Sinti: Wieder diskriminiert, verfolgt und vertrieben

Es hat schon Tradition, dass die VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes – Bund der Antifaschisten) am Volkstrauertag im Anschluss an die offizielle Feier auf dem Waldfriedhof in Singen eine eigene Feierstunde abhält. In diesem Jahr erinnerte Doris Künzel an das Schicksal der Sinti. In ihrer bemerkenswerten Rede spannt sie den politischen Bogen vom Singen des Jahres 1942 bis zum Kosovo der Gegenwart und stellt fest: An der Verfolgung der Sinti hat sich wenig geändert.

„Wir stehen hier am Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus der Stadt Singen. Diese Opfer waren Menschen, die aufgrund ihrer politischen Gesinnung und ihres Widerstandes, ihrer religiösen Weltanschauung oder einfach nur wegen ihres Andersseins von den Nationalsozialisten grausam ermordet wurden.

Und unter ihnen befindet sich auch die Familie Winter. Johann Winter und seine Ehefrau Philippine lebten seit 1926 in Singen in der Duchtlingerstraße. Sie wohnten mit ihren Kindern in einem Wohnwagen und einem selbst errichteten, kleinen Haus, um das sie bei der Stadt Singen lange kämpfen mussten. Die Familie Winter gehörte dem Volk der Sinti an, jener Roma, die seit dem 15. Jahrhundert in Deutschland leben. Johann Winter bestritt den Lebensunterhalt für seine Familie als reisender Händler und trat als Musiker in Gasthäusern auf.

Mord an Sinti in Auschwitz

Der älteste Sohn, Anton Winter, war in Singen bei der Fa. Fahr, Landmaschinen, bei der Seilfabrik Beck und Co . und bei der Brauerei Bilger in Gottmadingen beschäftigt. Als er im August 1942 heiraten wollte und das Aufgebot bestellte, wurde über die Kriminalpolizei Karlsruhe für ihn und seine künftige Ehefrau Luise Köhler ein Gutachten der Rassehygienischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes angefordert. In diesem Gutachten vom 17. September 1942 stand geschrieben, dass sowohl Anton Winter als auch Luise Köhler, „ … als Zigeunermischlinge mit vorwiegend zigeunerischem Blutsanteil zu gelten haben“.

Am 23. März 1943 fuhr ein Lastwagen mit Polizei und Gestapo in der Duchtlingerstraße vor und verhaftete alle Anwesenden. Tags darauf wurden Johann Winter und seine Ehefrau, sowie Anton Winter mit Ehefrau Luise und deren Kinder, Lothar, Willi, Karl-David, Anna und Wilhelm, sowie Josefine Köhler und der Pflegesohn Bruno Reinhardt ins KZ Auschwitz eingeliefert. Ermordet wurden Winter, Johann, Winter, Philippine, Winter, Karl-David, Winter, Lothar, Winter, Willi, Köhler, Josefine und Reinhardt, Bruno noch im gleichen Jahr in Auschwitz, einzig und allein deshalb, weil sie dem Volk der Sinti angehört haben.

Die Nürnberger Rassengesetze von 1935 haben Juden, Sinti und Roma gleichermaßen getroffen. Roman Herzog, ehemaliger Bundespräsident, hat 1997 bei der Eröffnung des Dokumentations- und Kulturzentrums deutscher Sinti und Roma in Heidelberg die Vernichtung der Roma mit folgenden Worten ausgedrückt: „Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden. Sie wurden im gesamten Einflussbereich der Nationalsozialisten systematisch und familienweise vom Kleinkind bis zum Greis ermordet.“

Verfolgung der Roma heute in Europa

Bis in die 1980iger Jahre wurde dieser Völkermord an 500000 Roma aus ganz Europa in Deutschland verschwiegen, verdrängt, geleugnet und den Opfern eine Wiedergutmachung verweigert. Heute wird das Volk der Roma in Europa erneut diskriminiert, verfolgt und vertrieben.

