Neues Leben nach dem Beben?

Acht Monate ist es her, dass in den italienischen Abruzzen die Erde bebte und die Stadt L’Aquila zerstört wurde. 300 Menschen sind am 6. April 2009 ums Leben gekommen, 58000 haben ihre Heimat verloren. Der Wiederaufbau kommt nur schleppend voran.  Monika Küble und Henry Gerlach aus Konstanz  haben sich vor Ort umgesehen.

Zwar haben sich alle wichtigen Minister schon einmal medienwirksam im Katastrophengebiet sehen lassen und das Blaue vom Himmel herab versprochen. Doch geschah zunächst wenig, sodass eine Abordnung der Erdbebenopfer im Sommer eine Protestdemonstration nach Rom unternommen hat, worauf weitere Versprechungen folgten.

Auch dass der italienische Regierungschef  Silvio Berlusconi den G-8-Gipfel nach L’Aquila verlegte, löste bei den Bewohnern wenig Begeisterung aus, weil dadurch die Arbeiten eher gestört als gefördert wurden. Die Leute in den 180 Zeltlagern wurden schließlich ungeduldig; den Ratschlag Berlusconis, das Ganze als Campingurlaub zu sehen, hatten sie lang genug befolgt.

Die Mafia ist mit von der Partie

Mittlerweile sind die Zeltunterkünfte abgerissen und die Obdachlosen in provisorische Holzhäuser umgezogen, deren Bau zwar vom italienischen Roten Kreuz finanziert wurde, die Premier Berlusconi aber trotzdem als „seine“ Häuser bezeichnet. Etwa 20000 Menschen sind noch in Hotelzimmern in Ortschaften an der Adria einquartiert. Wo neu gebaut wird, sind die Wohnungen überteuert und die Mafia hat die Hände im Spiel.

„Die Menschen in L’Aquila sollten aus unserer Erfahrung lernen!“ sagt Aldo di Bernardo aus Venzone im Friaul. Er ist einer, der es wissen muss.

6.Mai 1976, 21 Uhr. Es war ein heißer Tag, fast sommerlich, und die Menschen im Norden der Region Friaul-Julisch Venetien, in Gemona, Venzone oder Osoppo, sitzen beim Abendessen. Plötzlich eine leichte Erschütterung, nur kurz. Alle atmen auf, glauben sich wieder sicher. Doch nur Augenblicke später bricht die Hölle los. Ein Erdbeben der Stärke 6,5 auf der Richterskala erschüttert fast eine Minute lang die Region um den Tagliamentofluss, am Übergang zwischen Karnischen und Julischen Alpen.

Noch am gleichen Abend wird ein Radiosprecher mit erstickter Stimme berichten: „Osoppo hat aufgehört zu existieren…. Gemona ist eine Stadt der Toten und Verletzten. Venzone ist ein einziges Trümmerfeld. Und genauso sieht es in Buia, Magnano, Artegna,… aus.“ Die Liste der Orte, wo es genauso aussieht, geht noch unendlich lange weiter. Ein Gebiet von 5000 qkm wurde erschüttert, 989 Tote und tausende von Verletzten sind zu beklagen, etwa 80000 Menschen haben ihr Heim verloren.

2500 Erdstöße in wenigen Monaten

In den folgenden  Monaten werden weitere 2500 Erdstöße dem ersten verheerenden folgen, noch einmal 12 Tote wird ein zweites großes Beben am 15. September des gleichen Jahres fordern. Erst dann beruhigt sich die Erde langsam wieder.

Der Norden des Friauls liegt in einer seismischen Zone, wo sich die Afrikanische unter die Eurasische Litosphärenplatte schiebt und dabei die Erdkruste anhebt. So entstehen immer wieder Erdbeben: 200 große sind seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1115 registriert worden. Dennoch waren die Häuser nicht besonders standfest, als 1976 die Erde erzitterte. Eine Ursache dafür lag wohl in der Armut dieser Region, die einen der höchsten Anteile an Emigranten in Italien zu verzeichnen hat. Außerdem hatte man nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs nur an den schnellen Wiederaufbau gedacht. Und so schien es auch jetzt wieder zu sein.

Eine unglaubliche Welle der Solidarität lief an, und in dieser Situation erwiesen sich die vielen friulanischen Emigranten im Ausland als Segen: Aus Kanada, Argentinien, den USA, Deutschland und Österreich trafen in kürzester Frist Menschen und Material ein, um Zeltstädte, Notkrankenhäuser und Ersatzschulen für die Obdachlosen zu errichten. Die Regierung in Rom tat ein Übriges. Sie ernannte einen Sonderkommissar für das Erdbebengebiet, Giuseppe Zamberletti. Der reiste sofort ins Friaul, im Gepäck ein Gesetz, das die Verantwortung für den Wiederaufbau der Region selbst übertrug. Und diese wiederum gab den Auftrag an die Bürgermeister der einzelnen Gemeinden weiter:

„Das Gesetz ist für Menschen – nicht für die Bürokratie“

Sie waren bevollmächtigt, die Aufbauarbeiten vor Ort zu koordinieren und die notwendigen Anträge zu stellen, denn sie hatten den Überblick, was die Menschen in ihren Gemeinden benötigten. Für jedes Aufbauprojekt, privat oder öffentlich, gab es 40% Anzahlung im Voraus, 40% während der Aufbauarbeiten, und die restlichen 20% wurden nach Fertigstellung der Gebäude erstattet. Das Geld kam vom Staat, von der Region, von der Provinz und aus privaten Spenden. „Alle Geschädigten müssen nach den Vorgaben des Gesetzes entschädigt werden, und das Gesetz wurde für die Menschen, nicht für die Bürokratie gemacht!“ lautete das Credo von Salvatore Varisco, dem Vorsitzenden der regionalen Erdbebenkommission, der mit Zamberletti zusammenarbeitete.

