W wie Weihnachten

In Hami, am Rand der Wüste Gobi, naht das Weihnachtsfest. Kein Baum weit und breit. Aber ein paar zu jedem Grün entschlossene Männer aus dem alten Europa geben nicht auf. So lässt sich Mühlenwegs Erzählung „Der Christbaum von Hami“ auf den Punkt bringen. Er schrieb sie vor fast 60 Jahren, eine Auftragsarbeit für eine Jugendzeitschrift seines Verlags. Ob sie bei Herder damals bemerkt haben, dass die Geschichte ohne christliche Motive auskam, ist nicht überliefert.

Damals war Mühlenweg schon ein viel begehrter Autor: „In geheimer Mission durch die Wüste Gobi“ erschien in immer neuen Auflagen, Kurt Wolff ließ ihn gerade für seinen Pantheon Verlag in New York übersetzen. Als der amerikanische Verleger ihn im August 1952 in Allensbach besuchte, war sein zweiter Roman gerade fertig: „Tal ohne Wiederkehr“. Eigentlich hatte es nur eine Erzählung über sein dramatischstes Abenteuer aus der Hedin-Expedition werden sollen; sie war ihm immer weiter gewachsen. Der Roman – inzwischen heißt er „Fremde auf dem Pfad der Nachdenklichkeit“ – endete in der Wüstenstadt Hami, wenige Tage vor Weihnachten. Ein Christbaum kam darin nicht vor. Den machte der Autor zum Thema in einer fast gleichzeitig verfassten Erzählung, humorvoll und mit sanfter Spannung.

Auf der Suche nach einem Nadelbäumchen am Rand der Gobi

In diesem schlanken Text lässt er eine seiner existenziellen Erfahrungen anklingen: Europäische Ungeduld trifft auf das andere Zeitmaß der Asiaten und: das Verfehlen eines selbst gesetzten Ziels kann glücklich enden. Man kann das Ganze als poetische Erfindung lesen, aber es gab den Christbaum wirklich. Er ist sogar fotografiert worden.

Eine Fiktion mit abenteuerlicher Vorgeschichte im Grenzland von Sinkiang (Xinjiang) vor 83 Jahren: Die Hedin-Expedition, zu der Mühlenweg im Februar 1927 in Peking gestoßen war, kam erst im Juli wirklich in Fahrt, ins Grasland und die Wüste der Inneren Mongolei. Die bessere Zeit der Kamelzüge dauerte dann nur bis Oktober. In getrennt vorrückenden Karawanen sollte ein möglichst großflächiges Gebiet erforscht werden. Die schwedischen und chinesischen Archäologen freuten sich über Steinzeitfunde. Ein deutscher Meteorologe verfolgte sein penibles Programm von Windmessungen mit gasgefüllten Ballons. In Klöstern wurden an Mönchen Schädelmessungen durchgeführt. Sven Hedin kartographierte vom Rücken seines Kamels aus. Männer, scharf auf die Vermessung der Welt. Fritz Mühlenweg fing entlaufene Kamele wieder ein, ärgerte sich über fehlende Belege für seine Buchhaltung und lernte unterdes von den Kameltreibern die ersten paar hundert Worte Mongolisch.

Die weltenvermessenden Männer hatten aber die Strecken und den dazu nötigen Proviant fatal falsch eingeschätzt. Noch im Sommer hatte Hedin die Ankunft in Urumtschi, der Hauptstadt von Sinkiang, vollmundig für November vorausgesagt. Aber im November waren viele erschöpfte Kamele schon verloren und die Expedition hatte immer noch 600 km vor sich, um auch nur die nächste größere Stadt auf der Strecke nach Urumtschi zu erreichen: Hami. Pro Tag waren nur 15-20 km zu schaffen, durch trostlose Kiesebenen, an salzigen Brunnen vorbei, manchmal verhinderten Schneestürme tagelang den Weitermarsch.

Vier Wochen vor Weihnachten wurde Fritz Mühlenweg von Hedin losgeschickt: Mit einem Mongolen und einem Chinesen zusammen sollte er Proviant für die entkräftete Expedition beschaffen. In einer Wüstenkälte, die in den Stiefeln die Strümpfe anfrieren ließ. Für den Job wurde er bestimmt, weil er als einziger der Deutschen bereits Mongolisch gelernt hatte.

In der Gewalt von Räubern. Oder waren es doch Soldaten?

