Die große Lebenslüge des Dietrich Willier
Ende 2009 ist der Stuttgarter Journalist Dietrich Willier an Krebs gestorben. Texte des ehemaligen taz-Gründers waren in den letzten Jahren auch auf seemoz zu lesen. Wir waren seit über 20 Jahren sehr eng befreundet und ich habe einen Nachruf auf ihn verfasst. In den letzten Tagen mussten wir feststellen, dass die Zugriffe auf meinen Beitrag „Danke, Didi“ minütlich angeklickt wurden. Heute weiß ich, warum. Denn das zweite Gesicht des Kollegen und früheren Freundes Dietrich Willier wird von Stunde zu Stunde deutlicher: Er war ein Kinderschänder.
Es gibt Zeilen, die keiner schreiben will. Diese gehören dazu. Sie schmerzen, steigern sich ins Unerträgliche. Ein Konglomerat aus Fassungslosigkeit, Wut, Zorn, Enttäuschung, Entsetzen und auch Trauer. Ein mir über lange Jahre so wunderbar vertrauter Mensch hat mich, seine zahlreichen Freunde, seine Familie und viele andere ein Leben lang schändlich betrogen. Wir alle wussten, dass Dietrich Willier gegen Ende der sechziger Jahre Kunstlehrer an der Odenwaldschule war. Viel hat er nie darüber erzählt. Er habe dort nur rund ein Jahr unterrichtet, sagte er und vermittelte immer den Eindruck, als sei dieser Abschnitt seines Lebens nicht von Bedeutung gewesen und weitgehend vernachlässigbar.
Vor zwei Tagen tauchten im Netz die ersten Informationen auf. Von 1969 bis 1972, so lange war Dietrich Willier tatsächlich Lehrer, missbrauchte er Kinder. Die Schule, das ist schon seit Anfang 2010 eindeutig bewiesen, galt als „ein Paradies für Päderasten“. Dietrich war einer von ihnen, der dort sein Unwesen trieb. Das beweist der Abschlussbericht über sexuellen Missbrauch an der reformpädagogischen Odenwaldschule. In mindestens neun Fällen soll er sich an Schülern vergriffen haben – wobei dieser Ausdruck nicht mal im Ansatz den ungeheuerlichen Tatbestand beschreibt.
Dietrich Willier hat vor einem Jahr eine große Trauergemeinde hinterlassen. Der Konstanzer Musiker Bernd Konrad begleitete den Anlass im Stuttgarter Theaterhaus einfühlsam mit seinem Saxophon. Mehrere beeindruckende Reden wurden gehalten, viele umarmten sich weinend und beklagten den Tod des Kollegen, Partners, Bruders und Freundes. Auch ich. Nun, ein gutes Jahr später, holt uns eine gnadenlose Grausamkeit ein. Kinder, die bei ihm lange Jahre ein und aus gingen, sind konsterniert, gelähmt, fragen nach Erklärungen. Bleibt zu hoffen, dass er nach seiner Schulzeit seine Finger von Kindern gelassen hat. Wir wissen es – noch – nicht.
Frühere PartnerInnen erkennen, dass sie einen Teil ihres Lebens mit einem Menschen verbracht haben, der es über Jahrzehnte hinweg verstanden hat, seine dunkle, ja schmutzige Seite vor der Umwelt zu verbergen. Seine Opfer hat er bis zu seinem Tod ignoriert, ausgeblendet, als hätte es sie nie gegeben. Angeblich hat Dietrich Willier während seiner Lehrerzeit eine umfangreiche Kinderpornosammlung angelegt, darunter Bilder von Kleinkindern. Die kommenden Tage werden weitere Details zum „Fall Dietrich Willier“ ans Tageslicht bringen. Das bisher Bekannte ist schon widerlich genug. Schlimmer kann es kaum noch werden.
