Wer war Warlam Schalamow?

Dem Konstanzer Historiker Ernst Köhler verdankt nicht nur die seemoz-Redaktion immer wieder Fundstücke großer literarischer und/oder historischer Qualität. So jetzt wieder mit Warlam Schalamow (s. Foto) und seinem Meisterwerk, das erst jetzt vollständig in deutscher Übersetzung vorliegt. Und am Beispiel einer aktuellen Ausstellung dazu vermittelt Köhler zudem politische Einsichten, die immer wieder zum kritischen Nachdenken einladen

„Das wichtigste Mittel zum Zersetzen der Seele ist die Kälte, in den Lagern Mittelasiens hielten die Menschen sicherlich länger durch – dort war es wärmer. Ich habe erkannt, dass Freundschaft, Kameradschaft niemals unter schwierigen, wirklich schwierigen – lebensbedrohlichen – Verhältnissen entsteht. Freundschaft entsteht unter schwierigen, aber bewältigbaren Verhältnissen (im Krankenhaus, und nicht im Bergwerk). Ich habe erkannt, dass der Mensch sich am längsten die Erbitterung bewahrt. Das Fleisch an einem hungrigen Menschen reicht nur für Erbitterung – allem andern gegenüber ist er gleichgültig.“

Das sind Sätze in den „Erzählungen aus Kolyma“ des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow. Sie stehen in dem Abschnitt „Was ich im Lager erfahren und erkannt habe“ (Bd.1: Durch den Schnee, Berlin 2007). Schalamow war 1937 – im Zuge des Stalinschen  „Großen Terrors“ –  in Moskau verhaftet und in den Lagerkomplex am Fluss Kolyma im Nordosten Sibiriens deportiert worden, wo er bis 1953 festgehalten wurde. Inzwischen liegt das Werk, an dem Warlam Schalamow nach seiner Entlassung zwei Jahrzehnte lang gearbeitet hat, vollständig in deutscher Übersetzung vor (bei Matthes &Seitz Berlin).

Das Literaturhaus Berlin hat diesem Autor und seiner Lebensgeschichte kürzlich eine Ausstellung gewidmet. Wer sie besuchte, kam zuerst durch einen Raum mit Texten über Auschwitz – darunter ein Zitat von Primo Levi. Aber lassen sich das Vernichtungslager und das Straf- und Arbeitslager, wie Warlam Schalamow es dokumentiert, so nahe aneinander rücken – unter dem Gesichtspunkt der totalen Verfügungsgewalt über Menschen?  Unter dem Gesichtspunkt der „Vernichtung des Menschen mit Hilfe des Staates“, wie Warlam Schalamow selbst die Kernaussage seiner Texte einmal formuliert hat?

Freilich ist auch die gewohnte Lager-Typologie verfänglich. Sie verkommt leicht zum Schematismus, der dann die Geschichte verfälscht und unsere Erinnerung versanden lässt. Im Katalog zur Ausstellung (Wilfried F. Schoeller, Leben oder Schreiben. Der Erzähler Warlam Schalamow, Berlin 2013) kann man nachlesen, dass nach den Archiven des KGB – seit den 90er Jahren zugänglich – in den Kolyma-Lagern während der Zeit ihres Bestehens 1932 bis 1953 wohl 150 000 Menschen (von insgesamt etwa 876 000 Häftlingen) umgekommen sind: durch Erschießungen, Krankheiten und Hunger. Dennoch bleibt die grundsätzliche Unterscheidung der Lager nach ihren Funktionen und nach ihrer Bedeutung im jeweiligen politischen Gesamtsystem unverzichtbar.

Kolyma im Licht von Auschwitz: das Konzept der Ausstellung hat sich wohl auch von dem spanischen Schriftsteller Jorge Semprún inspirieren lassen, der in Buchenwald inhaftiert war. Bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1994 sagte er, mit der Wiedervereinigung sei Deutschland, „das einzige Volk Europas, das sich mit beiden totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen kann und muss: dem Nazismus-Faschismus und dem Stalinismus. In seinem Kopf und Körper hat es diese Erfahrungen erlebt und kann sie nur überwinden…, indem es beide Erfahrungen kritisch übernimmt, um so die demokratische Zukunft Deutschlands zu bereichern.“ Aber das kann gerade angesichts der in dieser Ausstellung versammelten Texte von Hannah Arendt oder Imre Kertész einerseits und von Warlam Schalamow andererseits nicht überzeugen: Was immer das DDR-Regime mit den Menschen gemacht hat, es gab kein Kolyma. Und was immer die Verfolgung und Ermordung der Juden für uns Deutsche waren und sind, in unserem „Körper“ haben wir sie nicht erfahren. Es sei denn die wenigen unter uns, die jemand zu retten versuchten.

Die Erfahrungen der Opfer der beiden Gewaltregimes des 20. Jahrhunderts dürfen nicht vereinnahmt werden – auch nicht in der wohlgemeinten Absicht historischer und politischer Aufklärungspädagogik. Vielleicht halten wir uns besser an die „Thesen über das Jahr 1937 und die Gegenwart“, wie sie die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ formuliert hat (2007): „Gulag, Kolyma, 1937 – das sind ebensolche Symbole des 20. Jahrhunderts wie Auschwitz und Hiroshima. Sie gehen über die Grenzen des historischen Schicksals der UdSSR oder Russlands hinaus und werden zu einem Zeugnis für die Brüchigkeit und Labilität der menschlichen Zivilisation, für die Relativität der Errungenschaften des Fortschritts, zu einer Warnung vor der Möglichkeit künftiger katastrophaler Rückfälle in die Barbarei.“ Die Zeugnisse unfassbaren Unrechts müssen sich nicht unbedingt zu einem einzigen Inbegriff des Bösen in der Welt zusammenballen.  Es reicht, wenn sie nebeneinander stehen. Nebeneinander stehen dürfen. Wenn niemand sie strategisch – per Geschichtspolitik oder auch per Geschichtsschreibung –  gegeneinander ausspielt oder voneinander abkapselt.

Autor: Ernst Köhler