Wenn der Dalai Lama die Zugdurchsagen spricht

Die Bahn, meine Damen und Herren, und ich kann mir lebhaft vorstellen, was Sie jetzt schon wieder denken, die Bahn – ich habe dieses Gegreine einfach satt, dieses Gejammere und Genöle, die Bahn, meine Damen und Herren, hat mich zu einem besseren Menschen gemacht, ja erzogen, wenn nicht therapiert. Die Bahn! Ich bin deutlich gelassener als früher, fast schon zermürbungsresistent, meint Spötter Thomas C. Breuer.

Wer bei den Verwirrspielen der Fahrplangestaltung nicht eine stoische Gelassenheit an den Tag legt, hat schon verloren. Das Stehen auf freier Stecke verschafft kontemplative Momente – andere gehen dafür ins Kloster – für teuer Geld. Abtei und Abteil – eigentlich trennt diese beiden Begriffe nur ein einziger Buchstabe. Ein zusätzliches Stündchen in einem Mischwald bei Langenfeld optimiert den Blick für die Natur: War da nicht eben ein Füchslein im Gebüsch?

Auch die Technik kommt nicht zu kurz. Man lernt, den Bahn-Navigator im Internet zu nutzen. Der Zug ist notiert mit plus 60 Minuten? Ob das stimmt? Vielleicht weiß WikiLeaks mehr. Ein zweistündiger Stoppover in Koblenz? Erkunde den Bahnhof. Lass deine Fantasie schweifen. Knüpfe Freundschaften mit anderen Gestrandeten. Verzögerungen im Betriebsablauf stärken das Gemein­schafts­gefühl, da herrscht Adventsstimmung das ganze Jahr. Immer häufiger kommt es zu Wohlfühlverspätungen – man will gar nicht mehr weg. Ich kenne ein älteres Ehepaar, das nach einem mehrstündigen Zwangsaufenthalt in Ibbenbüren nur nach Hause gefahren ist, um die Sachen zu packen.

Bleibe gelassen und du wirst nichts verpassen. Bahnfahring ist eine stete Unterweisung in Demut. Rüdiger Grube ist mein Guru: Der Weg ist das Ziel. Wer sich über Verspätungen aufregt, hat nicht begriffen, worum es geht: Um Besinnung. Besinnlichkeit. Zeit als Geschenk.

Wer Distanz zu technischen Fehlern wie nicht schließenden Türen gewinnt, kann sich öffnen. Reduziere deine nichtigen Be­dürfnisse – Klimaanlage, Heißgetränke – und du vermeidest Enttäuschungen. Die Bahn vertritt konsequent einen ganzheitlichen Ansatz. Nicht nur die Seele wird versorgt, auch der Körper: Der Zug verkehrt in umgekehrter Reihenfolge? Ein kostenloses Angebot zu sportlicher Betätigung. Also das Gepäck gerafft und im Slalom ans andere Ende des Bahnsteigs geeilt. Das fördert die Rechts-Links-Koor­dination und hält fit, vor allem, wenn dies erst zwei Minuten vor Einfahrt des Zuges bekannt gegeben wird – also immer. Mobilität, Flexi­bilität, Debilität. Für Gepäck­stücke sind die Waggons sowieso nicht gedacht: Was bedeutet das für den erfahrenen Reisenden? Ballast abwerfen.

Die Bahn stellt mich wieder ins Gleis. Was anderswo großspurig als Downsizing verkauft wird, praktiziert die Bahn schon lange. Das Essen im Bordbistro will nicht kommen? Das ist slow-food im wahrsten Sinne des Wortes. Außerdem bist du fett genug. Die Bahn ist nicht nur für Wellnesser geeignet, sondern auch ideal zum Auspendeln. Wenn jetzt noch die unbequemen ICE-Sessel durch Lotussitze ersetzt werden und man dem Dalai Lama die Standardansagen überlässt, werden sich meine Chakren nicht mehr einkriegen: „Mein Damundheeren, in Kassel ist unsa mobilee Brezelverkäufer einestiege. Om mani breze hum!“ Und mildester Stimmung kann ich in mein Tagebuch schreiben: „Die Bahn kann mir keinen Unmut bereiten / Ich hänge mein Herz nicht an Abfahrtszeiten.“

Autor: Thomas C. Breuer