Jungbürger und Jahrmarktsredner (31)

aus: Nebelhorn Nr. 54, November 1985, von Jochen Kelter

Weil sich beim „Südkurier“, wie die Geschäftsleitung unterstreicht, nichts ändern wird, wenn am 1. Januar ’86 der Holtzbrinck-Konzern die Anteilsmehrheit übernimmt, hat Chefredakteur Franz Oexle probeweise schon mal auf eine andere Branche umgesattelt. Ich seh‘ schon den Titel seines nächsten Buchs: ‚Vom Redaktions- zum Rednerpult.

Hat einen Schnellkurs in Rhetorik absolviert und gleich nach einer Zuhörerschaft zum Üben Ausschau gehalten. Da kam die Jungbürgerfeier gerade recht. Weil man da nicht einfach gehen kann wie beim Jahrmarktsredner.

„Es spricht für die Stadt Konstanz, daß dieser Anlaß überhaupt mit einer Feier begangen wird.“ Rethorik-Regel Nummer 1: Man danke dem Gastgeber, egal unter welchem Vorwand.

„In anderen Städten … hat man den Eintritt junger Menschen in die vollen bürgerlichen Rechte schon längst nicht mehr für erwähnenswert gehalten.“ Der ungeübte Hörer könnte hier dem Trugschluß erliegen, der geschilderte Tatbestand weise Konstanz wohl eher als politisches Zonenrandgebiet aus. Doch weit gefehlt! Merke: In der wohlgesetzten Rede ist die vordergründige Logik, nach der zwei und zwei vier ergeben, völlig außer Kraft gesetzt. Und gleich auch noch Regel Nummer 3: Der Gebrauch des Tempus bleibt völlig dem Gutdünken des Redners überlassen.

„Dies aber spricht für den gar nicht so guten Zustand unserer Republik.“ Spricht für den gar nicht so guten? Oder: spricht nicht für den guten? Nun, das kommt erst im Fortgeschrittenenkurs zur Sprache.

Zur Sprache bringt Franz Oexle hingegen, wie könnte es bei solcher Gelegenheit anders sein, eine kleine Lektion in Nachkriegsgeschichte: „Die Überlebenden des Zeiten Weltkriegs haben im westlichen und freien Teil des Landes in der Tat etwas auf die Beine gestellt, das einer ganzen Welt Respekt einflößte.“ Merke: Ein deutscher Redner, zumal einer auf dem flachen Lande, schert sich einen Dreck darum, ob es „einer ganzen Welt“ vielleicht bis oben steht, von Deutschen abwechselnd massakriert zu werden oder etwas eingeflößt zu kriegen.

Was „einer ganzen Welt“ eine Gänsehaut über die Erdkugel jagte, ist allerdings unterdessen von sozialistischen Bildungspolitikern und Sozialutopisten verjuxt und verjubelt worden. Eines ist indessen „seit über zwanzig Jahren“ gleichgeblieben. „Wer hat, der hat“. Man ist schließlich nicht umsonst „seit über zwanzig Jahren“ beim „Südkurier“. „Das ist die Welt, in die Sie als Jungbürger hineingestellt sind.“ Prost Welt! „Es wäre nun aber falsch, wenn Sie … hinter Verführern herliefen, die Ihnen das Revoluzzertum beibringen, die aber dann eines Tages Sie allein lassen“. Rhetorik-Regel Nummer 5: Man nehme einen normal gebauten Satz, gebe ihn in einen Mixer, schüttle kräftig und lasse das Ergebnis aufs Blatt fließen: Satzfrikassée à la ‚Wie ihm der Schnabel gewachsen ist‘.

Aber unser Satz war noch gar nicht fertig: „… die Ihnen das Revoluzzertum beibringen, die aber dann einses Tages Sie allein lassen und im Mercedes davonfahren.“ Wo, Franz, hast Du wieder meinen Mercedes versteckt? Rück ihn raus, oder ich borg mir Deinen!

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

Regel Nummer 6: Man verteile wohlfeile Ratschläge. Die müssen ja nicht unbedingt erst gemeint sein: „einen vernünftigen Ausbildungsweg beschreiten, wenn er versperrt ist, einen anderen wählen. Es gibt Gelegenheiten, sich zu bewähren…“ Machen Sie’s wie ich. Nehmen Sie sich eine leere Apfelsinenkiste, stellen Sie sich an eine belebte Straßenecke und halten Sie Reden.

Letztes Gebot: Der Redner muß bei seinen Zuhörern unbedingt den Eindruck erwecken, als stünde er mit dem göttlichen Weltenplan auf Du und Du: „Die weltwirtschaftlichen Gelegenheiten werden sich auch wieder ändern. Das ist so sicher wie ein Naturgesetz.“ Befolgt der Redner diese letzte wie auch die vorherigen Grundregeln aufmerksam, so kann die Wirkug nicht ausbleiben. „Viel Beifall und große Zustimmung„, registrierte der „Südkurier“-Redakteur, der seinem Chef hinterhergestiegen war, um seine Rede der Nachwelt zu überbringen. Der „Südkurier“ hat sie am 23. Oktober abgedruckt. Titel: „Greifen Sie dort in die Speichen, wo sich etwas bewegen läßt“. Der Karren scheint ganz schön im Dreck zu stecken.

Sunny                                                                                                                                    November 1985