Zwischen allen Stühlen… Turns turnen

Wandel gestalten KielAbgeraten habe man ihm, so der Zukunftsforscher Edgar Göll, wortspielend aus dem Tagungstitel „Turn“ ein „turnen“ zu machen. Nun war es doch auf die Titelfolie seines Vortrags geraten. Ich fand das in seinem leichten Unernst charmant und inhaltlich ja durchaus korrekt: wer Wandel will, muss sich bewegen und das ist oft anstrengend. Wer den Turn will, muss also turnen, was, wenn es gelingt, ja durchaus ästhetisch – grazil, kraftvoll, dynamisch – aussehen kann. Unser Autor berichtet exklusiv von einer spannenden Tagung im hohen Norden.

Inhaltlich mahnte Göll die Teilnehmer:innen der von der Stiftung für Innovation in der Hochschullehre iniitiierten Tagung TURN – Wandel gestalten, die in Kooperation der Christian-Albrechts-Universität Kiel und der Fachhochschule Kiel am 3. und 4. November durchgeführt wurde, dass Zukunft zwar nicht vorhergesagt werden könne, aber doch imaginiert werden müsse. Es war ein Plädoyer für ein Denken von Nachhaltigkeit, das diese aufs engste mit der Fähigkeit zu visionärem Denken – und eben nicht mit der täglichen Routine der Mülltrennung – verknüpft.

„Nachhaltigkeit“ war das zentrale Stichwort der Tagung. Es fehlte in kaum einem Beitrag. Fulminant wurde die Tagung von Matthias Barth, dem Präsidenten der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde eröffnet. Eindringlich erklärte er, dass Nachhaltigkeit meist als „Thema“ behandelt wurde, es aber eigentlich eine „Perspektive“ sei, mit Kant könnte man vielleicht sagen, eine „regulative Idee“, an der alles, aber auch wirklich alles Handeln sich auszurichten habe.

Im Kontext der Tagung, die sich einem Austausch über die Möglichkeiten der Verbesserung der Lehre an Hochschulen widmete, war es besonders wichtig, auch ein Gewicht auf die Frage der Nachhaltigkeit in der Bildung und zwar im methodisch-didaktischen Sinn zu legen. Welche Lern-Lehr-Szenarien sind eigentlich geeignet, Bildung als verändernde Kraft in Lernenden zu verankern? Wie kriegt man es hin, dass unter Lernen etwas anderes verstanden wird als die Eintrichterung abprüfbarer und ziemlich beliebiger Wissenspartikel?

Bewegt man sich auf so einer Konferenz, die ja von den Aktiven und Willigen besucht wird, könnte man glauben, das Thema sei eigentlich erledigt. Beobachtet man, wie an deutschen Hochschulen nach wie vor gelehrt wird (an deutschen Schulen sieht es ja nicht besser aus), dann kommt man einerseits ins Grübeln über die hohen Beharrungskräfte angesichts größtmöglichen Wandlungsdrucks, andererseits freut man sich natürlich über so viele tolle Ideen und Projekte und sieht an diesen Beispielen, dass eben doch einiges in Bewegung geraten ist und zwar an sehr vielen Standorten.

Hervorheben möchte ich den Workshop der Hochschule Rhein-Waal mit Standorten in Kleve und Kamp-Lintfort, der mehr Aufmerksamkeit verdient hätte als ihm durch die Besuchenden der Tagung gewidmet wurde. Kleve, Kamp-Lintfort – schon mal gehört? Ausgerechnet am Niederrhein, wer hätte es gedacht, ist die mit ca. 60 Prozent nicht-deutscher Studierender internationalste Hochschule Deutschlands ansässig. Warum? Die sehr junge Hochschule – gegründet 2009 – bietet 75 Prozent ihrer Studiengänge in englischer Sprache an, ist also hochattraktiv für Menschen, die deutsch nicht auf einem für ein Studium notwendigem Niveau beherrschen. In Kombination mit dem Fächerspektrum und den deutschlandtypisch niedrigen Studiengebühren ist das ein hochattraktiver Anziehungsfaktor für ausländische Studierende. Die Hochschule Rhein-Waal reagiert mit dieser sehr expliziten Adressierung ausländischer Studierender auf den dringenden Fachkräftebedarf der deutschen Wirtschaft.

Gleichzeitig erzeugt das Zusammenleben von 7300 Studierenden aus über 120 Herkunftsländern Spannungen. Diese sind geprägt von unterschiedlichen Erwartungshaltungen und soziokulturellen Hintergründen. Deshalb hat die Hochschule Strategien zum guten Zusammenleben entwickelt, die Modellcharakter haben und von denen auch Hochschulen, die weit weniger divers aufgestellt sind, lernen und profitieren könnten.

Vorgestellt wurde etwa eine Pflichtveranstaltung in der Fakultät für Technologie und Bionik, bei der so anspruchsvolle Ziele wie Ambiguitätstoleranz – ein Wort, das in vielen Beiträgen der Konferenz auftauchte – und Achtsamkeit – ein häufiger gehörtes, oft aber missverstandenes Konzept – erreicht werden sollten. Mich hat das beeindruckt. Mich hat genauso beeindruckt, dass die Hochschule ganz konkret und pragmatisch bei alltäglichen Schwierigkeiten von Menschen, die zum ersten Mal in Deutschland sich aufhalten, hilft: bei der Wohnungssuche etwa, aber auch durch konkrete Vereinbarungen mit den lokalen Ausländerbehörden (einmal die Woche werden drei Schalter nur für die Studierenden der Hochschule frei gehalten!).