Die Erdbebengeschädigten hatten vor allem ein Ziel: So schnell wie möglich ihre Häuser wieder zu errichten. Sie arbeiteten Tag und Nacht, bis das zweite große Beben vom 15. September alles zerstörte, was noch stand oder halb wieder aufgebaut war. Weil die meisten Leute immer noch in Zelten hausten, gab es nur 12 Tote. Aldo di Bernardo, Tourismus-Chef und Dombaumeister in Venzone, Erdbeben-Überlebender und studierter Erdbebeningenieur, sagt dazu: „So tragisch der Tod dieser Menschen war, muss man doch sagen, dass dieses zweite Beben letztendlich ein Glück für die Region war!“ Denn erst nach der kompletten Zerstörung im September besannen sich Betroffene wie Politiker, den Wiederaufbau systematischer und vor allem erdbebensicher zu betreiben.

Doch es wurden noch andere Maßnahmen ergriffen. In ganz Italien wurde von nun an der Zivilschutz neu aufgebaut. Und auf ein Volksbegehren der Erdbebenbetroffenen hin wurde 1978 in der Provinzhauptstadt Udine eine neue Universität gegründet, an der Studenten sich zu Erdbebeningenieuren, Traumamedizinern oder Restauratoren ausbilden lassen konnten. Heute umfasst diese Universität 10 Fakultäten mit fast 100 verschiedenen Studiengängen für 11000 Immatrikulierte.

Einer, der hier schon vor Jahren seinen Abschluss gemacht hat, ist Aldo di Bernardo. Als kleines Kind hat er in seinem Heimatstädtchen Venzone das Erdbeben miterlebt. Heute stellt Venzone eines der herausragenden Beispiele für den Wiederaufbau dar. An der engsten Stelle des Tagliamentotales gelegen, dort, wo die Straße nach Norden dicht am Fluss entlang führt und die Berge rechts und links auf 2000 Meter ansteigen, war der Ort schon seit römischer Zeit eine wichtige Durchgangsstation für Waren und Menschen.  Der Stadtkern stammt aus dieser Zeit: ein mittelalterliches Juwel mit komplett erhaltenen Stadtmauern, einem gotischen Dom und gar einer Kapelle mit Mumien aus dem 17. Jahrhundert – Domherren, die aufgrund eines Pilzes im Untergrund der Kirche in ihren Gräbern konserviert wurden. Wegen des mittelalterlichen Stadtbildes war Venzone 1965 zum „Monumento Nazionale“ erklärt worden. Und im September 1976 war es vollkommen zerstört.

Eine Zeitlang wurde diskutiert, ob der Ort an der alten Stelle wieder aufgebaut oder woanders komplett neu errichtet werden sollte. Dann entschieden sich die Bewohner, die Stadt wieder aufzubauen, wo und wie sie gewesen war, allerdings mit sichtbaren „Nähten“ zwischen stehen gebliebenen Resten und rekonstruiertem Mauerwerk. Die Methode, derer man sich bediente, wird „Anastilosis“ genannt. Dafür werden alle Steine in den Trümmern genau analysiert, katalogisiert und nummeriert, so dass man sie am Ende wie bei einem Puzzle wieder an der richtigen Stelle des Gebäudes einsetzen kann.

Dieses Puzzle wird auf der Erde vorgefertigt, um dann Stück für Stück aufgemauert zu werden. Danach werden die Lücken mit neuen Teilen ergänzt. Etwa 12000 Einzelstücke wurden allein beim Dom auf diese Weise wieder zusammengefügt. Doch zwischen die innere und äußere Mauer wurde nun Beton eingefügt, der eventuellen Erdbeben einen wirksamen Widerstand entgegensetzen kann. Nach und nach wurde die ganze Stadt mit dieser Methode restauriert. Sogar die Mumien haben die Katastrophe „überlebt“ und sind wieder in der Krypta der San-Michele-Kapelle beim Dom ausgestellt.

Venzone ist heute lebendiger denn je, ein beliebter Touristenort mit einem didaktisch hervorragend aufbereiteten Naturkundemuseum, einer malerischen Piazza und verwinkelten Gässchen und Hinterhöfen. Lebten vor dem Erdbeben 200 Einwohner im Zentrum, so sind es heute 400. Im Oktober wird ausgelassen das historische Kürbisfest gefeiert, die „Festa della zucca“. Viele Wanderrouten beginnen in Venzone, und Schulklassen veranstalten ihre Ausflüge hierher. Dann erfahren die Kinder, was ein Erdbeben anrichten kann und was daraus entstehen kann, wenn die Betroffenen schnell unbürokratische Hilfe erhalten und die Region selbst die Organisation des Wiederaufbaus in die Hand nehmen kann.

Autor: Monika Küble