Burnout – Krankheit, Mode oder millionenfacher stiller Aufschrei?

Befund bekannt: Vor 30 Jahren war er als „Helfersyndrom“ schon ein Thema. Neu ist, dass “ Burnout“ nun die Mediengesellschaft erreicht hat. Noch wird gestritten, ob Burnout ein Krankheitsbild ist, nur ein anderes Wort für eine erschöpfungsbedingte Depression oder eine von der Therapie- und Wellness-Wirtschaft erfundene Mode ist

Ob in Deutschland oder der Schweiz: Prominente oder besonders tragische Fälle schleppen dieses Thema immer wieder in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses. Im August nahm sich Pierre Wauthier, Finanzchef der Zurich Insurance Group, das Leben, ein Monat zuvor Carsten Schloter, Chef von Swisscom; in beiden Fällen gibt es begründete Vermutungen, dass berufliche Überforderungen eine Rolle spielten. Anfang diesen Jahres meldet sich die 36jährige Natalie Rickli, Züricher SVP-Nationalrätin, nach einem monatelangen Rückzug wegen Burnouts zurück – um bekanntzugeben, sie werde künftig mit ihren Kräften mehr haushalten und vom Amt der Vizepräsidentin der Bundeshausfraktion zurücktreten. Anfang 2012 wurde bekannt, dass Karl Vogler, CSP-Nationalrat, versuchte, sich das Leben zu nehmen: Er sei an „seine persönlichen Lebensgrenzen gestoßen“, hieß es in einer Verlautbarung. Die Liste ist lang: die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel, der Komiker Rene Rindlisbacher, der Schweizer FDP-Präsident Rolf Schweiger, der Radiomoderator Ruedi Josuran … .

Burnout trifft alle Schichten

Burnout gilt bei manchen als krankhafte Erschöpfung der Leistungsstarken, sozusagen als `Heldenabzeichen der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft`. Depressiv sind dagegen die von vornherein antriebslosen und nicht leistungsbereiten `Schwachen` und latent Nutzlosen; weshalb öffentlich mit leichter Hand über Burnout und nicht so gerne über Depressionen gesprochen wird. Der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Herbert J. Freudenberger hat den Begriff Burnout geprägt: Es handle sich um einen Zustand der Erschöpfung, vor allem verursacht von einem Verschleiß an Energie wegen ständiger Überforderungen und unrealistischer Erwartungen, vor allem im beruflichen Leben, aber nicht nur. Burnout betrifft alle Schichten, die Best- wie die am Schlechtestenverdienenden, Führungskräfte wie Facharbeiter am Band.

Seit einigen Jahren analysiert der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), wie sich der „Psycho-Stress“ unter den Beschäftigten entwickelt. Der Befund: Die Zahlen der Arbeitnehmer, die darüber klagen, nehmen zu. Im Detail: mehr Leistung in weniger Zeit, kürzere Taktzeiten an Montagebändern, Präsenz-Druck bei international zusammengesetzten virtuellen Teams, die ständigen Um- und Neustrukturierungen in Unternehmen, ein unauflösliches Ineinandergehen von Arbeits- und Privatleben. Es gibt Studien, die sagen, die Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen habe sich in den vergangenen 15 Jahren beinahe verdoppelt, andere gehen von sehr viel höheren Steigerungsraten aus; Unterschiede, die sich aus den anhaltend unterschiedlichen Definitionen dieses Phänomens ergeben.

40 Prozent aller Berufstätigen sind betroffen

Der Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz teilt mit, 43 Prozent von 18 000 befragten Arbeitnehmern klagen über wachsenden Stress. Damit ist nicht der `positive Stress` gemeint, der während einer gelungenen und zudem allseits anerkannten Anstrengung empfunden wird, sondern negativer Stress, der wiederum Auslöser für die verschiedensten psychischen Krankheiten sein kann. Das Wissenschaftliche Institut der AOK, einer der größten Krankenversicherer Deutschlands, bilanziert: Entfielen im Jahr 2004 auf je 1 000 AOK-Versicherte noch acht Krankentage wegen Burnout, so seien es 2010 bereits über 72 Tage gewesen. Seelisches Leiden am Beruf ist in Deutschland inzwischen eine der wesentlichen Gründe für Frühverrentungen.

In der Schweiz ist das nicht viel anders: Psychische Krankheiten sind mit Abstand die häufigste Ursache für krankheitsbedingte Invaliditätsrenten. Nach Befragungen des Schweizerischen Bundesamtes für Statistik sagen rund 40 Prozent aller Berufstätigen, sie litten an Schwäche und Energielosigkeit; klassische Vorzeichen von Burnout. Der volkswirtschaftliche Schaden ist laut dem Schweizerischen Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) enorm: Er liegt bei knapp acht Milliarden Franken; dabei werden ärztliche Behandlungen ebenso eingerechnet wie Produktionsausfälle und die Kosten für Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle.

Sorgen um die Absicherung…

Soziologen wie Sighard Neckel, Universität Frankfurt, sehen drei Ursachen. Die Politik, in Deutschland wie in den meisten anderen vergleichbaren Gesellschaften, habe systematisch die soziale Absicherung verringert. Deshalb müssten sich die Menschen zusätzlich um ihre finanzielle Absicherung in existenziellen Fragen kümmern: für das Alter, für Krankheits- und Pflegefälle. Das sei erhebliche zusätzliche Such- und Entscheidungsarbeit, verbunden mit hohen Unsicherheiten.