Die Konferenz bot unterschiedliche Formate der Begegnung an: klassische Keynotes einerseits, aber auch Symposien, Workshops und Shortcut Sessions, bei denen in anderthalb Stunden mehrere Projekte mittels Video und Kurzpräsentation vorgestellt wurden. Das war abwechslungsreich und half, die Tiefe langer Vorträge durch die Breite vieler kurzer Einblicke zu ergänzen. Man lernte, wie sich Hochschulen vernetzen, um gemeinsame kreditierbare Angebote auf einem virtuellen Campus verfügbar zu machen oder BWLer:innen einen Escape-Room für Erstsemester zum Zwecke der frühzeitigen Teamerfahrung und als Trainingsobjekt für fortgeschrittene Masterstudierenden beim Erlernen qualitativer Methoden der Sozialforschung gestalteten.

Positiv war auch, dass die Konferenz von zwei Hochschulen gemeinsam, verteilt auf beide Campus, durchgeführt wurde. Nicht nur wurde auf diese Weise deutlich, dass lebendiges akademisches Lernen und Arbeiten des Austausches zwischen unterschiedlichen Hochschultypen bedarf, vor allem der Universitäten und der Hochschulen für angewandte Wissenschaft, sondern die Stadt Kiel geriet deutlicher in den Blick. Fähre fahren auf der einen, durch Parks und das Stinkviertel laufen auf der anderen Seite. Das ist keineswegs touristisch trivial, denn innovative Hochschullehre bezieht sehr offensiv auch die Zivilgesellschaft, die sie beauftragt hat und ihre Institutionen finanziert, mit ein. Lern-Lehr-Szenarien sollten deshalb auch sich deutlich an ihre Standorte binden und lokale, nicht etwa one-fits-all-Lösungen suchen.

Die Veranstalter:innnen haben also wirklich alles richtig gemacht. Sogar das Essen war vegetarisch und vegan (ja, auch Fleischesser:innen können durchaus mal fleischlos speisen…) und der tagungsübliche Zuckerkonsum wurde durch mikroskopisch kleine Schokoladentäfelchen auf ein Minimum begrenzt. Dafür gab’s mehr Obst.

Unangenehm fiel mir eigentlich nur das Grußwort der schleswig-hosteinischen Ministerin für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur, Karin Prien, auf. Zum einen fand ich es schade, dass sie sich nicht die Zeit genommen hatte, persönlich auf der Konferenz anwesend zu sein, sondern ihr Grußwort als Videobotschaft sendete. Bei Grußworten geht es aber nicht um den ohnehin nebensächlichen Inhalt, sondern um die Demonstration von Unterstützung durch Präsenz… Zum anderen war die Ministerin die einzige, die die Auffassung vertrat, die Digitalisierung sei unser wichtigstes Problem. Ich hätte ja gedacht, das wäre das sich katastrophal wandelnde Klima oder auch die Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts oder der wieder neu in unser Bewusstsein gerückte Krieg (nicht nur der in der Ukraine, sondern der Krieg als nach wie vor nicht gebannte Gefahr der gewaltsamen Auseinandersetzung großer Kollektive). Aber die Digitalisierung … Jetzt lehne ich mich weit aus dem Fenster und behaupte: selbst wenn wir damit nicht so recht vorankämen, wäre nicht wirklich viel verloren. Viel zu wenig reden wir in unseren hoch individualisierten Mediengesellschaften etwa über den Energieverbrauch jeder einzelnen Serverabfrage bei google oder über andere Umweltkosten eben jener Digitalisierung, die uns – ähnlich wie die durchgängige Elektrifizierung des Verkehrs – als messianische Versprechungen verkauft werden.

Auf der Tagung wurden natürlich auch, wer könnte, wer wollte darauf einfach so verzichten, Digitalisierungsprojekte vorgestellt. Aber eben als das, was sie sind: Medien unter anderen Medien, neue Möglichkeiten zur Zusammenarbeit oder Wissensaufbereitung. Viel wichtiger war den meisten Teilnehmenden ein Hinweis darauf, dass es erlaubt sein muss, beim Lehren und Lernen zu scheitern. Das Motto der irischen Wissenschaftlerin Bairbre Redmond, „I only grade failure“, war bei ausnahmslos allen angekommen. Lernen ist nur denjenigen möglich, die Fehler machen, Fehler machen dürfen, ja, sogar sollen. Fehler sind ja bekannter-, wenn auch nicht gleichermaßen stets genutzte Lernangebote.

Am Ende der Konferenz wurde buchstäblich, als kupferfarbenes Objekt der Staffelstab von Vertreterinnen der Kieler Organisator:innen an zwei Vertreter der Kölner Organisator:innen der TURN 23, die im kommenden September stattfinden wird, übergeben. Getreu dem Motto Wolf Biermanns „Nur, wer sich ändert/bleibt sich treu.“

Text und Bild: Albert Kümmel-Schnur