Konstanz‘ größter Dichter?

Frühjahr 1986: Gertrud von Scholz, die Witwe von Konstanz-Dichter Wilhelm von Scholz, war verstorben, das schlossähnliche Anwesen „Seeheim“ verwaist. Was sollte mit Villa und Grundstück geschehen? Eine Frage, die auch die Nebelhorn-Macher vor 27 Jahren beschäftigte; vor allem aber: Wer war der einstige Herr vom Seeheim, was steckte hinter dem damals noch hoch gelobten Dichter Wilhelm von Scholz? Hendrik Riemer machte sich schon damals auf Spurensuche – und trat eine Diskussion los, die bis heute nachwirkt


Die am Bodenseeufer in Konstanz gelegene Villa von Scholz ist wieder im Gespräch. Nachdem im Frühjahr ihre Besitzerin starb, strecken kapitalkräftige Interessenten schon ihre Hände aus. Neun Millionen Mark ist das Objekt wohl wert; für „nur“ 4,6 Millionen soll es der Stadt übereignet werden, wenn diese im Sinne des Testaments dort eine Gedenkstätte für den Dichter Wilhelm von Scholz einrichtet, der bis zu seinem Tode 1969 dort lebte. Wer war dieser Schriftsteller, der sich selbst einen „deutschstämmigen, schon seiner Familientradition nach, wenn auch nicht blind, so doch maßvoll, vaterländisch eingestellten Mann“ nannte?

In den gängigen Lexika ist Wilhelm von Scholz mit biographischen und literarischen Angaben aufgeführt, es ergibt sich ein erstes Bild. Geboren 1874 in Berlin, gestorben 1969 in Konstanz. Sein Vater war der letzte Finanzminister Bismarcks, nach dessen Rücktritt sich die Familie von Scholz auf das bereits 1885 erworbene Gut „Seeheim“ zurückzog, heute die „Villa von Scholz“. In Stichworten berichten die Nachschlagewerke vom Werdegang Wilhelm von Scholz‘: Abitur, Militärdienst, Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft. 1896 erscheinen die ersten Gedichte von Scholz‘, dessen Gesamtwerk sich auf über 100 Titel beläuft. In den Jahren 1916 bis 1922 engagierte ihn das Stuttgarter Hoftheater als Dramaturgen und Spielleiter, 1923 bis 1928 war er Präsident der Sektion Dichtung der Preußischen Akademie der Künste. Als Präsident des Verbandes deutscher Bühnenschriftsteller war er 1949 tätig; 1951 wurde er zum Ehrenpräsidenten dieses Verbandes ernannt. Nachdenklich stimmt, dass in allen eingesehenen Lexika keine Angaben zu der Zeit zwischen 1933 und 1945 gemacht werden.

In einer Aufsatzsammlung, die Wilhelm von Scholz unter der Sammelüberschrift „Der Dichter“ 1917 veröffentlichte, definierte er nach vollzogener Absage an die Neuklassik sein künstlerisches Selbstverständnis. Er formulierte: „Weil es für den Dichter keine Zeit gibt, darum vermag er zwischen zwei Augenblicke des Geschehens Raum für ein ganzes Leben zu schaffen. Der innere Raum im Dichter ist weit wie der Sternenhimmel: Sonne und Mond kreisen in ihm.“ Der Dichter als gottähnliches Wesen, das die Vielschichtigkeit des realen Lebens in sich aufsaugt, um daraus dann, aus einer dem Irdischen entrückten Perspektive, Kunst zu formen. Die psychische Kraft zu derartiger künstlerischer Größe schöpft er aus der Familie, deren nationale Bestimmung in die Volksgemeinschaft mündet, dem eigentlichen Kraftborn. Das Vaterland mit seinen nationalen Werten und nicht das Streben nach die nationalen Grenzen überschreitendem Internationalismus motiviert den Dichter zur Schaffung wahrer Kunst.