…Intensivierung der Arbeit…

Die zweite Ursache: Die Politik habe die Arbeitsmarkt-Ordnungen in Deutschland und anderswo – jeweils mit Verweis auf die weltweite Konkurrenz – zugunsten der Verwertungsinteressen der Unternehmen verändert. Die Arbeit werde deshalb intensiver, die Arbeitsverhältnisse würden unsicherer, die Arbeitszeiten länger und unregelmäßig und die Löhne eher geringer.

…und der Griff nach der Psyche

Der entscheidende dritte Schritt kommt jedoch erst noch: Die seit Jahren herrschenden Management-Methoden greifen nicht nur nach Zeit und Arbeitskraft der Beschäftigten, sie greifen buchstäblich nach seiner Seele, seinen Gefühlen, seinem Herzen, seiner ganzen Kreativität und Motivation. Der Griff nach der Psyche des Menschen, diese innere Landnahme durch die stummen Mechanismen der Profit- und Wettbewerbslogik ist die Signatur dieses relativ neuen kapitalistischen Arbeitslebens. Die Beschäftigten werden bis in die untersten Ebenen hinein – ob die Einräumer in Supermärkten oder die Versicherungsvertreter auf Tour – nicht mehr nach ihren Leistungen, ihrem Aufwand, sondern ausschließlich nach Ergebnissen und Erfolgen bewertet, auf konkrete Umsatz- und Gewinnvorgaben verpflichtet. Die Begriffe sind schon Alltag: Deadlines, Milestones, Zielvereinbarungen. Der Industrie- und Techniksoziologe Günther Voß, Technische Universität Chemnitz, hat diese Entwicklung bereits vor mehr als zehn Jahren mit dem Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“ beschrieben.

Politisch ganzheitlich wie der Soziologe Neckel sehen nur wenige auf das Phänomen Burnout. Und nur eine Minderheit richtet den Blick auf die Antreiber: Das Duo Finanzmärkte und neue Kommunikationstechniken, so der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach, habe „eine Kaskade der Beschleunigung“ ausgelöst, die wiederum die großen börsennotierten Unternehmen und diese wiederum deren Zulieferer und von ihnen abhängigen Mittelständler antrieben – eine Spirale der permanenten Beschleunigung. Der öffentliche Mainstream sieht das weniger systemkritisch: Da ist eben einer oder eine `ausgebrannt`, inzwischen sind es halt Hunderttausende oder gar Millionen.

Was also tun? Eine der großen Antworten: Eine wachsende Berater- und Ratgeber-Industrie hilft – im Verbund mit den Angeboten der Pharma-Industrie -, Unternehmen und Verwaltungen, vor allem ihre Führungskräfte wieder auf die Beine zu stellen. Das erste Ziel: die Resilienz, die Leistungsfähigkeit der wichtigsten Mitarbeiter, auch unter widrigsten Umständen aufrechtzuerhalten. Es gibt Beratungs-Unternehmen, die Unternehmen eine Not-Ambulanz anbieten: Mitarbeiter zusammengebrochen, Anruf genügt, wenn es sein muss auch mitten in der Nacht. Götz Eisenberg, Sozialpsychologe, ordnet diese Angebote so ein: Anstelle in dem „drohenden Kollaps“ dieser Menschen „ein stummes Nein gegen unzumutbare und unmenschliche Arbeits- und Lebensverhältnisse zu sehen und den Menschen dabei zu helfen, ihre unbewusst-psychosomatische Revolte auf den `politischen Begriff`zu bringen und in bewussten Widerstand zu transformieren, wird das Rad, das abgesprungen ist, wieder an den Wagen montiert.“ Eisenberg sieht „ein riesiges Feld der Bereicherung“ für die Pharma-Industrie: ADHS, Burnout, Depression und Stress seien im Kern soziale Leiden, sie würden jedoch zu individuellen Krankheiten umetikettiert.

Widerstand ist gefragt

Leidet die Demokratie unter Burnout? Man kann ja fragen: Wie soll es mit Millionen buchstäblich erschöpfter Menschen noch eine lebendige Demokratie geben? Um die möglichen geistig-ideologischen Schäden einschätzen zu können, ist noch einmal an den Kern des Prozesses zu erinnern. Die Unternehmen und ihr Management greifen mit Prinzipien nach der Psyche der Beschäftigten, die aus der Welt der Aufklärung und Demokratie stammen: Autonomie, Selbstorganisation, Selbstverwirklichung, Enthierarchisierung, Eigenverantwortung. Diese Prinzipien der Emanzipation werden in den unternehmerischen Alltag integriert, dort den Beschäftigten erst entwendet, dann gegen sie gewendet und in den Dienst der betriebswirtschaftlichen Verwertung gestellt. Platt gesagt, lautet die Devise: Ihr könnt arbeiten wie, wann und was Ihr wollt, unter einer Voraussetzung – seid profitabel. Wir haben es also auch mit einem ideologischen Prozess der Umkehrung und Denunziation von Begriffen der Emanzipation zu tun.

Sighard Neckel ist allerdings nicht skeptisch. Er entdeckt in der Burnout-Debatte einen Kern, der ein gesellschaftsveränderndes Potenzial in sich berge. Seine These: „Wenn die Unternehmen von den Menschen verlangen, ihre Energien, Kreativität und Motivation zu mobilisieren, dann hat das eine Eigendynamik. Diese Potenziale an Eigenständigkeit können die Unternehmen irgendwann einmal nicht mehr kontrollieren.“ Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, sieht das ähnlich: „Es geht darum, die Menschen nicht nur widerstandsfähiger, sondern auch widerständiger zu machen gegen Verhältnisse, die sie immer wieder krank machen werden.“

Autor: Wolfgang Storz/woz.ch