Reaktionäre Antwort auf die Erfolge der Emanzipation
Prognosen sehen die AfD bei den Wahlen am Sonntag bei 12 Prozent. Damit würde die rechtsextreme Partei zwar schlechter als vor fünf Jahren abschneiden, aber womöglich immer noch als drittstärktste Fraktion in den Stuttgarter Landtag einziehen. Nicht alle, die AfD wählen, seien Nazis, sagt der Wahl- und Demokratieforscher Horst Kahrs im Interview. Sicher sei aber, dass Nazis heute bevorzugt AfD wählen. Für ihn stellt sich also die Frage, warum Leute eine Partei wählen, von der bekannt ist, dass sie Tummelplatz von Nazis ist, rassistische Positionen vertritt und Grundsäulen des demokratischen Systems ablehnt.
Vom Verfassungsschutz beobachtet, sinkende Mitgliederzahlen und Umfragewerte im deutschen Westen, tief gespalten: ein Lager um den Co-Parteivorsitzenden Jörg Meuthen gegen alle anderen — wie wahrscheinlich ist es, dass sich die AfD spaltet?
Horst Kahrs: Meine Vermutung ist: Trotz aller inneren Spannungen wird die AfD bis zur Bundestagswahl zusammenbleiben. Danach werden sich diese Spannungen entladen. Wie, das wird allerdings auch von den allgemeinen politischen Konstellationen abhängen. Nehmen wir einmal an, es käme zu einer schwarz-grünen Bundesregierung. Die wäre sofort mit Konflikten zwischen den wertkonservativen und wirtschaftsliberalen Kräften in der Union verbunden. Hier könnte der Meuthen-Flügel neues Potential wittern, vorausgesetzt er würde sich vom rechtsextremen „Flügel“ um Björn Höcke befreien. Käme es hingegen zu einer schwarz-grün-gelben Koalition, hätte die Meuthen-Truppe auf absehbare Zeit schlechtere Karten, der Raum für den „Flügel“ als Bewegungspartei würde wohl größer. So kann man sich diese und weitere Szenarien, auch bezüglich des Wahlergebnisses der AfD selbst, vorstellen, in denen sich die in der AfD herrschenden Spannungen entladen könnten. Was ich damit sagen will: Linke Parteien spalten sich ja eher aus ideologischen Gründen. Bei einer Partei wie der AfD spielen ideologische Grenzen, das hat sich in ihrer kurzen Geschichte hinreichend gezeigt, eine geringere Rolle. Machtpolitische Kalküle dominieren.
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Auch wenn sich die AfD nicht spaltet, eine Partei, die so geschwächt ist, muss bei der Bundestagswahl doch krachend verlieren. Oder nicht?
Kahrs: Ich sehe die AfD nicht als eine besonders geschwächte Partei. Sie wird wohl mit einem ordentlichen Ergebnis wieder in den Bundestag einziehen, zwar nicht zulegen, aber auch nicht in die Nähe der Sperrklausel geraten. Dann wird sie Gelder für ihre parteinahe Stiftung bekommen und sich weiter in der Gesellschaft verankern können. Alle Umfragen zeigen, dass die AfD-Anhängerschaft recht treu ist und relativ wenig Bereitschaft zeigt, eine andere Partei zu wählen. Das Problem für die AfD wird sein, wie gut sie dieses Potential mobilisieren kann.
Die CDU vor sich her treiben — das ist viel ergiebiger
In Ostdeutschland hat die AfD zwar nur etwa 8.000 Mitglieder, aber hohe Wahlergebnisse. Wäre es für einen Wahlforscher schlüssig, wenn diese ostdeutsche AfD sich abspaltet und so etwas wie die CSU des Ostens gründet?
Kahrs: Der Vergleich ruckelt etwas: Die CSU ist ja nur deshalb stark, weil sie bundesweit die CDU als Schwesterpartei hat. Sonst wäre sie eine Bayernpartei, die neben einer bayerischen CDU um ihre Existenz kämpfen müsste. Das gilt auch für die AfD: Bei jeder Abspaltung, egal wie sie verläuft, wäre zwangsläufig der jeweils andere AfD-Teil der erste Gegner. Das wäre für beide Teile politisch und wahlpolitisch nicht ergiebig. Es ist für die AfD in den ostdeutschen Bundesländern bis auf weiteres viel ergiebiger, die CDU auf der Suche nach parlamentarischen Mehrheiten vor sich herzutreiben, wie in Thüringen und Sachsen-Anhalt zu beobachten.