Unter dergleichen Voraussetzungen garantiert die dichterische Sensibilität Objektivität, denn der Dichter „wird mit seinem Werk nie äußerliche Tendenzen verfolgen, nie Partei sein; denn er trägt alle Kämpferpaare, jeden Kämpfenden mit seinem ganzen Recht in der Brust“. (1917) Also doch – ein Übermensch! Aber nicht Scholz. Solche Imperative löst er nicht ein, denn seine privilegierte, soziale Herkunft lässt ihn Partei ergreifen, er urteilt im Bewusstsein eines konservativen Nationalismus und lehnt demokratische, soziale Entwicklungen als widernatürlich ab. (1939) Die sozialdemokratische Bewegung und ihre Programmatik disqualifiziert er als „Verkehrtheiten und Halbwahrheiten der marxistischen Lehre“, nur missverstandener jugendlicher Idealismus verführt zur Teilnahme. „Tradition, Erhaltung, Kultur, straffe Führung, Vaterland“ bilden nach Scholz die wahre gesellschaftliche Grundlage. (1939)

Seine nationalchauvinistische Gesinnung definiert auch die Haltung zum Krieg allgemein. Krieg als natürliches Regulativ, das die Natur „bei ihrem verschwenderischen Erzeugen ja schließlich braucht“. (1936) Dementsprechend kann Pazifismus nur aus der Naivität und einem Nichtbegreifen der Natur entspringen. Scholz formuliert u. a.: „Ich habe damals auch Bertha von Suttner kennengelernt, die Fanatikerin des Friedens, die den ewigen Zwiespalt zwischen der Unvermeidbarkeit und der Furchtbarkeit des Krieges in ihrem guten Herzen nicht begreifen konnte und deshalb auf einen ewigen Frieden hoffte.“ (1939)

Nur konsequent ist daher sein Bekenntnis zum 1. Weltkrieg. 1917 fiel der einzige Sohn, gerade 17 Jahre alt, auf dem „Schlachtfeld der Ehre“. Nicht Trauer über diesen Verlust liest man aus den Zeilen, sondern Scholz kommentiert dies mit dem Hinweis, dass sein Sohn sich bereits mit 14 Jahren zum aktiven Fronteinsatz gemeldet hätte, die Armee ihn damals noch nicht nahm. (1936) In einem Gedicht aus dem Zyklus „Aus Zeit und Krieg“ überschriebenen „Gelöbnis 19 19″, rückt das nationalchauvinistische Bewusstsein deutlich hervor. Zwei der insgesamt sechs Strophen seien deshalb demonstriert:

3. Strophe
Und heute, da wir,zum ersten Male,seit Friede wurde,ihrer feiernd gedenken,stehen wir vor Trümmern.Nach jahrelangen Siegen,die wir errangengegen die immer wachsende Zahlneidischer Feindenach Taten, wie siekein Volk der Erde

vor uns vollbrachte

liegen wir hilflos,

zertreten am Boden.

6. Strophe
Da steigen plötzlichin Scharen die Schattender Toten herauf.Sie lächeln mit wehen blutigen Zügenuns Hoffnung ins Herz,sie blicken mit heißen brennenden Augen,sie sprechen mit bleichen blutlosen Lippenuns Mut zu: „Wir leben.Wir kehren wieder.Wir führen die Künftigen,wenn sie vollenden,

was unvollendet

unseren Händen entsank

die Rettung Deutschlands!

Glaubt ihr Kleinmütigen,

die Tausende starben

umsonst?

Glaubt ihr, unser Wille,

dass Deutschland, der Erde

bestes Volk, stark sei,

ist überwunden?

Wir kehren wieder!

In der letzten seiner autobiographischen Schriften, 1964, behauptet Scholz, der Nationalsozialismus habe ihn als Dichter ignoriert, ihn damit seiner dichterischen Ausstrahlung beraubt. Als Motiv für diese Ablehnung durch die Nationalsozialisten führt er seine humanistische Toleranz an, die immer auch die Juden mit einbezogen habe. „Natürlich war ich immer ein Absteiger, der nicht mit der Mode lief, der das was gerade Mode war, gar nicht kannte, da er ein Gesetz in sich trug. Das war das Hindernis. (…) Ich habe mich immer bemüht, jeden Menschen und jede Art Menschen, Rassen, Völker gerecht und unvoreingenommen-menschlich zu sehen, also mit guten und verwerflichen Eigenschaften, wie ich mich selbst und auch mein Volk sehe. Ich folge damit lediglich meiner innersten Natur, der wenig so tief zuwider ist wie verallgemeinernde Behauptungen über Menschengruppen und Verhältnisse; die gewzungen ist, überall auch das einzelne und Individuelle zu suchen.“ (1964)

Man mag wohlwollend bei der Beurteilung dieser Scholzschen Meinung sein hohes Alter in Rechnung stellen, immerhin war er, als er sich so äußerte, bereits 90 Jahre alt, doch stellt eine derart generalisierende Aussage die biographische Persönlichkeit Wilhelm von Scholz‘ auf den Kopf. Der Versuch, sich mit dem Hinweis auf humanistische Toleranz und erlittene literarische Austrocknung durch die Nationalsozialisten aus der historischen Verantwortung zu stehlen, basiert auf einer Verdrehung der biographischen Tatsachen und gelingt nur bei einem Publikum, das selbst mit dieser Verdrehung Vergangenheitsbewältigung betreibt oder das Literatur konsumiert, ohne über die historische Intention des Autors zu reflektieren.

