Gesucht: Ein neues Konzept für die Altstadt
In einem Gastbeitrag formuliert Anselm Venedey, Konstanzer Stadtrat der Freien Wähler, die Fragen, die derzeit Stadtgespräch sind: Welchen Preis zahlen wir für die Kommerzialisierung der Innenstadt? Wie groß ist die Gefahr großflächigen Leerstands wie einstmals beim Woolworth-Kaufhaus? Brauchen wir nicht ein neues Zentrenkonzept? Noch sei es nicht zu spät für klare Antworten, meint Venedey
Machen wir uns nichts vor – die Zeiten des Scala sind gezählt! Wir können die Hausbesitzer nicht daran hindern, das Gebäude zu verkaufen. Wir können den Kinobetreiber nicht dazu zwingen, das Kino weiter zu betreiben , denn sein Pachtvertrag läuft aus. Die Kinolandschaft und damit die Kulturlandschaft unserer Stadt werden ärmer. Das steht fest. Freuen wir uns, wenn das Programmkino des Scala an anderem Ort und vermutlich in kleinerem Rahmen fortgeführt wird.
Aber müssen wir hinnehmen, dass an Stelle des Scala ein weiterer riesiger Drogeriemarkt entsteht? Ist unser Zentrenkonzept hier noch schlüssig? Längst geht es nicht mehr nur um die Versorgung der Bevölkerung und die Funktion unserer Stadt als Oberzentrum. Es geht darum, möglichst viel Profit aus der aktuellen Stärke des Schweizer Frankens zu ziehen. Da unterscheidet sich der Vorzeigeunternehmer Götz Werner mit seiner Drogeriemarktkette nicht von den Konkurrenten. Das können wir ihm nicht vorwerfen. Aber an dieser Stelle auf der Marktstätte sehen wir, was wir durch diese Entwicklung verlieren: Ein Kino, eine inhabergeführte Boutique, ein alteingesessenes Cafe. Betriebe, die zeigen, wie vielfältig Handel, Gastronomie und Kultur in Konstanz sind. Sie sollen nun einem Mega-dm-Markt weichen. Wie dieser aussehen wird, sehen wir auf der anderen Seite der Marktstätte.
Sicher wird auch der neue Drogeriemarkt sein Publikum finden. Aber um welchen Preis? Weiterer Verkehr wird in die Stadt gezogen. Die Vielfalt des Angebots in unserer Altstadt wird geringer. Das Gesicht der Altstadt wird grober. Städtebaulich wird sich Konstanz verschlechtern.
Und was passiert, wenn dereinst der Franken schwächer wird? Wird Götz Werner dann aus reiner Menschenliebe den Drogeriemarkt weiterbetreiben? Werden die Arbeitsplätze erhalten? Für kleine Gewerbeeinheiten findet sich jederzeit ein Nachmieter. Aber wie sieht es mit einer dieser Größe aus? Erinnern wir uns an den Leerstand des Woolworthkaufhauses! Wollen wir das riskieren?
Wäre es nicht sinnvoll, aus diesen Gründen das Zentrenkonzept auch für die Altstadt zu überarbeiten? Die Festsetzung von Obergrößen für den Handel in der Innenstadt würde den bestehenden Mix schützen. Sie würde dazu beitragen, großflächigen Leerstand zu vermeiden. Noch ist es nicht zu spät.