Der Mainzer Historiker Andreas Rödder sagte einmal: „Ist ein Ostdeutscher, der nach 1990 den Boden unter den Füßen verloren hat und heute AfD wählt, wirklich ein Nazi.“ Ja oder nein?
Kahrs: Ist ein Schwabe, der nach 1990 den Boden unter den Füßen verloren hat und heute AfD wählt, wirklich ein Nazi? Es grenzt doch an grobem intellektuellem Unfug, bei dieser Frage die ostdeutsche Herkunft, womit ja immer die DDR-Herkunft mitgemeint ist, in Anschlag zu bringen. Nicht jeder, der in West oder Ost den Boden unter den Füßen verloren hat, wählt ja automatisch AfD. Und warum reüssiert die AfD erst mehr als zwanzig Jahre nach der Wende, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die meisten bereits wieder Boden unter den Füßen haben? AfD zu wählen, dazu gehört dann schon eine gewisse ideologische oder auch politische Nähe. Zum Beispiel eine tendenziell nationalistische Grundmentalität. Das belegen ja auch alle Nachwahlbefragungen. Um nun Ihre Frage zu beantworten: Unabhängig von einer landsmannschaftlichen Zugehörigkeit sollten doch zwei Sätze gelten. Der erste: Nicht jeder, der AfD wählt, ist ein Nazi. Der zweite: Nazis wählen heute bevorzugt AfD. Die Frage muss also lauten: Warum wählen Menschen eine Partei, von der sie wissen beziehungsweise wissen können, dass sich in ihr Nazis tummeln, dass sie fremdenfeindliche Positionen vertritt, dass sie sich gegen Grundsäulen unseres demokratischen Systems stellt.
Der Niedergang des Modells der Kleinfamilie
Sie analysieren die AfD als eine schichtenübergreifende Partei. Sie ist also weder der Hort der materiell Schwachen, Verarmten noch der der Rechtsextremen. Gebe ich das richtig wieder?
Kahrs: Die Wählerschaft der AfD ist schichten- und klassenübergreifend. Darunter finden sich akademische und angelernte Berufe, Bürgerinnen und Bürger mit formal hoher und niedriger Bildung, mit hohen und geringen Einkommen. Überdurchschnittlich gewählt wird sie von Selbstständigen und Freiberuflern, aber eben auch von Arbeitern, Menschen mit formal einfachen oder mittleren Bildungsabschlüssen. Übersehen wird dabei oft, dass für diese letztere Schichten etwas Besonderes gilt: Von diesen Produktions- und Dienstleistungsarbeitern gehen bis zu 50 Prozent gar nicht zur Wahl. Das heißt: Die Nichtwähler sind in dieser Schicht die bei weitem stärkste „Partei“. Dagegen bilden diese Arbeiterschichten In der Wählerschaft der AfD nur eine Minderheit. Das spricht dafür, dass vor allem die ideologische Weltsicht die Wählerinnen und Wähler der AfD verbindet, weniger deren soziale Lage.
Es gibt soziale Spaltungen. In den vergangenen Jahren rückten zunehmend kulturelle Spaltungen nach vorne, da geht es um Herkunft, Heimat, Identitäten, ob jemand studiert hat oder nicht, eher national oder international orientiert ist, auf dem Land lebt oder in einer Metropole. Zwei Welten scheinen da verbindungslos gegeneinander zu stehen. Wie sehr ist die soziale, wie sehr die kulturelle Spaltung Grund für den Aufstieg der AfD?
Kahrs: Ich halte das für eine falsche Gegenüberstellung. Soziale Spaltungen sind immer auch kulturelle Spaltungen. Es geht meiner Meinung nach auch nicht um Spaltungen, sondern um Zukunft und Vergangenheit. In der AfD versammeln sich Kräfte, die mit ihren Haltungen in der Vergangenheit die Normalität in der Gesellschaft verkörperten. Noch vor zwei Jahrzehnten galt der Union die klassische Kleinfamilie als Keimzelle der Gesellschaft, Sozial- und Steuerrecht waren auf ihren Vorteil zugeschnitten. Es war ein langer Weg bis zur Ehe für alle. Auf diesem Weg verloren die Anhänger des traditionellen Modells immer mehr an Boden. Die einen machten den Wandel mit, sagten zum Beispiel, dass Familie überall da sein könne, wo Kinder sind.