1905 entstand die Tragödie „Der Jude von Konstanz“. Der 31-jährige Scholz dramatisierte einen historischen Stoff, dessen globale Bezüge, Judenhass und -pogrom, in den Konstanzer Annalen verzeichnet sind. Die Hauptperson, der tragische Held, der jüdische Arzt Nasson konvertierte zum Christentum, um somit dem Rassenhass zu entgehen. Äußerliche Lossagung vom Judentum und nicht abstreifbare innerliche jüdische Glaubenswerte kulminieren in einem persönlichen Widerspruch, daran zerbricht der Jude Nasson. Zur Dramatik des literarischen Stoffes erinnert sich der 90-jährige Scholz: „Aber ich sah sofort, dass ich, nachdem Nasson einmal mit seinem Grundkonflikt, seinem Zwiespalt in mich eingegangen war, die dramatische Auflösung des Vorgangs nur gewinnen konnte, wenn ich die Motive umstellte: wenn ich ihn im tiefen Frieden zwischen Christen und Juden Christ werden und später in einer Judenverfolgung um den Preis seines Lebens zu seinem Volk, zu den Gemarterten und Gemordeten, zurückkehren ließe.“ (1964) Fünfundzwanzig Jahre zuvor hatte Scholz die literarische Absicht seiner Juden-Tragödie weniger zurückhaltend kommentiert: ,,Es ist mir heute merkwürdig, dass ich trotzdem gleichzeitig als Dichter, der unbewusst viel klarer urteilte, schon die völlige Unvereinbarkeit des Juden mit unserem Volke empfand und in meinem Drama „Der Jude von Konstanz“ darstellte: getrennt auf ewig, für alle Zeit Feinde! Freilich musste ich dabei, da ich als Dramatiker einander entsprechende Gegner brauchte, die Juden etwas heroischer und stärker zeichnen, als sie jetzt in der Geschichte, oder in der Kulturgeschichte waren.“ (1939)

Nur ein Ausrutscher oder ein opportunistischer Kniefall vor den Nationalsozialisten? Nichts von beiden! An gleicher Stelle deutet der angeblich von den Nazis gedemütigte Dichter eine Perspektive an, indem er sich auf die Entstehungszeit des „Juden“ beziehend feststellt: „Und gewiss ahnte niemand, dass der Mann schon geboren war, der Deutschland von der Über- und Durchfremdung befreien und dem deutschen Volke sein Land, seine Macht, seinen Besitz und seine Berufung zurückgeben würde!“ (1939) Mit entsprechenden Äußerungen zum Nationalsozialismus, dem Führer, geht Scholz verschwenderischer um, selbst in seinen Gedichten thematisiert er die nationalsozialistische Gefolgschaftstreue. So dichtet er 1943, Stalingrad hatte die Wende des II. Weltkrieges eingeleitet, folgende Zeilen, überschrieben „Deutsche Wünsche“.

Zwei deutsche Wünsche weiß ich, die allein

heute den Anspruch haben, da zu sein.

Den ersten gibt der heilige Zorn uns ein:

zur Hölle

des Weltenbrandes verbrecherischer Schürer!

Der anderen fleht der Glaube, das Vertraun

auf ihn der Deutschland schützt, zu dem wir

schaun, das Herz voll Liebe, Volk, Männer,

und Frauen:

Das Heil!

Gesundheit, Sieg und Segen für den Führer!

Allein die konservativ nationalchauvinistische Einstellung von Wilhelm v. Scholz bereits vor 1933, die in seiner Haltung zum I. Weltkrieg und in der Ablehnung des politischen Internationalismus gipfelte, rückte ihn eng an das Ideologiegebäude der Nationalsozialisten. Seine literarischen Werke, ob Dramen, Schauspiele, Gedichte oder theoretische Abhandlungen beinhalten keine Aussagen, die von den Nazis abgelehnt worden wären. Die Begeisterung für den Nationalsozialismus war eine konsequente Weiterentwicklung im Persönlichkeitsbild des Dichters. Hier wurde endlich das zur gesellschaftlichen Wertvorstellung, was Scholz für die Grundtugenden einer Nation hielt: Straffe Führung, vorrangige Wahrung der deutschen Tradition, Betonung der nationalen Größe bis hin zu einer Politik, die das Mittel des Kriegs zur Wahrung der deutschen Größe nicht ausschloss.

