A wie Allensbach

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Die Mühlenwegs vor ihrem Haus in Allensbach (1948); Felder-Archiv; Foto: David Humme

Welchen Zufall es brauchte, um Fritz und Elisabeth Mühlenweg vom Hallstätter See nach Allensbach zu bringen, ist immer noch nicht klar. Jemand muss ihnen um die Jahreswende 1934/35 den Tipp gegeben haben, dass in Allensbach an der Konstanzer Straße ein neu gebautes Haus seit Monaten unbewohnt stehe. Es wurde das letzte Zuhause des Künstlerpaares und seiner reichen Kinderschar – während der Nazizeit und darüber hinaus.

Sie hatten im September 1933 geheiratet, in Beaucaire in Südfrankreich. Dorthin hatte sich Mühlenweg im Frühjahr abgesetzt, er laborierte immer noch am Verlust einer Liebesbeziehung, schwänzte das Sommersemester an der Wiener Akademie, wollte allein und frei malen. In dem kleinen Städtchen Beaucaire kannte er niemanden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es Literatur war, die ihn dorthin lockte. Er hatte Daudets „Die wunderbaren Abenteuer des Tartarin von Tarascon“ und auch „Der Graf von Monte Christo“ gelesen – Jahre später schrieb er über diese südliche Gegend und ihre Romane eine seiner ersten publizistischen Arbeiten („Tarascon ohne Tartarin – Beaucaire ohne Dumas“).

In Beaucaire überkam ihn dann doch die Einsamkeit. Mit einer Serie heißlaufender Briefe gelang es ihm, eine 23-jährige Studienkollegin dorthin zu locken: Elisabeth Kopriwa. Wir merken uns: Der Briefschreiber Mühlenweg ist die erste Erscheinungsweise eines überaus wirkungsmächtigen Erzählers. Seine Briefe brachten seine Einsamkeit, seine experimentierende Schaffenskraft und einen hartnäckigen künstlerischen Willen so in Worte, dass sich die schöne Linzerin auf die Reise machte; freilich erst, nachdem sie ihre Semesterarbeit zum Abschluss gebracht hatte. Sie wusste ihrerseits, was sie als Künstlerin wollte, Elisabeth Kopriwa war Vorzeigestudentin der Akademie.
Dass sie drei Monate später, bereits schwanger, in der Mairie von Beaucaire diesen Fritz Mühlenweg heiraten würde, mit zufälligen Passanten als Trauzeugen, wird jenseits ihrer Vorstellungskraft gelegen haben. Bei ihm hingegen hatte sich der Wunsch, zu heiraten und Kinder zu haben, seit der Rückkehr aus der Mongolei mächtig geregt.

Hakenkreuzfahnen im Tausendseelen-Dorf Allensbach

In jenem Hochzeitsmonat September 1933 erwirbt der Gailinger Apotheker Dr. Karl Wolff im Gewann Himmelreich in Allensbach eine Wiese und plant einen Hausbau. Das Dorf beginnt an der Konstanzer Straße – die erst fünf Jahre zuvor für den zunehmenden Durchgangsverkehr angelegt worden ist – zögernd nach Osten hin zu wachsen. Das unbebaute Grundstück westlich der Wiese gehört Johann Welschinger, Nachbar nach Osten ist Peter Weltin.

Der Apotheker baut für seine betagten Schwestern, – die aber wollen, als das Haus fertig ist, doch lieber nicht an den Rand des Tausendseelen-Dorfs ziehen. Statt an der Straße nach Konstanz zu wohnen, wo zwischen Grundstück und Teer noch ein Wassergraben verläuft, ziehen sie doch lieber gleich in die Stadt. Das Haus steht 1934 leer, es gibt ein Foto mit aufgezogener Hakenkreuzfahne an einem Mast im kahlen Garten; aber diese Beflaggung ist an nationalsozialistischen Feiertagen an allen Häusern entlang der Straße zu sehen.

Wer keine Landschaft ohne gleichzeitige politische Infrarotaufnahme denken kann: Schon im Jahr, bevor Hitler Reichskanzler wurde, waren die Stimmen für die NSDAP in Allensbach bei den letzten freien Reichswahlen von 25% (1930) auf 37% (1932) gestiegen – höher als im Reichsdurchschnitt. Der Historiker (und langjährige Allensbacher Gemeinderat) Lothar Burchardt liefert diese Zahlen in einem jüngst erschienenen Allensbach-Band. Den nach der Machtergreifung als Bürgermeister eingesetzten Obersturmführer Mayer beurteilt er, was seine Amtsführung bis 1945 angeht, mit deutlicher Milde, auch weil der dem überdurchschnittlich starken katholischen Bevölkerungsanteil gegenüber unagressiv blieb. Man kann hinzufügen: Das war keine besondere Kunst in einer Erzdiözese, deren Chef Gröber dem Führer das Reichskonkordat, also die Anerkennung des NS-Regimes durch den Papst, aushandelte und 1934 selber SS-Fördermitglied wurde….

