Als Fluchthelfer unterwegs

Als Niklaus Wagner aufwuchs, war der Kampf gegen den Faschismus das Gebot der Stunde. Hitler war im Norden, Mussolini im Süden und im Osten seit 1934 das austrofaschistische Regime. Zahllosen Linken blieb in diesen Ländern nichts als die Flucht ins Exil. Von der Schweiz aus wurde der antifaschistische Widerstand organisiert.

Das grenznahe St.Gallen war ein Brennpunkt. Hier versammelten sich in geheimen Treffen der Prager Exilvorstand der SPD sowie spätere kommunistische Größen wie Walter Ulbricht, Franz Dahlem oder Edo Fimmen. Ein Stützpunkt in diesem klandestinen Netzwerk war Wagners Elternhaus im St.Galler Arbeiterquartier Linsebühl. Sein Vater Niklaus sen. war ein bekannter Gewerkschaftsaktivist, sein Bruder Walter hielt die lokale Sektion der Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS) am Leben. Niklaus jun. machte bei den Jungsozialisten mit und trug am 1. Mai die rote Fahne.

Seine Karriere als heimlicher Kurier in der organisierten Fluchthilfe begann im Sommer 1936, als es galt, Spanienkämpfer aus Osteuropa auf festgelegten Routen durch die Schweiz zu schleusen. Der 17-Jährige nahm die von Wien kommenden Freiwilligen in Empfang, dirigierte sie zum Hauptbahnhof und setzte sie dann in den Zug nach Basel, wo sie über die Grenze nach Paris geführt wurden. Dabei musste er sowohl die Fahnder der Stadtpolizei als auch die Spitzel des Vaterländischen Verbands austricksen. Ein reger antifaschistischer Grenzverkehr fand im Rheintal statt. Im katholischen Vorarlberg waren die «Revolutionären Sozialisten» unterdrückt. Sie mussten ihre Schriften bei der sozialdemokratischen «Volksstimme» in St.Gallen drucken und über die Grenze schmuggeln. Nach dem Anschluss Österreichs ans Dritte Reich im Frühjahr 1938 wurde dieser Transit schwierig. Als der Präsident der St.Galler Jungsozialisten, Karl Zürcher, bei einem Botengang in Bregenz geschnappt wurde, musste Niklaus Wagner als Ersatz einspringen.

Als unauffälliger Jugendlicher war er der ideale Kurier. Er brachte unerkannt Druckschriften, Flugblätter, Dokumente und Informationen über Treffpunkte nach Bregenz. Im Papier waren Tagesscheine versteckt, mit denen sich der Grenzübertritt von GenossInnen ins Exil organisieren ließ. Rund ein Dutzend Mal sei er in Bregenz gewesen, erinnerte sich Wagner, zweimal in Lindau und einmal sogar in Innsbruck. Nie flog er auf, nicht einmal, als er im Ruderboot in Altenrhein auf Mission war. Allerdings wurde es brenzlig, als ihn SALeute anhielten, weil er die Hakenkreuzfahne nicht gegrüsst hatte, und als bei einer Kontrolle in seinem Jackett ein Maibändel gefunden wurde. Mit knapper Not entkam er einer Razzia bei der kommunistischen Aktivistin Franziska Vobr in Bregenz. Dort hatte er in der Dachmansarde übernachten können. Er hörte noch, wie SA-Leute die Wohnung stürmten und weitgehend zerstört hinterließen. Fraglich, ob er eine Festnahme der Nazi-Schergen überlebt hätte.

Mit seinem «Aktivdienst im Antifaschismus» zählt Wagner zu einer Generation lange vergessener ziviler HelferInnen, die durch ihren Ungehorsam zahllosen Flüchtlingen und politisch Verfolgten das Leben retteten und so den Ruf der humanitären Schweiz gegen die Demontage durch bürgerliches Anpassertum retteten. Erst mit der Rehabilitierung von Polizeihauptmann Paul Grüninger im Jahr 1993 drangen sie ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Mathias Knauer und Jürg Frischknecht hatten sie bereits 1983 mit der Film «Die unterbrochene Spur», in dem auch Niklaus Wagner vorkommt, dem Vergessen entrissen. Auf einen formellen Dank des Staates und eine öffentliche Würdigung ihres Wirkens warteten Leute wie Wagner allerdings vergeblich.

Als Linker und aktiver Gewerkschafter hatte es Wagner in der konservativen Ostschweiz nicht leicht. Als Hilfsarbeiter – er hatte keinen Beruf erlernen können – und später als Zählerableser fand er bei den St.Gallisch- Appenzellischen Kraftwerken (SAK) ein Unterkommen. Noch im vorgerückten Alter wurde er Opfer einer politisch motivierten Entlassung. Nur dank einer Intervention des einflussreichen Gewerkschafters Max Arnold wurde er wieder eingestellt. Auch beruflich blieb ihm also nichts erpart. Die letzten Jahre verbrachte Niklaus Wagner im Kreis seiner Familie und dann allein in seiner Wohnung im St.Galler Vorort Mörschwil. Dort starb er am 30. November 2010 im Alter von 91 Jahren.

Autor: Ralph Hug