Deklassierte Bildungsbürger
Kahrs: Andere konnten und wollten nicht akzeptieren, dass ihnen zwar niemand ihr Lebensführungsmodell untersagte, aber ihr Modell nach und nach erheblich an Bedeutung verlor und nicht länger Norm war. Sie sahen sich womöglich von CDU und CSU verraten und brachen politisch mit ihr. Das ist nur ein Beispiel. Blicken wir auf den sozialen und kulturellen Wandel der letzten dreißig Jahre zurück: Da sind viele Bereiche zu sehen, in denen nicht mehr die Normen dominant sind, die noch Ende der 1980er oder Anfang der 1990er als unverbrüchlich galten. Teilweise wurden Menschen mit diesen Prozessen sozial geradezu deklassiert. Vor allem die Menschen verloren ihre — meist industriellen — Arbeitsplätze, die fachberuflich ausgebildet waren. Und viele von denen führten das damals klassische Kleinfamilien-Leben, ein Modell, das einst sehr gefördert wurde und im Mittelpunkt der damaligen Sozial- und Familienpolitik stand. Damals entstanden auch mehr und mehr akademische Berufe. Sie führten gleichzeitig zu einer Deklassierung der alten Bildungsbürger, einfach weil diese deshalb nicht mehr so besonders waren. Die AfD ist in meinen Augen vor allem die reaktionäre politische Antwort auf die Erfolge gesellschaftlicher Emanzipation. Aus diesem Verlust, der nicht einmal ein materieller sein muss, wachsen Ressentiment und die Bereitschaft, sich zu radikalisieren.
Wo gaben alle anderen, also vor allem die demokratischen Parteien, aber auch Verbände, Gewerkschaften und Kirchen richtige Antworten auf die AfD?
Kahrs: Persönlich finde ich alle Antworten richtig, die sich bemühten, die Grenze zwischen dem in einer Demokratie Zulässigen und dem Antidemokratischen deutlich zu machen. Ich meine also Antworten, die auch versuchen in die AfD-Wählerschaft hinein zu kommunizieren, wo Grenzen überschritten werden. Jede hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber keiner hat das Recht auf eigene Fakten. Gehört wird nur, wer auch bereit ist, andere anzuhören. Die klare Kante gegen die AfD ist nur dann eine klare Kante, wenn sie alltagstauglich ist. Alltagstauglich heißt für mich, wenn möglichst viele Menschen diese Antworten in ihrem Alltag nützen können, um den Positionen und Propagandisten der AfD etwas entgegenzusetzen und zugleich die demokratische Lebensweise zu stärken. Denn die AfD kleinzuhalten, ist eine Alltagsaufgabe, sie gelingt nicht allein im politischen Feld.
Dem Behördenalltag Beine machen
Und wo gab es falsche Antworten?
Kahrs: Dort wo nicht gefragt, sondern immer wohlfeil im jeweiligen parteiinternen Interesse nur darüber spekuliert wurde, was Menschen dazu bringt, bei der AfD, rechten Demonstrationen oder faschistischen Mobilisierungen, wie in Chemnitz, mitzumachen. Wo Motive verstehen wollen, verwechselt wird mit Verständnis haben. Wo zu lange gedacht wurde, es handele sich wie in den späten 1960er bei der NPD um eine vorübergehende Erscheinung. Wo die Erkenntnisse über die rechtsextremen Strukturen, die vor vielen Jahren entstanden sind und seither stärker werden, ignoriert wurden. Denn diese Strukturen bildeten und bilden ein Rückgrat der AfD.
Es gibt von der AfD eine klare Antwort auf Pandemie und Pandemie-Krisenmanagement: alles halb so wild, Lockdown abbrechen, zur Normalität zurückkehren. Gibt es von der Linken, von der Linkspartei eine ähnlich eigenständige Antwort?
