Böll frikassiert (28)
aus: Nebelhorn Nr. 51, August 1985, von Jochen Kelter
Der Zürcher „Tages Anzeiger“ meldete den Tod Heinrich Bölls am 17. Juli auf der Titelseite und kommentierte ihn an gleicher Stelle: „‚Böllschewismus‘ hieß es süffisant in sogenannt besserer Gesellschaft, die dem Deserteur nicht gewachsen war, weil er ihre Moral als doppelte attackierte. Diese Gesellschaft wird ihn jetzt öffentlich betrauern – Heinrich Bölls sanfte Radikalität hat sie zu oft nicht ertragen.“
Nun, die Leute vom „Tages Anzeiger“ kennen die Leute vom Konstanzer „Südkurier“ nicht. Die haben nicht etwa, wie die Zürcher, auf der ersten Seite ein Foto des Redners Heinrich Böll plaziert, sondern einen mitleiderregend kranken alten Mann abgebildet. Früher einmal nannte man so etwas eine Geschmacksfrage. Für den „Südkurier“ mithin keine. Oder degoutant. Und das ist halt ein Fremdword. Und haben sie Egon Treppmann aufgeboten, den Mann, der normalerweise für das zuständig ist, was der „Südkurier“ „Aus dem Kulturleben“ nennt.
Der rückt mit seinem Nachruf am 17. Juli zum ersten mal seit dem Tod Ludwig II. bis auf die dritte Seite vor.
Egon Treppmann – hier hat sich der „Tages Anzeiger“ gründlich verschätzt – würdigt Heinrich Böll nicht, er würdigt ihn herab. Zum Nachkriegsschriftsteller. „Er versinnbildlicht ein Stück jener Generation …“ Wenigstens ‚einen Teil‘ hätte man an dieser Stelle von einem Feuilletonchef erwarten dürfen.
„Für einen großen Teil“ – na also – „der Bevölkerung war die Zeit nach dem Überstehen der Hungerjahre ein positives Erlebnis. Man war wieder Mensch …“ Man durfte es wieder sein. Man konnte wieder die Sau rauslassen, ohne sich einen Nazi schimpfen lassen zu müssen. „Damals gab es aber auch etliche, die nicht froh wurden …“ Diese Miesepeter. „Zu ihnen gehörte“ – na, wer wohl? Erraten! – „Heinrich Böll.“ „Ihm ging das Hervorwachsen neuer Städte zu schnell und zu seelenlos vor sich, …“ Ein Feind der Bauwirtschaft! „… das Vergessen der Vergangenheit geschah ihm zu übereilt.“ Egon, ach Egon. Ist Dir der Gedankengang intelektuell zumutbar, daß es nicht allein die Tatsache war, daß Ihr mit dem Vergessen nicht mal bis 1949 warten konntet, die ihn störte?
„Der SPD leistete er in aller Öffentlichkeit Wahlhilfe …“ – in aller Öffentlichkeit! Hatte der Mann den kein Schamgefühl? – „… und düpierte damit wiederum nicht wenige Menschen und Leser.“ „Düpierte“ er etwa „nicht wenige“ Baulöwengattinnen unter seinen Lesern? Unverzeihlich! „Das alles hat Heinrich Böll nicht angefochten.“ Ich sag’s ja: ein grober Klotz. Keiner von diesen sensiblen Wirtschaftskapitänen.
„Nun, dies alles ist jetzt Vergangenheit.“ Ein Glück, wie? Nie mehr Heinrich Böll! „Es bleiben seine Bücher, in denen all das Kämpferische seiner Natur gefiltert und geläutert ist, eine literarische Form erhalten hat.“
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen
Literatur, wie sie der „Südkurier“ versteht: zahnloses Gebrabbel von Bettnässern, mit der die bessern Herrschaften ihre Blöße, „all das Kämpferische“ ihrer „Natur“ bedecken. Herrgott, erspare den Toten solche Nachrufer!
Nachdem Egon Treppmann Böll auf diese Art zu Haché à la province verarbeitet hat, kann der „Südkurier-Korrespondent Hans Wüllenweber“ getrost nachlegen und die Prophezeiung des Zürcher „Tages Anzeiger“ erfüllen: „Unter dem sonnendurchglitzerten mächtigen Laubdach der Eiche an Bölls Wahlgrab wurden im stillen Einverständnis zwischen dem Präsidenten und dem Literaten Freundschaft und – trotz aller Unterschiede – die gemeinsame Wurzel der Humanität spürbar.“ Zuerst frikassieren, dann verspeisen! Papier ist geduldig, die Toten sind es auch. Mögen die Lebenden sich indessen vor denen hüten, die den Toten derart übel nachrufen.
Sunny August 1985