(Weiter vorgegriffen: Es wurde für die fromme Katholikin Elisabeth Mühlenweg dann im braungetönten Allensbach nicht immer lustig; Inga Pohlmann zitiert in ihrem biographischen Aufsatz aus dem Brief der sechsfachen Mutter im November 1944, die aufs Rathaus bestellt wurde, um die fällige Ehrung abzuholen: „Dagegen mußte ich mir gestern in einer entsprechenden Versammlung von Leuten, die so eifrig bestrebt sind, uns die genannten Schwierigkeiten einzubrocken, das Mutterkreuz umhängen lassen.“)

Im vom Bürgerkrieg zerrissenen Wien

Aber noch wissen die Mühlenwegs nichts von der Allensbacher Baustelle. In Wien sind beide ab Herbst 1933 wieder an der Akademie eingeschrieben. Elisabeth macht noch eine Zusatzausbildung, mit dem sie Kunstunterricht an der Schule geben könnte, sie schafft das Examen und sie bringt im März 1934 ihre Tochter Regina zur Welt. Es ist das vom Bürgerkrieg zerrissene Wien, das die Sozialisten vertreibt und sich unter dem Bundeskanzler Dollfuß im Austrofaschismus einrichtet.
Ein paar Monate wohnt die junge Familie noch im Haus der Mutter Kopriwa am Hallstätter See. (Wanderer im Netz: Wenn es dich gelüstet, eine besonders irreführende kulturtouristische Anmache zu lesen, dann ergoogle dir das Ferienhaus Kopriwa in Bad Goisern, sie verzeichnen dort Elisabeth in doppelter Ausführung, machen ihre brave Mutter Gustava zu einem Gustav…; aber tolle Aussicht auf den See (November 2011): http://www.hallstatt.net )

Am liebsten würden sie nach Italien ziehen und sich dort niederlassen. Fritz hat 1932 einige Wochen lang in Assisi gemalt und die Toskana bereist, auch ihre Hochzeitsreise hatte von Beaucaire aus dorthin geführt. Eine finanzielle Grundsicherung für die ersten Jahre bleibt ihm noch aus seinem Vatererbe, dem Anteil aus der Drogerie und den Rücklagen, die ihm sein gut bezahlter Job bei der Expedition verschafft hatte. Aber genau dieses Geld erzwingt auf einmal ihre Niederlassung in Deutschland. Denn die nationalsozialistische Regierung, die insgeheim bereits auf einen Krieg rüstet, verschärft die Devisengesetzgebung. Der Transfer von Reichsmark ins Ausland wird drastisch erschwert.

Über Expeditionskollegen ventiliert Mühlenweg Wohnmöglichkeiten fern vom Bodensee. Nach Konstanz, wo er nun als verkrachter Sohn einer fleißigen Familie gilt, will er auf keinen Fall.
Dann also Allensbach. Am 7. Januar 1935 unterzeichnen Fritz und Elisabeth Mühlenweg in Gailingen den Mietvertrag für das Allensbacher Haus am Ortsrand: Sechs Zimmer, Küche Kellerräume, eingebautes Bad mit WC, komfortabele, moderne Heizung. Inklusive Garten für einen jährlichen Mietzins von 900 Reichsmark. Sie unterzeichnen beide – das ist kein unwichtiges Detail in einem Jahrhundert, in dem Männer ihre Frauen noch lange wirtschaftlich entmündigt halten werden.

Von der legendären Gastfreundschaft der Mühlenwegs

Der im Architektenplan als „Bügelzimmer“ nach Süden gehende Souterrainraum wird sogleich zu Elisabeths Atelier. Fritz nimmt mit einem 9qm-Zimmer im Hochparterre vorlieb. Aber das Haus mit seinen ohnehin nicht großen Zimmern wird in den Jahren darauf immer enger und die Nutzung der Räume fließend. Nach der Geburt des dritten Kinds wird er bei einem Nachbarn einen ungeheizten Raum als Atelier benutzen können, aber ab 1940 trennt ihn ohnehin der Krieg vom Familienleben. Nach Kriegsende bekommt Elisabeth im katholischen Pfarrhaus ein Zimmer zum Arbeiten.

Als die Mühlenwegs 1948 durch eine bauliche Erweiterung um den Wintergarten herum zwei Zimmer dazugewinnen, leben bereits 10 Menschen im Haus, die Tochter Sabine ist noch nicht geboren. Einen gemeinsamen Atelierbau im Garten wird sich das Künstlerehepaar erst 1955 leisten, als Mühlenweg für „In geheimer Mission durch die Wüste Gobi“ den Friedrich-Gerstäcker-Preis bekommt. Beide ahnen nicht, dass ihnen nur noch sechs weitere Lebensjahre vergönnt sind.

PS: Ab Sommer 2012 ist im Museum der Architektenplan des Allensbacher Hauses an einer Wand zu sehen, unweit des raumgreifenden Originalschreibtischs. Es soll eine räumlich erfahrbare Enge werden. In die Zimmer auf dem Plan sind dann Zitate montiert. Eines beweist, dass das enge Haus nie die legendäre Gastfreundschaft der Mühlenwegs beeinträchtigen konnte: „Zum Fasnachtsmontag haben wir die ganze Familie Dix eingeladen, wer von uns dann in der Waschküche schlafen wird, wissen wir noch nicht, denn wie Mama, Elisabeth und Lotte sich die Übernachtung denken, habe ich noch nicht erfahren können.“ (Fritz Mühlenweg, Brief im Januar 1948 an Sohn Christian).

Autor: Ekkehard Faude