Kahrs: In dieser Pandemie gibt es zwei grundsätzliche Positionen: Das neuartige Corona-Virus ist eher so etwas wie eine normale Grippe, auf jeden Fall kein Anlass für besondere Schutzmaßnahmen des Staates. Die andere Position sagt: Das Corona-Virus ist unberechenbar in seinen Wirkungen, es führt zu gehäuften schweren Krankheitsverläufen, der Staat ist verpflichtet, besondere Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und ihrer Gesundheit zu ergreifen. Die Linke findet sich mit den meisten anderen Parteien auf diesem Pol und streitet um Varianten der behördlichen Maßnahmen, um deren Akzeptanz und darum, die sozialen Folgen möglichst auszugleichen. Die Linke versucht zudem, diese Frage in den Vordergrund zu schieben: Was wollen wir als Gesellschaft aus der ganzen Sache denn lernen? Wie viele Puffer für zukünftige Katastrophen, Pandemien wollen und müssen wir aufbauen? Wie können wir ausreichend Personal, vor allem Pflegepersonal für die Krankenhäuser organisieren? In welchem Umfang sollten Privatisierungen rückgängig gemacht werden? Solche Fragen und Themen machen die Eigenständigkeit, die Unterscheidbarkeit der Linken aus. Selbstverständlich wollen alle so schnell wie möglich aus der Pandemie raus. Natürlich kann darüber gestritten werden, wie das am besten geht. Aber es geht um mehr: Teile der Bevölkerung sind inzwischen bereit, aus der ganzen Sache zu lernen, vieles besser zu machen. Sie sehen mit einem anderen Blick auf den Staat und seine Aufgaben, sie wollen dem normalen Behördenalltag endlich Beine machen. So an diese Krise heranzugehen, das führt die Linke in der Pandemie über sie hinaus.
Union und Linke — gemeinsam gegen die Grundgesetz-Gegner
Bisher hieß es von vielen Politikern, rechts gleich links, also Links-Partei und AfD sind gleichermaßen Extreme, die der Demokratie schaden. Nun vergleicht Markus Söder neuerdings so: Die Linke wolle mit Hilfe des Grundgesetzes die Eigentumsordnung in Deutschland umstürzen, aber die AfD wolle mit Hilfe des Grundgesetzes dieses abschaffen. Was ist diese Veränderung wert?
Kahrs: Vor gut einem Jahr stellte der Thüringer Landtag die Brandmauer gegen die AfD in Frage. Damals machten CDU und FDP — im Wissen um das Stimmverhalten der AfD — Herrn Kemmerich zum Ministerpräsidenten. Das war möglich, weil die CDU sich bundespolitisch mit ihrer Gleichsetzung von AfD und Linke in eine machtpolitische Sackgasse manövriert hatte. Markus Söder und andere hielten es deshalb für notwendig, einen Ausweg zu finden. Sie verorteten sich neu, zusammen mit der Linkspartei in einem demokratischen, grundgesetztreuen Lager. Und dieses Lager steht — allen Differenzen untereinander zum Trotz — einem gemeinsamen Feind, der antidemokratischen AfD, gegenüber. Ich denke, damit akzeptierte die Union erstmals die politische Realität. Denn die Lage ist doch so: Die demokratischen Institutionen werden von einer rechten Bewegung angegriffen, die sehr wohl faschistische Züge trägt. Daraus musste die Union über kurz oder lang Konsequenzen ziehen. Aber auch die Linkspartei. Sie musste lernen, dass politische Konstellationen denkbar sind, die gebieten, wie in Thüringen, mit der CDU Übereinkünfte und Absprachen zu treffen. Im historischen Vergleich mit der Weimar Republik und deren Ende ist das ein enormer, alles andere als selbstverständlicher Fortschritt: dass gemeinsam die Institutionen und Regelwerke der Republik verteidigt werden, die die Demokraten brauchen, um Interessenkämpfe mit friedlichen Mitteln austragen zu können.
Welche Chancen hätte eine trumpistische Bewegung?
Setzen wir voraus, der AfD gelingt es künftig deutlich weniger als bisher, ihre bisherigen Wählerinnen zu binden. Diese orientieren sich neu. Entsteht dann eine politisch frei vagabundierende soziale und kulturelle Basis für eine Trumpismus-Bewegung in Deutschland?
