Egg vor einem Exodus?

seemoz-weegieEs brodelt gewaltig in dem kleinen Stadtteil am Rande von Konstanz. Seit langem schon fühlen sich viele EggerInnen benachteiligt und vom Rest der Welt abgenabelt. Nun denken einige sogar daran, ihre Heimat zu verlassen und andernorts um Asyl zu bitten. Vor allem die geplante Anschluss-Unterbringung von Flüchtlingen treibt die Stimmung in dem einst beschaulichen Dorf offensichtlich unaufhaltsam in Richtung Siedepunkt. Unser Reporter war vor Ort und kam sehr nachdenklich zurück.

Ich sitze mit Freimut Protzky, Marion Engels und Hilmar Kracht auf der Egger Wiese. Der einst belebte Spielplatz und frühere Treffpunkt für Jung und Alt ist längst verwaist und von Unrat übersät, das Karussell ist nur noch schwer als solches zu erkennen. Kein glückliches Kinderlachen mehr, Tristesse pur, ein Ort, den es vielleicht bald nicht mehr geben wird. Die umliegenden Häuser machen einen verwahrlosten Eindruck, vor jedem zweiten steht ein Schild: „Günstig zu verkaufen“. Doch wer möchte schon freiwillig in diese heruntergekommene Gegend ziehen: Der Putz bröckelt überall, die Gärten sind verwildert, verrostete Automobile stehen auf den Straßen. Ein Bild des Jammers.

Vorherbstliche Kühle zwängt sich durch den wolkenverhangenen Abendhimmel und meine Gesprächspartner sind spürbar um Fassung bemüht. „Die Stadt Konstanz hat uns einfach vergessen und verraten“, sagt Protzky mit leiser Stimme. Kracht und Engels nicken stumm, ihre Blicke zeugen von Trauer und Verzweiflung. Vor langer Zeit seien sie mit ihren Familien hierher gezogen, weil sie etwas aufbauen wollten, sich ein Leben in Freiheit, Wohlstand und Sicherheit erhofft hatten. Doch alle Versprechungen der Verwaltung wurden nicht eingehalten. „Als wir vor zwanzig Jahren hierher kamen“, sagt Marion Engels, „da sollte auf unserer Egger Wiese noch ein Kindergarten gebaut werden – auf den warten wir bis heute“. Man habe nun Konsequenzen gezogen, erklärt die gebrochene Frau: „Die erste Generation unserer Kinder ist nahezu ohne Bildung aufgewachsen, die Analphabetenquote liegt mittlerweile bei rund 60 Prozent, denn auch eine Schule gibt es hier nicht“.

Und schlimmer noch: „Mehrere Familien haben ihre Kinder nun mit Hilfe von oberschwäbischen Schlepperbanden über den See nach Meersburg oder Überlingen gebracht. Das hat unsere letzten Ersparnisse aufgebraucht, aber das ist uns die Sache wert“. Engels hofft, dass auch ihre Familie bald den gefährlichen Weg über das Schwäbische Meer antreten kann. Man habe bei mehreren Gemeinden am anderen Seeufer bereits um Aufnahme gebeten, aber die Antworten seien allesamt sehr ernüchternd gewesen. Egg, so heißt es in allen Absagen, gelte immer noch als „sicheres Herkunftsdorf“ und die Unterbringung von „Wirtschaftsflüchtlingen, Sozialschmarotzern und Scheinasylanten“ käme nicht in Frage.

Protzky und Kracht, beide arbeiten als Pförtner bei einer Konstanzer Security-Firma, wissen über ähnliche Schwierigkeiten zu berichten, die ihnen das Leben und den grausamen Alltag vergällen: „Habt Ihr Konstanzer eigentlich noch nicht gehört, dass hier nur alle fünf Tage ein Bus kommt, der uns in die Stadt bringt?“ So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als täglich um drei Uhr morgens zu Fuß loszuziehen, um pünktlich ihren Arbeitsplatz zu erreichen. „Dort“, so Protzky, „kommen wir dann völlig übermüdet an und es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis wir unseren Job und damit den Rest unserer jämmerlichen Existenz verlieren“. Kracht ergänzt und weist auf weitere elementare Mängel hin, unter denen die EggerInnen zu leiden haben: „Kein Arzt, keine Apotheke, kein Laden, kein Restaurant, keinerlei Infrastruktur, einfach null“. So bliebe den geplagten Einwohnern am Rande der Zivilisation nichts anderes übrig, als ins zehn Kilometer entfernte Allmannsdorf zu laufen, um sich dort das Nötigste zu besorgen. „Und der Weg dorthin ist beschwerlich, es geht immer nur bergauf“, empört sich Kracht und streicht mit fahrigen Händen durch sein schütteres Haar.

Dass nun die Konstanzer Verwaltung plant, die Egger Wiese mit einer Anschluss-Unterbringung für Flüchtlinge zu bebauen, bringt die ansonsten friedlichen Dörfler vollends in Rage. Aber aus einem anderen Grund wie allgemein behauptet. Sie wehren sich vor allem gegen die Unterstellung, sie seien ausländerfeindlich oder sogar rassistisch eingestellt. „Das ist eine unglaubliche Schweinerei“, sagen alle drei, „wir wollen nur verhindern, dass die armen Menschen, die es von weither und oft unter Einsatz ihres Lebens nach Deutschland geschafft haben, in Egg einquartiert werden, wo es ihnen dann ähnlich dreckig geht wie uns. Das ist unsere Botschaft und nichts anderes. Schreiben Sie das bitte, sagen Sie das den Ahnungslosen in der Stadt, wir brauchen endlich Hilfe“.

Wir verabschieden uns schweigend voneinander und ich fahre noch einmal durch das Dorf. Lose Fensterläden klappern im Wind, abgemagerte Katzen schleichen um die Häuserecken. In manchen Vorgärten haben sich Menschen um Mülltonnen versammelt, in denen ein wärmendes Feuer brennt. Es ist sehr still in Egg und am gegenüberliegenden Seeufer flackern in der Ferne die Lichter derer, die es besser haben.

Kuno Schelmle[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]