Drei Männer auf Kamelen, die wenig benutzten Wüstenwege waren schwer zu finden. Alle paar Tage: fremde Karawanen, aber keine Lebensmittel. Vereiste Quellen, die aufgeschlagen werden mussten, damit man wenigstens ans Wasser für einen Tee kam. In der ersten Dezemberwoche wurden sie von einem Trupp Bewaffneter gestellt, die sich als Soldaten aus Sinkiang ausgaben, sie sahen aber eher nach Räubern aus.

Mühlenweg traute ihnen nicht, der Mongole Pantje noch weniger, beide flohen lieber zusammen bei Nacht in die Wüste, zu Fuß, eine entschlossene und bald nur noch verzweifelte Anstrengung ins Weglose. Grausam erschöpft fanden sie nach drei Tagen endlich Unterkunft und Hilfe. Es war nicht mehr weit bis Hami. Dort fanden sie einige Kameraden aus einem Vortrupp der Expedition – auch sie als Gefangene des Militärs. Eine Vorweihnachtswoche unter Bewachung nahm ihren Anfang. Denn die Soldaten waren wirklich Grenztruppen. Mühlenweg hatte eine lebensgefährliche Gewaltstour vergeblich unternommen. Ein Muster der Ungeduld dieses jungen Mannes wird deutlich; keine zehn Jahre zuvor war er tollkühn aus französischer Kriegsgefangenschaft geflüchtet; seine Kameraden kamen nur wenige Wochen später regulär frei. Unternehmertum der besonderen Art, das auf den Mehrwert von Abenteuern aus war.

Hami war eine gesegnete Stadt, so kam es den Männern nach der eisigen Wüste vor. Schon an der Zufahrtsstraße wuchsen Pappeln und alte Rundweiden. Die Stadt an der Karawanenstraße zwischen Tientsin und Peking war (zu anderer Jahreszeit) wegen ihrer Melonen berühmt, deren Felder durch ein von weit her geführtes Bewässerungssystem unterhalten wurden. Dass ihre Bewohner in multikultureller Vielfalt lebten – Chinesen, Türken, Dunganen – deutet Mühlenweg an, es verstand sich für Ostturkestan von selbst.

Die Post der Invasionssoldaten wurde umgeleitet

Auf den Postmeister der Stadt richtete sich die größte emotionale Erwartung der Europäer. Die Männer waren schon fast ein Jahr fern von ihren Familien und seit August ohne Briefe. Eine postkoloniale Machtverschiebung wirkte sich aus. Die langnasigen Weißen hatten mit ihrem seltsamen Zug in Richtung Sinkiang einen Argwohn erregt, der im Lauf der Monate bis zum Gerücht einer Invasionsarmee angeschwollen war. Daraufhin leiteten die Behörden in Urumtschi vorsichtshalber alle Postsendungen für die „Sino-Swedish-Expedition“ zur Prüfung nach Peking weiter. Als Fritz Mühlenweg, verlaust, mit verfilzten Haaren und Bart zehn Tage vor Weihnachten in Hami eintraf, fand er weder Pakete noch Briefe vor. Die verunsicherten Männer wollten dann wenigstens einen Baum fürs Fest organisieren.

Mit diesem Wunsch nach einem Weihnachtsbaum und einem Ausflug zur Ablenkung beginnt Mühlenwegs Erzählung… Es ließe sich eine mehrbändige Kulturgeschichte über die Weihnachtsbaum-Phantasien schreiben, an denen sich Europäer jener Generation wärmten. Im immergrünen Baum hielten sich Lichterglanz und das Lametta absterbender Erinnerungen an Familie und Heimatlichkeit. Auch das Innehalten der bürgerlichen Psychodramen für die Zeit des Kerzenscheins.

Beispiele? Der Wahlberliner Harry Graf Kessler hat 1895 aufs frische Grab seines Vaters in Paris einen schön dekorierten Tannenbaum stellen lassen. Walter Benjamin rief sich in seinem Pariser Exil der 30er Jahre Erinnerungen an seine „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ zurück, besonders eindrücklich die heimliche Stunde allein mit dem noch unbeleuchteten Christbaum. Und am Weihnachtsabend 1927, immer noch Tagreisen von Hami entfernt, in einem vom Schneesturm umtobten Zelt, nach einem Tag mit Fleisch von notgeschlachteten Kamelen und verzweiflungsvoll geschafften drei Kilometern Marsch, tröstet sich der Filmoperateur Paul Lieberenz mit der Vorstellung, welche Riten hin zum festlich entzündeten Baum seine Familie in Berlin gerade erlebte. „Man wirft uns Deutschen vor, dass wir sentimental sind“, leitet er die Passage ein. Im Nachbarzelt, geheizt und mit schwedischen Leckereien, suchte Hedin nach einem Baumersatz und fand ihn in einem siebenarmigen Leuchter; (den hat er dann 15 Jahre später, in einem Forschungsbericht seiner Hitler-treuen Zeit, nur noch als „home made candlestick“ erinnert.

