Blankoscheck für die Schweizer Atomindustrie
AKWs verursachen schon im Normalbetrieb gesundheitliche Schäden. Das belegen immer mehr Studien. Trotzdem sollen in der Schweiz neue Anlagen gebaut werden, teilweise nur wenige Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Frühestens in drei Jahren können die Schweizer StimmbürgerInnen darüber befinden. Doch zur Abstimmung kommt wohl nur ein Blankoscheck für die Atomindustrie. Und das stärkt die Protestbewegung.
Rund um die deutschen und Schweizer Atomanlagen fehlen Tausende von Kindern – insbesondere Mädchen. Konkret ist die Rede von bis zu 20?000 Mädchen, die in den letzten vierzig Jahren «verloren gegangen sind», weil ihre Mütter während der Schwangerschaft in der Umgebung von AKWs gelebt haben. Das belegt eine soeben erschienene Studie (mehr darüber in zwei, drei Tagen auf seemoz)). Sie dürfte die Atomdebatte neu befeuern: Bislang wusste man aufgrund der deutschen Kinderkrebsstudie, dass in der Nähe der Atommeiler überdurchschnittlich viele Kinder an Leukämie erkranken. Die neue Studie legt nun aber nahe, dass das Problem noch gravierender ist und Embryonen so stark geschädigt werden können, dass sie absterben.
Die AKW-Frage treibt die Schweiz um wie seit bald zwanzig Jahren nicht mehr. In Bern und St.?Gallen kommen am 28. November Vorlagen vor das Stimmvolk, die von den städtischen Stromversorgern den schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie verlangen. Die Stadt Zürich hat schon entschieden, sich vom Atomstrom zu verabschieden. Basel lebt bereits atomstromfrei.
Drei neue Atomkraftwerke
Gleichzeitig werden neue AKW-Projekte konkreter. Am vergangenen Montag stellten das Bundesamt für Energie (BFE) und das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) ihre Gutachten zu den Rahmenbewilligungsgesuchen für die geplanten drei Atommeiler vor. Es geht dabei um das sogenannte Ersatzkernkraftwerk Mühleberg bei Bern, das Ersatzkernkraftwerk Beznau nördlich von Baden und das Neubauprojekt Niederamt bei Gösgen. Die ersten beiden Projekte werden vom bernischen Unternehmen BKW FMB Energie und dem Ostschweizer Energiekonzern Axpo gemeinsam vorangetrieben. Das AKW Niederamt hingegen wird von der Alpiq geplant, die zu fast einem Viertel dem französischen Energieriesen Electricité de France (EDF) gehört.
Die Rahmenbewilligungsgesuche sind wichtig, weil gemäß dem neuen Kernenergiegesetz über sie abgestimmt werden kann. Damit möchte man ein zweites Kaiseraugst verhindern: 1975 besetzten AKW-GegnerInnen das Baugelände, es entstand daraus eine der stärksten Schweizer Politbewegungen. Das soll nicht noch einmal passieren. Deshalb unterstehen alle nuklearen Neubauprojekte dem fakultativen Referendum. Schon in drei Jahren könnte über die neuen Meiler abgestimmt werden.
Doch worüber genau? Im Rahmenbewilligungsgesuch steht wenig, was wirklich relevant ist. Die AKW-Bauer müssen sich darin nicht einmal darauf festlegen, wie groß ihre Anlagen werden sollen. Man erfährt nicht, welchen Reaktortypen sie planen, einen Siede- oder einen Druckwasserreaktor. Der Siedewasserreaktor gibt im Normalbetrieb mehr Radioaktivität ab als der andere Typ – was in Anbetracht der Diskussion über die Kinderleukämie und die «verlorenen Mädchen» von Bedeutung ist.
Das Chaos von Olkiluoto
In den Rahmenbewilligungsgesuchen steht auch nicht, welches Reaktormodell von welchem Hersteller gebaut wird. Man wird also bei der Abstimmung nicht wissen, wie das Ding aussieht, welche sicherheitstechnischen Probleme es hat, wer es baut, wie teuer es wird. Das alles zu wissen, wäre jedoch zentral. Denn mit dem Vorzeigeneubau, dem Europäischen Druckwasserreaktor EPR, der zurzeit im finnischen Olkiluoto hochgezogen wird, läuft vieles schief. Den Reaktor baut Areva, eine staatliche Schwesterfirma der EDF. Ursprünglich hätte er vor einem Jahr ans Netz gehen sollen, nun heißt es, er sei vermutlich 2013 fertig. Die Baukosten steigen unablässig, haben sich schon fast verdoppelt und erreichen bald sechs Milliarden Euro.