Auch ich fühle mich leer, gedemütigt und verraten und versuche, das Unfassbare irgendwie zu begreifen. Das wird, befürchte ich, kaum funktionieren. Gerne hätte ich ihn jetzt hier, würde ihm wutentbrannt meine Verachtung entgegen brüllen. Doch er hat sich davon gemacht und sich der Verantwortung entzogen. Bis eben hing sein Bild über meinem Schreibtisch und wir haben oft Zwiesprache gehalten. Doch damit ist nun Schluss. Mein bester Freund aus ahnungslosen Zeiten ist endgültig gestorben. Ein letzter Blick noch….
H.Reile
Die TAZ hat nicht diesen Mut. Der Name von Didi wird mit W. anonymesiert.
Klar, schon die Aufarbeitungskomision bestehend aus der Rechtsanwältin Frau Burgsmüller und der Richterin Frau Tillman haben es vorgezogen Willier lediglich als Kunstlehrer zu erwähnen und seinen richtigen Namen zu vertuschen.
Böse ist wer da irgendwelche Zusammenhänge sehen will!
Das Willier anschließend im Tigerenten Club weiter mit Kindern gearbeitet hat, lässt Fragen offen. Fragen die keiner gestellt hat.
Na ja, so dolle finde ich den Kommentar jetzt auch nicht. In erster Linie bedauern Sie sich doch selbst, Herr Reile, und die schöne Freundschaft zu einem Schwein, wie sich erst hinterher rausstellte.
Wäre vielleicht angebracht, wenn Sie ihr Leid nicht über das der eigentlichen Opfer stellen. Das waren Kinder. Keine guten Freunde, die einer ganz wichtig-tollen Kaste angehören und sich alle ganz dolle lieb haben.
Dass Sie sich sooo getäuscht haben in Ihrem wunderbaren Freund, hat vielleicht auch etwas mit Ihnen zu tun. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine, zugegeben wenige, Freunde keine Schweine sind.
„Ein mir über lange Jahre so wunderbar vertrauter Mensch hat mich, seine zahlreichen Freunde, seine Familie und viele andere ein Leben lang schändlich betrogen.“
Ja, Herr Reile, ich verstehe Sie gut:
„Gerne hätte ich ihn jetzt hier, würde ihm wutentbrannt meine Verachtung entgegen brüllen. Doch er hat sich davon gemacht und sich der Verantwortung entzogen.“
Als Betroffene von jahrelanger sexualisierter Gewalt erlebe ich (bzw. erleben wir Betroffene) dies ständig: Die Täter sind geschickt (und oftmals charismatisch) genug, sämtliche (auch sehr nahe stehende) Menschen in ihrem Umfeld zu täuschen, so dass uns niemand glaubt.
Wenn wir es dann nach Jahrzehnten wagen, das Schweigen zu brechen, und Gerechtigkeit und Wiedergutmachung von den Tätern zu fordern, verweigern sie sich durch „Alter“, „Demenz“ oder indem sie einfach wegsterben.
Und wir bleiben zurück mit der von Ihnen so schön beschriebenen Wut für ein (im GEGENSATZ zu Ihnen) ganzes zerstörtes LEBEN!
@zweifalken
der nach-nachruf von herrn reile ist beeindruckend. ihr kommentar ist es nicht. wir in der taz arbeiten seit wochen an der geschichte, ich selbst seit beinahe einem jahr am thema sexuelle gewalt. wir tazler waren es, die das von uns aus öffentlich gemacht haben und wir werden noch mehr dazu bringen. es gibt also keinen grund auf tazler einzuschlagen.
grüße, christian füller, taz/autor
Hallo,
ich bin über ihren Nachruf zu Herrn Williers Tod zu diesem Artikel gekommen und beglückwünsche sie zu diesem mutigen Entschluß.
Auch dazu gehört eine gewisse Größe, einem toten Freund im nachhinein die Freundschaft aufzukünden.
Davon könnten sich viele Linke ein große Scheibe abschneiden, im speziellen einige TAZ Redakteure.