Klein Venedig: Zeltstadt für besondere Flüchtlinge
Einheimische hatten schon länger gerätselt, was da auf dem Gelände Klein Venedig vor sich geht. Bereits vor Tagen wurden große Zelte aufgestellt und sanitäre Anlagen installiert. Gerüchte kursierten, Unruhe kam auf in der Bevölkerung. Nun ist’s raus: In den kommenden Wochen werden bis zu 100 000 Menschen erwartet, für die Konstanz allerdings nur eine Zwischenstation ist. Die Stadt stellt sich dieser kurzfristigen Herausforderung und heißt die Fremden aus anderen Kulturkreisen herzlich willkommen.
Es hat sich angedeutet, denn die erschütternden Nachrichten aus den abgelegenen Regionen hat man in Konstanz früh vernommen. Die aktuellen Schreckensmeldungen von der Höri und aus verschiedenen Hegau-Dörfern konnte man nicht ignorieren. Bereits Anfang September verließen mehrere Gruppen, darunter Familien mit vielen Kindern, ihre verödeten Landstriche. Die Versorgungslage war dort immer katastrophaler geworden, die meisten Läden haben schon lange dicht gemacht, Kindergärten und Schulen wurden geschlossen. Mittlerweile sind rund 10 000 Menschen auf der Flucht und heute Mittag wird der erste Elends-Treck in Konstanz eintreffen.
Doch damit nicht genug: Auch aus der benachbarten Schweiz bewegen sich zur Zeit mehrere tausend EidgenossInnen auf die Konzilstadt zu. Die meisten kommen aus der Appenzeller Gegend, aber auch aus St. Gallen, Romanshorn, Arbon und Bischofszell. Einst blühende Regionen und Städte, aber das ist lange her. „Wir werden“, so der Kreuzlinger Zollchef Hans-Ueli Zwingli, „alle Grenzen Richtung Konstanz öffnen, alles andere wäre bei dem zu erwartendem Ansturm zum Wochende hin sinnlos“. Da, wo die SchweizerInnen zum ersten Mal deutschen Boden betreten, nämlich im LAGO, werden sie registriert und mit dem Nötigsten versorgt: Wasser, warme Kleidung, Teddybären für die Kinder. Für Geschäftsführer Peter Herrmann eine Selbstverständlichkeit: „Das sind wir den Leuten, mit denen wir in der Vergangenheit immer gute Erfahrungen gemacht haben, einfach schuldig. In der Not halten wir grenzüberschreitend zusammen“. Nach ihrer Registrierung werden die Flüchtlinge aus der Schweiz von Konstanzer Verkehrskadetten auf das Gelände Klein Venedig gebracht.
Auch die Konstanzer Stadtverwaltung ist bestens vorbereitet. Die Zelte auf Klein Venedig sind längst aufgebaut und eine Planungsgruppe, bestehend aus Oberbürgermeister Uli Burchardt, Sozialbürgermeister Andreas Osner und der Konstanzer Integrationsbeauftragten Elke Cybulla will den erschöpften Durchreisenden während der kommenden Wochen zur Ablenkung ein buntes Programm bieten. Los geht es schon heute Mittag. Ab 17 Uhr werden die eintreffenden Ankömmlinge auf offenen Wagen sofort durch die Stadt Richtung Klein Venedig gekarrt. Dort gibt es ab 18 Uhr Freibier für alle, Burchardt und der Kreuzlinger Stadtammann Andreas Netzle stechen das erste Fass an. Erwartet werden auch Landrat Frank Hämmerle und Minister Peter Friedrich von der SPD. Letzterer dirigiert die Blasmusikkappelle „Humpenstemmer“ aus Worblingen, die er sogar aus eigener Tasche bezahlt.
Mitorganisator Hans Fetscher, zuständig für Essen und Getränke, will ebenfalls „einfach nur helfen, helfen, helfen“ und den oft traumatisierten Gästen mit Schweinshaxen und Weißwürsten die kommenden Tage versüßen. „Das ist das Mindeste“, sagt der 48-jährige Gastronom, der schon andernorts ähnliche Veranstaltungen betreut hat: „ Oft sind die Besucher völlig orientierungslos, benommen und entkräftet, ihnen gehört unser ganzes Mitgefühl“. Bei einer eilends einberufenen Pressekonferenz ergriff sogar Elke Cybulla das Wort und stimmte die anwesenden Medienvertreter auf die nächsten Wochen ein, verbunden mit der Bitte, trotz widriger Begleiterscheinungen Toleranz gegenüber den Fremden zu üben. „Sagen Sie Ihren Lesern, dass viele kommen werden, die außer drei- oder vierhundert Euro und einem Päckchen Präservative nichts bei sich haben“. Auch am äußeren Erscheinungsbild der Fremden sollte sich die hiesige Bevölkerung nicht stören: „Diese entwurzelten Menschen mussten oft Hals über Kopf ihre Behausungen verlassen. Die Männer haben sich in aller Eile kurze Hosen übergestreift, ihre Frauen viel zu dünne Röcke, an denen noch die Küchenschürzen hängen. Das ist doch kein Leben mehr“, erklärte Cybulla, die während ihrer eindringlichen Appelle mehrmals sichtlich mit den Tränen zu kämpfen hatte.
Bewegende Momente, wie man sie nur ganz selten bei einer Pressekonferenz erlebt. Bürgermeister Osner wies darauf hin, dass nun die Willkommenskultur der KonstanzerInnen auf den Prüfstand gestellt werde. Oberbürgermeister Burchardt äußerte sich zuversichtlich, dass die KonstanzerInnen „ihre Herzen öffnen werden und gemeinsam anpacken. Wir schaffen das. Wenn nicht, ist das nicht mehr meine Stadt“. Klar ist mittlerweile, dass das Bleiberecht hier am See für die Fremden aus Nah und Fern nur bis zum 3. Oktober gilt. Dann werden sie in Bussen über die Bayern-Franken-Route nach Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern gebracht, wo sie, so Burchardt abschließend, „das Erlebte in Ruhe und Frieden verarbeiten können“.
H. Reile
Lieber Holger,
ein genialer Kommentar/ Artikel zum Konschtanzer Oktoberfescht und der aktuellen politischen Flüchlingssituation.
Anscheinend gab es in München Überlegungen, die Zelte tatsächlich (natürlich nach dem geldsegenbringendem Oktoberfest) für Flüchtlingsunterkünfte zu nutzen. Sei jedoch aus hygienischen Gründen nicht möglich.
Ho Narro, äh, Proscht.
gela
Das ist erst der Anfang. München erwartet ab morgen eine noch viel größere Welle, nicht nur aus der Schweiz, sondern der ganzen Welt! Horst Seehofer hat deshalb Konstanz vorgeworfen, einen Fehler begangen zu haben, „der uns noch lange beschäftigt“.
Na dann Prost!