber hat diese qualitativ und quantitativ neue Opposition Bestand? Die Antiglobalisierungsbewegung, die mit den Protesten gegen den G8-Gipfel 1999 in Seattle begann, ist versandet – nicht zuletzt, weil die Kapital- und Politelite der Welt andere Formen des Zusammentreffens fand. Die Weltsozialforen, auf denen vor allem die Auswirkungen der marktradikalen Politik angeprangert wurden, haben sich ebenfalls totgelaufen: Es war zwar viel von Alternativen die Rede («eine andere Welt ist möglich»), aber konkrete Handlungsansätze konnten die Foren kaum bieten. Selbst die internationale Antikriegsbewegung, die im Februar 2003 weltweit rund fünfzehn Millionen gegen den drohenden Irakkrieg mobilisierte (also weitaus mehr Menschen als die Occupy-Bewegung am Samstag), war in dem Moment vorbei, als die USA Bagdad attackierten.
Neu an der Occupy-Bewegung ist also nicht ihre Internationalität. Neu ist ihre Kombination von lokalen und nationalen Forderungen mit globalen Erkenntnissen: Da demonstrieren chilenische UmweltschützerInnen, spanische Arbeitslose, britische Studierende, US-amerikanische Arme – und sie alle wissen, dass nicht nur sie, sondern auch der Facharbeiter und die Bankangestellte neben ihnen zu jenen 99 Prozent gehören, die all das zu schultern haben, was eine kleine Minderheit verursacht hat. Neu ist auch, dass die Occupy-Initiativen den öffentlichen Raum besetzen, den sich Private und der Staat aneignet haben, und zugleich den in allen Gesellschaften vorhandenen Wunsch nach Gleichheit und mehr Gerechtigkeit artikulieren.
Man mag die eine oder andere Forderung oder Aktion für naiv, illusorisch oder gar unpolitisch halten, aber gerade die Vielfalt und die Unbestimmtheit des Protests haben enorme Sprengkraft – was allmählich auch die kleine Elite erkennt, die bisher das Heft in der Hand hielt. Bleibt die Bewegung bei ihren Prinzipien, kann da noch einiges kommen.
Autor: Pit Wuhrer/WOZ