Anselm Venedey
Schön, dass sich Herr Venedey Gedanken macht, dass einzelne Gemeinderatsmitglieder langsam aufwachen – und hoffentlich auch wach und standhaft bleiben. Da Herr Venedey von einem „neuen Zentrenkonzept“ spricht, scheint bereits ein „altes“ zu existieren – ab in den Müll. Für Vieles ist es schon zu spät. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass dieser „Deal“ Privatsache ist: Den drohenden Verlust des Scala-Filmpalastes, 80 Jahre Kult(ur)-Kino(ebenfalls bedauerlich jener des Kultcafés Marktstätte), haben wir letztendlich einer jahrelangen kurzsichtigen, planlosen „Politik“ zu verdanken die, ignorant gegenüber den Bedürfnissen der eigenen Bevölkerung und ohne sinnvolles Gesamtkonzept bis heute vorwiegend wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund stellt u. trotz manchen Fehlschlags nichts dazu lernt. Die notwendige nachhaltige Balance, ökonomisch, sozial, ökologisch gibt es nicht. Eine gesunde Stadtentwicklung braucht jedoch einen gesunden Kern, eine lebendige Stadt misst sich nicht an täglichem Verkehrschaos und Menschenmassen, sondern an zufriedenen Bürgern, Menschen, die sich mit „ihrer“ Stadt identifizieren. Dies ist in Konstanz immer weniger der Fall, der Kern fault. Der sogenannte „Fortschritt“ zeigt sich in anhaltender Kommerzialisierung und Vermarktung, längst dominieren 08/15 Einkaufsmeilen das Stadtbild, Ramsch ersetzt Qualität, Einfallslosigkeit Originalität, Masse statt Klasse, explodierende Preise. Konstanz, das Einkaufsparadies, eine gefährliche Einseitigkeit. Ein Konzept zum Erhalt der Qualität des Zentrums wäre schon vor langer Zeit sinnvoll und notwendig gewesen, heute frage ich mich: welches Zentrum? Ob zukünftig statt Kultur Windeln und Kleber für die Dritten verkauft werden, ob Sushi oder Socken, Sekt oder Selters, ob große oder kleine Gewerbetreibende dort einziehen ist doch letztendlich wurscht. Fakt ist: mit dem Scala wird wieder ein Stück Konstanzer Geschichte, Tradition, Heimat verschwinden, unwiederbringlich. Und auch wenn Herr Rabe das vielfach preisgekrönte Programm reduziert im Cinestar zeigen wird: es wird nie mehr dasselbe sein. Eine Politik mit Weitsicht, Klugheit, Herz und gesundem Menschenverstand hätte dies voraussichtlich verhindern können. Letzterer wurde jedoch schon vor langer Zeit durch Euro- und Frankenscheine ersetzt.
In vielen europäischen Städten (Hamburg, London) gibt es mittlerweile große private Investoren, die sich nicht nur um ihre Gewerbeflächen kümmern, sondern Stadtverwaltungen die „Erlaubnis“ haben auch um ihre Gebäude herum „aufzuräumen“. Es gibt dort Wachpersonal, dass unliebsames, weil nicht konsumierendes Publikum entfernen kann.
Wir erleben diese Entwicklung schon länger bei früher öffentlichen, heute bewachten Gebäuden wie z.B. bei Bahnhöfen, in denen es heute Wohnungslosen nicht mehr möglich ist sich aufzuwärmen oder auszuruhen.
Wer nicht konsumiert oder konsumieren kann, ist unerwünscht.
Die Stadt verkommt zur Konsummeile. Konstanz ist dafür leider ein schlechtes Beispiel: Aldiisierung auf ganzer Fläche!
Leider sind nicht alle Kommunalpolitiker so nachdenklich wie Anselm Venedey. Abschreckendes Beispiel ist die Situation in Singen. Dort traut sich bislang kein einziger Gemeinderat laut darüber nachzudenken, ob ein neues gigantisches Einkaufszentrum am Bahnhof überhaupt Sinn macht. Anselm wirft in der Tat interessante Fragen auf: Werden die Innenstädte nur noch für die Renditeziele großer Einkaufszentren- und Ladenketten geöffnet ? Besteht kommunalpolitische Entwicklung nur noch in der immer weiteren Ausweitung von Gewerbe- und Einzelhandelsflächen ? Sind in der Innenstadt nur noch Konsumenten erwünscht und keine störenden Menschen mehr mit ihrem Wunsch nach bezahlbarem Wohnraum? Die Kommunen haben auf der Basis eines bestehenden Kommunalrechtes scharfe Waffen zur Verhinderung derartiger Fehlentwicklungen. Ist das politisch überhaupt gewollt ?