Kahrs: Wenn man den Trumpismus als spezifische Technik begreift, die politische Macht zu erobern, dabei auf Wut, Feindseligkeit, Hass, Vernichtungswillen zu setzen und permanent entsprechende Affekte anzuzapfen, dann haben wir in Deutschland eine solche Bewegung bereits, in Gestalt des rechtsextremen „Flügel“ innerhalb der AfD. Wie war es in den USA? Erst als Trump die Republikanische Partei gekapert hatte, entstand in den USA die typische Gewinner-Verlierer-Konstellation des Mehrheitswahlrechts, des Ich oder Sie, Alles oder nichts. Davor schützt in Deutschland das Verhältniswahlrecht. Eine trumpistische Bewegung würde, soweit man so etwas absehen kann, nicht über das Potential der AfD hinauskommen.
Dann ist die AfD von heute bereits das, was die Trumpisten in den USA sind?
Kahrs: Nicht die AfD, aber Teile. Sie kopieren die Methoden: Auf Schwächere draufschlagen, sich notfalls mal entschuldigen, aber die Hetz-Reden doch im Netz stehen lassen, das Vertrauen in Institutionen untergraben. Ein Beispiel: Als in Sachsen-Anhalt überlegt wurde, die Landtagswahl am 6. Juni wegen der Pandemie als reine Briefwahl zu organisieren, schwadronierte die AfD sofort von geplantem Wahlbetrug. Das zugrundeliegende Kalkül geht so: Werfe ich meinen Stimmzettel am Wahltag in die Wahlurne, kann ich bis zur Auszählung im Wahllokal bleiben und verfolgen, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Stecke ich den Stimmzettel in einen Briefumschlag und werfe den in einen Briefkasten, muss ich darauf vertrauen, dass alles mit rechten Dingen zugehen wird. Genau dieses Vertrauen will die AfD untergraben, so will sie Misstrauen schüren. Wahlbetrug bei Briefwahlen zu behaupten, ist prototypisch für diese Politik-Methode.
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Was hindert Friedrich Merz daran, der deutsche Trump zu sein? Und was fehlt ihm dazu?
Kahrs: Sie meinen den Laufburschen von Blackrock, dieser Investment-Gesellschaft? Die CDU hat sich von ihm nicht übernehmen lassen. Es fehlt ihm also eine Partei. Nun muss er entweder auf seine dritte Chance warten oder den Sprung wagen, eine eigene Partei zu gründen. Dieses Wagnis geht er vor den Bundestagswahlen auf keinen Fall ein. Letztlich stellen Sie damit die Frage: Wie ist es um den inneren Zusammenhalt der Union bestellt? Und da lehrt die Erfahrung: Über den inneren Zusammenhalt der Union entscheidet der Wahlausgang, sitzen wir im Kanzleramt oder die Anderen? Das gilt wohl auch für Merz. Und was ihm zu einem deutschen Trump fehlt? Mitnichten werde ich ihn da beraten.
Sehen Sie eine andere Figur, die diese Rolle spielen könnte?
Kahrs: Sie meinen eine Person aus der Unterhaltungsindustrie, der eine alte demokratische Partei in seine Gewalt bringen kann? So wie in den USA? Sehe ich in Deutschland gegenwärtig nicht. Gleichwohl bleibt eine faschistische Gefahr, auch in Deutschland. Zumal wenn unter Faschismus weniger eine politische Ideologie verstanden wird. Sondern wenn unter Faschismus mehr, so wie Madeleine Albright, ehemalige US-Außenministerin, es tut, als Mittel begreift, Macht zu erringen und zu erhalten. Wenn darunter die Bereitschaft verstanden wird, alles zu tun, was dafür notwendig ist: Gewaltanwendung, Missachtung der Rechte anderer, Verachtung und Abschaffung demokratischer Institutionen. Solche Grenzüberschreitungen erleben wir auch hierzulande. Ich befürchte, ihre Dynamik hat sich noch nicht erschöpft. Denn die existentiellen, sozialen und psychologischen Folgen der Pandemie und des Krisen-Managements liefern neuen Rohstoff.
Die Fragen stellte Wolfgang Storz (zuerst erschienen bei bruchstücke; Bild: Weeping Angel, CC0, via Wikimedia Commons)