Der hilfreiche Postmeister Herr Chen

Als Mühlenweg am ersten Weihnachtsfeiertag seiner Mutter und seiner Schwester in die Konstanzer Kanzleistraße schrieb, konnte er von angenehmen Überraschungen berichten:

„Gestern zum Heiligen Abend, als wir 7 Expeditionsteilnehmer, die vorläufig in Hami zusammentrafen, eben uns mit dem Gedanken vertraut machten, mit gar nichts als einer etwas miserablen Stimmung Weihnachten zu feiern, kamen auf einmal Postpaketchen ins Haus geschneit. Ich war der Reichste, denn ich bekam 13 Pakete mit den schönen Sachen, die ich gerade so sehr gut brauchen konnte. Gleich habe ich mir nach vier Wochen zum ersten Mal wieder die Zähne geputzt, dann wurde Schokolade geschleckt und Stumpen geraucht. Da auch die anderen Paketchen bekommen hatten, wurde gegenseitig großartig geschenkt. Und auf einmal war der Weihnachtsbaum, den wir durch Vermittlung eines freundlichen Chinesen aus Barkul bekamen, nicht umsonst geschmückt worden.“

Der hilfreiche Postmeister Herr Chen, den Mühlenweg später zu einer stillen Hauptfigur im „Christbaum von Hami“ machte, es gab ihn also wirklich. In Sven Hedins Bericht „Auf großer Fahrt“ ist er auf einem Foto zu sehen, ein freundlicher, bebrillter Herr, der in modisch-europäischem Mantel und Pelzmütze vor einem Wandteppich postiert, zusammen mit seinem verlegen blickenden Töchterchen. Vielleicht hat er den Christbaum telegrafisch bestellt, zur Lieferung über die Karawanenstraße, die von Barkul her nach Hami führte, drei-vier Tagesritte entfernt.

Als die Expedition Anfang Februar 1928 dann nach Urumtschi aufbrach, verabschiedete der Postmeister seine europäischen Freunde mit einem Gastmahl aus 38 Gängen, die er einen nach dem anderen in deren Gästehaus servieren ließ. Er selbst blieb dem Abschiedsessen fern, wohl aus politischer Vorsicht, denn die Fremden waren in einflussreichen Kreisen immer noch nicht so herzlich willkommen, wie es Hedin sehen wollte. Letztlich schenkte er aber sein Essen so wie er den Weihnachtsbaum in der Geschichte offeriert hatte: aus einem großzügigem Abstand.

In der Erzählung nehmen die Europäer einen Fuchsschwanz mit, um den Christbaum zu fällen. Sie fanden ihn dann zwar nicht… Aber es gibt eine geheime Schnittstelle dieses Bäumchens, die noch auf eine ganz andere Herkunft deutet. In Mühlenwegs Text liegt es zur großen Verblüffung der Europäer auf einmal am Weg, wie vom Himmel gefallen. Gut möglich, dass sich der listige Erzähler im Stillen so die Überblendungen von zwei ganz unterschiedlichen Erinnerungsfilmen an Weihnachten in der Gobi leistete.

Denn auch bei Mühlenwegs letztem Aufenthalt in der Mongolei kamen die Männer überraschend zu einem Bäumchen. Es wurde von einem Flugzeug gebracht (einer einmotorigen, wassergekühlten Junkers W-33, Reisegeschwindigkeit 170 km/h, wie den Erinnerungen des Bordmonteurs Max Springweiler zu entnehmen ist). Mühlenweg hat damals das erste Flugzeug gesehen, das von Peking aus den Edsingol erreichte, in nur einem Tag. Auf Kamelrücken, so rechneten sich die Männer im Zelt aus, hätte das Bäumchen 70 Tage gebraucht. Mühlenweg spürte den eisigen Hauch einer technischen Weltbeschleunigung. Der schwedische Geologe Nils Hörner schwärmte noch nach Jahrzehnten von dem Bäumchen „that just had come from heaven“. Er hatte an jener Weihnacht 1931 am Edsingol auch zahlreiche frischgemalte Aquarelle an der Zeltwand gesehen. Der Kaufmann Mühlenweg, dem die Familie in Päckchen einen Malkasten nachschickte, hatte in der Gobi etwas erlebt, was er als seine Berufung zum freien Künstler deutete. Malerei wurde nach seiner Rückkehr nach Europa der Anfang.

Autor: Ekkehard Faude