Der neue Kraftort am Seerhein
Die Wogen um die zum Teil abgeholzte Pappelallee im Tägermoos haben sich mittlerweile ein wenig geglättet. Bis die kürzlich beschlossenen Nachpflanzungen beginnen, wird es aber noch eine Weile dauern. Ungenutzt bleiben die auf den ersten Blick armselig anzuschauenden Pappelstümpfe allerdings nicht. Im Gegenteil, die kläglichen Reste der einst stattlichen Bäume erfreuen sich großer Beliebtheit. Der Zulauf ist enorm, das Tägermoos wird Kultstätte
Seit Monaten schon gilt die geschändete Allee als bevorzugte Adresse für seltsam anmutende Freizeitaktivisten. Vor allem die stetig wachsende Konstanzer Yoga-Gemeinde hat das Tägermoos für ihre Outdoor-Termine entdeckt. Waren es anfangs nur wenige, die versuchten, ihre Körper mit den verbliebenen Baumresten in Einklang zu bringen, tummeln sich nun vor allem an Wochenenden Dutzende in der Allee.
Satya Singh Vertösi, zertifizierter Baumyoga-Lehrer aus Siebenbürgen und im Hauptberuf Vertriebsleiter für karmafreie Algenpräparate, versammelt seine Gruppe dreimal die Woche vor Ort. „Anfangs“, so der braungebrannte Mitvierziger im Muscle-Shirt, „waren wir zu fünft, heute sind wir zwanzig und täglich kommen neue dazu“. Maximal vierzig Baum-Yogisten möchte er insgesamt aufnehmen, „aber dann ist Schluss, denn mehr Baumstümpfe gibt’s hier ja leider nicht“. Eines steht für Vertösi aber außer Frage: „Die abgesägten Hybridpappeln sind bestens geeignet für die Abgabe und Aufnahme feinstofflicher Energien von allerbester Qualität“.
Peter M. (Name der Redaktion bekannt) ist seit Juni bei der Gruppe, fühlt sich seitdem „wunderbar ausgeglichen“ und lässt uns an seinem Baumritual teilhaben. Er kniet vor einem Baumstumpf, schließt die Augen, senkt seinen Kopf ganz langsam, und fast zärtlich gleiten seine Hände über die noch vorhandene Rinde. Diese Prozedur wiederholt er mehrere Male. Dann steht er auf, strafft seinen drahtigen Körper, steigt vorsichtig auf den Baumstumpf, verfällt in tiefe Flachatmung und richtet seine gefalteten Hände gen Himmel. Später wird er sagen, soviel positive Energie habe er „noch nie gespürt“. Yoga-Lehrer Vertösi nickt zufrieden und weiß im anschließenden Gespräch zu berichten, dass sich auch die Konstanzer Stadtverwaltung schon bei ihm gemeldet hätte. „Ein Herr Langensteiner-Schönborn hat für sich und seine ganze Abteilung nach einem Schnupperkurs gefragt, möchte aber nicht, dass das publik wird“. Man stünde in konkreten Verhandlungen und es seien nur noch die genauen Termine abzuklären.
Doch nicht nur Baum-Yogisten haben das Gelände am Seerhein als ganz besonderen Kraft- und Energieort erkoren. Auch eine andere Gruppe, bestehend aus fünf hochschwangeren Frauen, hat ihre gymnastische Übungsstunde kürzlich ins Tägermoos verlegt. Jeweils kurz vor Sonnenuntergang tauchen sie im Schlepptau einer freiberuflichen Hebamme in der Allee auf, pressen sanft ihre gewölbten Leiber auf die Pappelstümpfe und lassen sie bedächtig auf der glatten Fläche kreisen. Just in diesem Moment kommt eine ältere Dame des Wegs, die angesichts der absurden Szene laut und vernehmlich zischt: „Glauben Sie wirklich, dass das Ihrem Kind gut tut?“ Eine Angesprochene richtet sich abrupt auf: „Warum denn nicht, Pinocchio war doch auch glücklich“.
H. Reile