Die Nationalsozialisten haben Scholz nicht literarisch ausgetrocknet. Zwischen 1933 und 1945 wurden als Gesamtausgaben die Erzählungen, Novellen, Kurzgeschichten in zwei Bänden, die Gedichte in einem Band herausgegeben. Es erschienen die drei biographischen Bücher, in denen der Zeitraum 1874-1933 skizzenhaft präsentiert wird. Mit „Die Frankfurter Weihnacht“, „Claudia Colona“, „Das Deutsche Welttheater“ (Nachdichtung von Calderon) und „Ayatari“ kamen Schauspiele zur Uraufführung. Verschiedene Hörspiele sendete der Reichsfunk. Essays und kleinere Anekdotensammlungen vervollständigten die „literarische Austrocknung“.

Die Entschuldigung des Opportunismus etwa aus Angst um die berufliche Karriere kann bei Wilhelm von Scholz nicht für mildernde Umstände sorgen. Er war vor 1933 national-konservativ und konnte diese Gesinnung zwischen 1933 und 1945 voll ausleben. Scholz‘ Bekenntnis zum Nationalsozialismus war demnach ein gewachsenes und keine spontane Begeisterung auf Grund der sozial-ökonomischen Bedingungen 1928-1933.

Es mag sein, dass sich der Dichter Scholz nicht genügend berücksichtigt fand. Dass er um die nationalsozialistische Anerkennung mit anderen Autoren konkurieren musste, dass dies seine dichterische Eitelkeit kränkte. Mag sein, denn schließlich hatte er sich bereits vor 1933 zu Unrecht zurückgesetzt gefühlt, weil seine Stücke im damaligen kulturellen Mittelpunkt, in Berlin, nicht genügend honoriert wurden. Exemplarisch sei folgende Äußerung über eine Aufführung Oskar Wildes „Salome“ wiedergegeben: ,,Um bei uns in Berlin Erfolg zu haben, muss man tot sein oder pervers oder Ausländer, also hat den größten Erfolg ein toter perverser Ausländer!“ (1939)

Der einzige bedeutende Dichter, der in den Mauern von Konstanz lebte, war geistiger Mittäter an den „Taten“ des 3. Reichs, kann deshalb Kraft seiner nationalreaktionären Persönlichkeit nicht Vorbild für eine heutige demokratische Gemeinschaft sein. Es wirft einen bezeichnenden Schatten auf den Geist an Konstanzer Schulen, wenn hier die besten Abiturarbeiten im Fach Deutsch mit dem „Wilhelm von Scholz Preis“ ausgezeichnet werden. Lasst Wilhelm von Scholz ruhen, eine protegierte Aktualisierung seiner Werke wirft nur ein braunes Schlaglicht auf das kommunale Kulturverständnis der Stadt Konstanz.

Die Möglichkeiten eines Kommunikationszentrums, der vielseitige Freizeitwert der „Dichtervilla“, u. a. aufgrund der Nähe zum Hörnle, Jakobsbad, Lorettowald, usw. sollte vielmehr eine Überprüfung in die Wege leiten, ob hier nicht das Interesse der breiten Öffentlichkeit vor das Privatinteresse zu treten hat. Eine „Rosenau“ reicht!

 

Hendrik Riemer

Literatur:

Wilhelm von Scholz, Berlin und Bodensee, Erinnerungen einer Jugend, Leipzig 1934

—, Eine Jahrhundertwende, Lebenserinnerungen, Leipzig 1936

—, An Ilm und Isar, Lebenserinnerungen, Leipzig 1939

—, Der Dichter, München 1917

, Die Gefährten, Neue Erzählungen, Leipzig 1937

, Die Gedichte, Gesamtausgabe, Leipzig 1944

—, Ausgewählte Schauspiele, Esslingen 1964

—, Mein Theater, Tübingen 1964

Andreas Wöhrmann, Das Programm der Neuklassik, Die Konzeption einer modernen Tragödie bei Paul Ernst, Wilhelm von Scholz und Samuel Lubünski, Frankfurt a.M. 1979.

 

 

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