Döner tanzt Samba

Kaum kommt der Sommer ein wenig auf Touren, drehen einige Staatenlenker kräftig hohl. An vorderster Front gebärdet sich der türkische Premier Erdogan wie ein wildgewordener Derwisch, dem der Sinn nach ausufernden Veitstänzen steht. Anfangs waren es nur wenige seiner Bürgerinnen und Bürger, die aufmuckten und ein lauschiges Plätzchen in der Istanbuler Innenstadt nicht dem Kommerz überlassen wollten. Da hatte es die türkische Regierung noch leicht, dem Protest unaufgeregt ins Auge zu blicken

Sie tat das, was sie am besten kann: Knüppelnde „Sicherheitskräfte“ droschen auf die Demonstranten ein, dazu jede Menge Tränengas und Hartgummigeschosse hinterher. Auch Grünen-Chefin Claudia Roth war vor Ort und beklagte anderntags vor internationalen Kameras, dass der Einsatz von Tränengas in der Tat den menschlichen Tränenfluss vermehre. Die Betroffenheitsbeauftragte der deutschen Politik war sich ansonsten bei ihren Türkeibesuchen nie zu schade, zusammen mit Erdogan vor Fotografen zu posieren. Da scheint eine seltsame Freundschaft ein jähes Ende gefunden zu haben. Tränen lügen eben doch nicht.

Wie gesagt, bislang hatte Erdogan die vereinzelt aufflackernden Widerstände gegen ihn und sein Regime gut im Griff, doch diesmal scheint die Rechnung nicht aufzugehen. Obwohl in der Türkei systemkritische Journalisten schikaniert und eingesperrt werden – nirgendwo sonst auf der Welt sitzen soviele Medienschaffende im Knast – läuft den dortigen Machthabern die Geschichte gewaltig aus dem Ruder. Seit Wochen schon demonstrieren Hunderttausende zwischen Istanbul und Ankara und fordern Erdogan und seine Regierung zum Rücktritt auf. Die Clique um den erzkonservativen Regierungschef glaubt nun, noch massivere und brutalere Gewalteinsätze seien das geeignete und auch einzige Mittel, den landesweiten Aufstand zu ersticken. Das könnte, das wird schief gehen.

Parallelen zu den 60-er Jahren

Irgendwie erinnert die derzeitige Situation am Bosporus an ähnliche Geschehnisse im Europa der späten 1960-er Jahre. Auch in Deutschland machten sich vor allem junge Leute bemerkbar und verlangten nach mehr Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung. Die Mehrheit der braven Spießbürger zwischen Flensburg und Konstanz zeigte sich entsetzt und fassungslos. Ihre Söhne und Töchter waren ihnen über Nacht fremd geworden. Die Nachkriegsgeneration schaute nur nach vorne und wähnte ihre Mittäterschaft bei den braunen Massenmördern längst vergessen. Daran wollte man nicht mehr erinnert werden. An erster Stelle stand der Aufbau eines zerbombten Landes, die Steigerung des Bruttosozialprodukts, die bösen Erinnerungen wurden allesamt aus dem Gedächtnis gestrichen und die alten Seilschaften waren schnell wieder obenauf.

Aber dann gebärdeten sich die Nachfahren der braven Aufbaudeutschen äußerst renitent, sangen garstige Lieder, ließen sich das Haupthaar wachsen, küssten sich ungeniert in der Öffentlichkeit, verweigerten den selbstgefälligen Eliten den Respekt, rebellierten gegen das Establishment und propagierten die radikale Umgestaltung eines verknöcherten Systems. Schnell fielen wieder Begriffe, die man noch früher kannte: „Ihr dreckigen Gammler gehört doch alle ins Arbeitslager oder gleich vergast“ und dergleichen Freundlichkeiten mehr.

Türkei und EU

Auch Erdogan will die Zeichen der Zeit in seinem Land partout nicht verstehen. Unter seiner Führung wurde die Türkei innerhalb eines knappen Jahrzehnts zu einer wirtschaftlichen Macht und tritt auch dementsprechend selbstbewusst und großmäulig auf. Doch dass plötzlich der Widerstand gegen ihn und seine Politik zu einer Massenbewegung geworden ist, will Erdogan so gar nicht einleuchten. Er glaubt tatsächlich, die Revolte, die sich zum Flächenbrand ausgeweitet hat, würde von wenigen „Vandalen“ und „Terroristen“ gesteuert und auch das feindliche Ausland habe da seine schmutzigen Finger im Spiel.

Anstatt auf die Wünsche seiner BürgerInnen einzugehen, sie anzuhören und zu verhandeln, lässt er seine Muskeln spielen und droht mit dem Einsatz von „Sicherheitskräften“, sprich Militär und kampferprobten Sondereinheiten. Somit schüttet der islamische Oberdöner ohne einen Funken Verstand für die brisante Lage Öl in die bereits lodernden Flammen. Dann darf er sich nicht wundern, wenn ihm bald der ganze Laden um den Schnauzbart fliegt. Wie war das nochmal? Die Türkei sei auf dem besten Wege, in die EU aufgenommen zu werden? Da nehmen sie zwar mittlerweile fast jeden, bei dem noch irgendwas zu holen ist, aber das Thema scheint bei der derzeitigen Lage erstmal auf einer ganz langen Bank zu schlummern.

Aus und vorbei ist´s mit der albernen Samba-Idylle

Ein Stück weiter weg, unten links auf der Weltkarte, hat eine andere Ethnie ebenfalls gehörig die Schnauze voll von staatlich gelenkter Korruption, Machtmissbrauch und Vetternwirtschaft. In Brasilien brodelt es gewaltig und auch der Einsatz militärischer Knüppelhorden mag die Situation nicht beruhigen. Aus und vorbei ist´s mit der albernen Samba-, Zuckerhut- und Copacabana-Idylle, die der vertrottelte Tourist aus dem fernen Europa mit sich herum schleppt und überdies glaubt, der Brasilianer an sich spiele von früh bis spät nur Fußball, oder flaniere am Strand und habe ansonsten keinerlei Ansprüche.

Ziemlich falsch gedacht, denn seit Wochen demonstrieren Hunderttausende im ganzen Land und bringen ihre Regierung gehörig ins Schwitzen. Mit ein Anlass der auch für Brasilien ungewöhnlichen Proteste: Nächstes Jahr findet dort die Fußball-Weltmeisterschaft statt und Milliarden Euro werden für neue Stadien verbaut. Heute schon weiß man, dass diese Prestigetempel nach der vierwöchigen WM-Sause leer stehen, weil sie eigentlich keiner braucht.

Was sie aber tatsächlich brauchen, wissen die Brasilianer ganz genau: Geld für bessere Bildung, für ihr marodes Kranken- und Sozialsystem, für Kindergärten, für menschenwürdige und auch bezahlbare Wohnungen, für halbwegs sichere Arbeitsplätze – und genau das fordern immer mehr und machen Druck. Die Ameisen überall auf der Welt wachen langsam auf und das ist ein gutes Zeichen. Nur der deutsche Holzmichel verharrt in Agonie und wartet sehnlichst auf die kommende Bundesligasaison. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Meint Ihr kratzbürstiger Hegauritter

Franz Holz