Vor einem Jahr warnten zudem die Atomaufsichtsbehörden von Finnland, Frankreich und Britannien in einer gemeinsamen Stellungnahme vor den Konstruktionsproblemen des EPR. Das normale Betriebssystem des Reaktors und das Sicherheitssystem sind so stark miteinander vernetzt, dass es zur Katastrophe kommen könnte. Gut möglich, dass der EPR auch in der Schweiz gebaut wird – weil die EDF ein großes Interesse haben dürfte, bei Gösgen einen ihrer französischen Reaktoren hinzustellen.
Kantone ohne Macht
Auch dem Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat scheint das Durcheinander in Olkiluoto nicht geheuer. Dezent, doch unmissverständlich verlangt es im Gutachten: Die Kraftwerksbauer hätten für die «Projektierungs- und Auslegungsphase sowie für die Bauphase ein Managementsystem zu implementieren». Dazu schreibt das Ensi: «Die Managementtätigkeiten beeinflussen die Sicherheit und Qualität der Abläufe (…). Einerseits können Probleme, welche auf Mängel im Management bezüglich Sicherheit und Qualität in früheren Projektphasen zurückzuführen sind, häufig nicht mehr rückgängig gemacht werden. Andererseits ist eine nachträgliche Überprüfung von bereits erfolgten Tätigkeiten und Prüfungen kaum mehr möglich.»
Das ist eine höfliche Umschreibung des Chaos von Olkiluoto: Dort wurde das Betonfundament schludrig gegossen, mit falschen Plänen gearbeitet, und Arbeiten wurden wegen Zeit- und Spardruck schlecht ausgeführt.
In seinen Gutachten macht das Ensi noch weitere Auflagen. Unter anderem muss bei Mühleberg genauer untersucht werden, ob der Hang hinter dem geplanten Atomkraftwerk nicht rutschen könnte. Beim Beznau-Standort muss hingegen abgeklärt werden, ob ein starkes Hochwasser die Atomanlage gefährden könnte. Der neue Reaktor soll auf dieselbe Aareinsel gebaut werden, auf der Beznau I und II stehen – das Gutachten sagt nichts darüber aus, ob ein solches Hochwasser auch diese beiden Reaktoren gefährden würde.
Haben die AKW-Bauer einmal die Rahmenbewilligung erhalten, können die Kantone nicht mehr mitreden. Bei der Baubewilligung haben sie nichts mehr zu sagen – dabei werden erst dann die delikaten Details festgelegt. Das Kernenergiegesetz sieht vor, dass die AKW-Bauer keine kantonalen Baubewilligungen brauchen. Alle Bewilligungen kommen direkt vom Umwelt- und Energiedepartement Uvek, das inzwischen von der atomstromfreundlichen CVP-Bundesrätin Doris Leuthard regiert wird.
Die Stimmberechtigten dürfen nur über die Rahmenbewilligungsgesuche abstimmen, in denen eigentlich nichts steht – womit einer Technologie mit gemeingefährlichen Nebenwirkungen ein Blankoscheck ausgestellt wird. Ein neues Medikament, das Fehlgeburten im selben Ausmaß provoziert, wäre längst verboten.
Ein „heißer“ Fahrplan
Laut Vorgaben des Bundesamtes für Energie (BFE) hat die Eidgenössische Kommission für nukleare Sicherheit bis Ende 2010 noch Zeit für ihre Stellungnahme zum Rahmenbewilligungsgesuch. Danach stehen den Kantonen drei Monate zur Verfügung, um sich zu äußern. Mitte des nächsten Jahres werden die Gesuche dann öffentlich aufgelegt, allerdings sind sie schon heute auf der Website des BFE einzusehen.
Im Frühling 2012 soll die Botschaft vorliegen, dann wird das Geschäft in den Räten behandelt. Die Frist für die Unterschriftensammlung begänne demnach im Frühling 2013, womit die Abstimmung noch Ende 2013 stattfinden könnte. Die Baubewilligungen dürften bis 2017 erteilt werden, zwischen 2025 und 2027 sollten die Anlagen den Betrieb aufnehmen.
Autorin: Susan Boos/WOZ