In Bulgarien und in Tschechen verbrennen randalierende Schlägertrupps die Häuser von Roma. In Ungarn schlafen Roma mit der Angst vor nächtlichen Mordanschlägen neofaschistischer Banden, im Kosovo fürchten Roma, auf offener Straße angegriffen zu werden. In Rumänien versuchen Roma, der drückenden Armut zu entkommen, indem sie in den Westen fliehen, in Deutschland schlafen Roma mit der ständigen Angst vor einer Abschiebung im Morgengrauen, in Makedonien, in Montenegro, in Serbien, in Frankreich, in Italien, …….. Diskriminierung, Ausgrenzung, Verfolgung, Deportation….

Überall werden sie zu Sündenböcken gestempelt, schlägt ihnen rassistische Gewalt, von rechten Politikern und verantwortungslosen Medien geschürt, entgegen. Diese Gewalt hat inzwischen viele Todesopfer gefordert.

In Baden-Württemberg sind derzeit ca. 1200 Roma aus dem Kosovo und anderen Ländern des Balkans von Abschiebung bedroht: Menschen, die oftmals mehr als 15 Jahre hier gelebt haben, Kinder und Jugendliche, die hier geboren, aufgewachsen und integriert sind und im Kosovo keinerlei Zukunftschancen besitzen, alte und kranke Menschen, die nach ihrer Abschiebung weder Wohnraum noch eine medizinische Versorgung erhalten.

Der Obmann für Menschenrechte im kosovarischen Parlament, Sami Kurthesi, verdeutlicht die Situation der Abgeschobenen so: „Wenn die Eltern keine Arbeit haben und möglicherweise auch keine Wohnung, werden sie entweder versuchen, wieder zu fliehen, oder sie werden kriminell oder sie sterben einfach.“

Obwohl Amnesty international die Lebenssituation der Roma im Kosovo als politische Verfolgung bezeichnet und sich der Europarat, Hilfsorganisationen und Kirchen gegen Abschiebungen in den Kosovo aussprechen, wurden Roma aus dem Kosovo von der ehemaligen CDU-Landesregierung rigoros abgeschoben.

Abschiebestopp in Baden-Württemberg

Als Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes – Bund der Antifaschisten appellieren wir an unsere historische Verantwortung als Deutsche gegenüber dem Volk der Roma in gleichem Maße, wie wir diese Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk seit Jahrzehnten wahrnehmen. Wir begrüßen deshalb den vorläufigen Abschiebestopp der neuen Landesregierung für Roma aus dem Kosovo. Wir sehen darin einen mutigen Schritt hin zu mehr Humanität und dem Schutz der verfolgten und bedrohten Minderheit der Roma.

Wir fordern darüber hinaus jedoch einen generellen Abschiebestopp und ein dauerhaftes Bleiberecht für Roma hier in Baden-Württemberg und in Deutschland sowie allen europäischen Ländern. Wir fordern von der Landesregierung die Arbeitserlaubnis und Integrationsangebote für die Roma-Minderheit statt Abschiebung in Not, Elend und Verfolgung.

Zum Schluss möchte ich aus der Rede von Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, zitieren, die er im Januar 2010 zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus gehalten hat: „Menschen- und Minderheitenrechte sind unteilbar. Wer den mörderischen Antiziganismus nicht ebenso konsequent ächtet wie den Antisemitismus, wer ihm mit

Passivität, Gleichgültigkeit oder Halbherzigkeit begegnet, der stellt nicht nur die Glaubwürdigkeit der europäischen Wertegemeinschaft von Grund auf in Frage, sondern verrät all das, wofür Auschwitz als unsere gemeinsame historische Verpflichtung steht. In einer Zeit, in der ökonomische Zwänge und Verwertungsdenken immer mehr Lebensbereiche beherrschen, ist es umso wichtiger, grundlegende Werte der Menschlichkeit glaubhaft zu vermitteln. Ob uns dies gelingt, ist möglicherweise von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung unseres Gemeinwesens.“

Autorin: Doris Künzel, VVN-BdA Kreisvereinigung Singen- Konstanz