Wanzenplage (30)

aus: Nebelhorn Nr. 53, Oktober 1985, von Jochen Kelter

Seit Wochen schwirren Sekretärinnen, Regierungsbeamte, Kassenboten und Flüchtlingsvorzimmerdamen nach Ostberlin ab. Ziehen sich noch einen Spanien-Urlaub von Neckermann rein und machen die Fliege. Die Mädels und Jungs, die Kaugummiautomaten, Minister und Cruise Missiles belauchen, hat das Reisefieber gepackt.

Was ist passiert? Wer hat sie ausgelöst, diese Reisewelle? Franz Oexle, bis auf weiters (Holtzbrinck läßt grüßen!) Chefredakteur des „Südkurier“, hat den Verantwortlichen bereits am 27. August geortet: „Dafür bürgt der Name des dem Trunk ergebenen Regierungsdirektors Hans-Joachim Tiedge.“

Ein Hoch dem besoffenen Ministerialen! Der schaffte, was niemand bisher geschafft hat: die dringend benötigten Arbeitsplätzeim öffentlichen Dienst.

Hat weiße Mäuse gesehn und alle rübergescheucht. Aber nicht doch! Keine Mäuse. Wanzen! Franz hat sie auch gesehen: „Zeichen schlimmer ‚Verwanzung'“. Mehr noch: „Die Bundesrepublik Deutschland stellt sich 1985 als in höchstem Grade ‚verwanzt‘ dar.“ Das uns. Wo wir so auf Reinlichkeit halten. Franz kann gerade noch die Beine unterm Schreibtisch hochziehen und niederschreiben: „Hier liegt Unterhöhlung bis Einsturzgefahr vor.“

Nachdem die erste Welle Wanzen durch war und klar wurde, daß der bröckelnde Putz in der Redaktion von den Baggern draußen in der Konzilstraße herrührt, hat Franz Oexle sich das Handbuch des Kammerjägers besorgt, um der Sache auf den Grund zu gehen.

„Im Milieu der Geheimdienste, Agenten und Spione (is‘ es nu‘ eine, oder ist es keine Tautologie?) hat das Wort Wanze eine besondere Bedeutung.“ Wir sind auf einer heißen Spur! „Der Name eines lästigen Insekts, das in den hochzivilisierten Ländern nur noch in unsauberer Umgebung vorkommt,“ – „nur noch“ ist gut, nicht? – „wird benützt, um kleine verborgene Abhörvorrichtungen zu kennzeichnen, mit deren Hilfe man Gespräche verfolgen kann, die nicht für Dritte bestimmt sind.“ Man stelle sich das vor: die gesamte Geschäftsführung des „Südkurier“ auf Band!

Aber dann hat sie ihn wieder, die optimistische Weitsicht der Männer in führenden Positionen: „Dennoch bleibt, wie auch sonst, im elektronischen Zeitalter, der Mensch ein Helfer, auf dessen Mitarbeit nicht verzichtet werden kann.“ Das gehört aber jetzt mal dem DGB und der SPD-Opposition in Bonn hinter die Ohren geschrieben! Keine Worte mehr gegen „Agenten und Spione“ bei diesen Perspektiven: Arbeitslose Jugendliche, ungelernte Arbeiter, jeder wird gebraucht, der in der Lage ist, „am Telefon, unter dem Eßtisch oder hinter dem Bett eine ‚Wanze'“ anzubringen.

Was Franz Oexle wohl eher Sorgen macht, ist die Situation auf Manager-Ebene. Da steht doch eigentlich schon jeder in Arbeit und Brot. „Selbst für  Autoren von Spionage-Thrillern kam es bisher kaum in Betracht, Top-Agenten als Geheimdienst-Bosse auftreten zu lassen. Solches schien ihnen zu unrealistisch“. Ein Wink mit dem Zaunpfahl. Dem Manne kann vielleicht doch noch geholfen werden: Auf Franzens Gabentisch zu Weihnacht gehört John le Carré.

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

Der Diagnose eines klugen Kopfs folt die Therapie stets auf dem Fuße. „Es gilt, im Gesamtfeld des öffentlichen Dienstes die oberen Ränge ‚wanzen-frei‘ zu machen.“ Sollen die sich da unten doch abhören, bis sie schwarz werden. Auf diese Art kommen sie wenigstens von der Straße.

„An den Schaltstellen der Republik ist jetzt Durchlüftung geboten, Wäschewechsel und da und dort noch mehr.“ Wie, bitte, hat man sich das vorzustellen? Kohl und Zimmermann wechseln vorm offenen Fenster die Unterhosen? Aber „da und dort noch mehr“? Meinst Du, Zimmermann sollte splitternackt …? Und dazu seinen Hut nehmen? Ich rate: Warten wir’s ab. Vielleicht verreisen da in nächster Zeit noch ganz andere, und der „Südkurier“ kriegt jede Menge Stelleninserate aus Bonn.

Sunny                                                                                                                                                   Oktober 1985