Ein Leben für den Frieden im Menschenschlachthaus (II)

Alfred Hermann Fried, der Friedensnobel-preisträger des Jahres 1911, hatte im späten 19. Jahrhundert darauf gesetzt, dass die zuneh-mende wirtschaftliche Verflechtung der Staaten sowie das Wachstum des Nachrichten- und Verkehrswesens zu einem besseren Verständnis der Völker beitragen und damit weitere Kriege immer unwahrscheinlicher machen würden. 1914 wurde deutlich, wie sehr er sich geirrt hatte, als er annahm, die Geschichte laufe zwangsläufig auf dauerhaften Frieden hinaus.

In der Tat erreichten der Fortschritt und die Vernetzung eine neue Qualität, die, basierend auf technisch-administrativen, ökonomischen und kulturell-humanistischen Innovationen, den nationalistisch-imperialistischen Bestrebungen entgegenstand – eine Entwicklung, die, so Fried, im Wesentlichen zwangsläufig erfolge und sich auch durch zeitweilige regionale Rückfälle nicht aufhalten ließe. Der damit verbundene Fortschrittsoptimismus Frieds war keineswegs blauäugig oder aus der Luft gegriffen. Trotz erheblicher diplomatischer Krisen ist es im Jahrzehnt vor 1914 in Europa zu keinem großen Krieg gekommen.

Allerdings gelang es auf den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 – insbesondere aufgrund der zu keiner Konzession bereiten Haltung des Kaiserreiches – nicht, den Krieg als Mittel der Politik fortan auszuschalten. Der Bereitschaft, die zwischenstaatliche Anarchie zugunsten eines friedlich-schiedlichen, gewaltfreien Wettbewerbs zum Nutzen aller zu überwinden, stand entgegen, dass die Hohenzollernmonarchie an der Option des Krieges festhielt. Umso hartnäckiger trat Fried, längst der führende Vertreter des organisierten Pazifismus, für eine internationale Verständigungspolitik ein.

Ein Opfer seines Fortschrittsglaubens?

Frieds Analyse war in vielen Punkten zutreffend. Man hat ihm später vorgeworfen, den technisch-zivilisatorischen Fortschritt mit dem gesellschaftlich-sozialen Entwicklungsprozess gleichzusetzen, und dass er einer spezifischen Schwäche seines Denkens, der Fortschrittsgläubigkeit, erlegen gewesen sei. Doch ist eine solche Einschätzung, zumal wenn sie im Nachhinein erfolgt, richtig? Europa war – trotz aller Hochrüstung – kein Pulverfass, wie es vor allem deutsche Historiker oder jene nahelegen, die sich wie Christopher Clark mehr oder minder an der deutschen Unschuldspropaganda orientieren und solche Bilder beschwören, um die Verantwortung für den Zivilisationsbruch von 1914 abzumildern bzw. unkenntlich zu machen.

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Niemand glaubte im Sommer 1914, dass ein großer Krieg bevorstünde. Dazu war der Anlass, die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgerehepaars, viel zu unbedeutend – erst recht im Vergleich zu den beiden Marokko-Krisen von 1905 und 1911. Dass die zivile und militärische Leitung des Kaiserreiches im Verbund mit dem Habsburger Bündnispartner insgeheim den Krieg vorbereitete, war für Außenstehende zunächst nicht erkennbar. Erst die Veröffentlichung von Österreich-Ungarns Ultimatum an Serbien am 23. Juli 1914 machte klar, dass das Räderwerk des Krieges in Gang gesetzt worden war. Umso vehementer strebten die Mächte der Entente nach einer Lösung des Konfliktes auf diplomatischer Ebene. Doch alle Vermittlungsvorschläge wurden von Deutschland und Österreich-Ungarn in den Wind geschlagen. Warum? Es gibt darauf nur eine Antwort: Weil man den Krieg unausweichlich machen und herbeiführen wollte.

Die Schlafwandler

Frieds wohlbegründeter Ausblick erinnert daran, dass der Erste Weltkrieg weder zwangsläufig war, noch durch eine wie immer geartete Form von Schlafwandlertum verursacht worden ist. Die Führungsspitzen der Hohenzollernmonarchie betrachteten und glorifizierten den Krieg als eine Errungenschaft der Kultur und suchten ihr Heil im Prinzip „Macht geht vor Recht“, brachen das Völkerrecht und überfielen aus militärischen Erwägungen das neutrale Belgien. Damit begaben sie sich in einen grundlegenden Widerspruch sowohl zu den Werten des christlichen Abendlandes als auch zu den aufklärerischen Ideen von 1789. Das Ergebnis: 20 Millionen Tote und eine Verheerung Europas ohnegleichen. Neben dem Leid und Elend, der Not und Zerstörung, die der Krieg zeugte, waren die psychosozialen Schäden und Folgen von immensem Ausmaß. Was zuvor unten war, wurde nach oben gespült. Der Glaube an den Fortschritt erhielt einen schweren Schlag, von dem sich, durch den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust gesteigert, die Menschheit bis heute nicht erholt hat. Der deutsche Griff nach der Weltmacht unterbrach den von Fried prognostizierten Geschichtsverlauf und kehrte ihn um.

Wie vom Donnerschlag getroffen

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Verständlich, dass gerade Fried eindringlich nach den Ursachen des bis dahin beispiellosen Unheils und Rückfalls in die Barbarei fragte. Zunächst traf ihn der Krieg, den er als epochalen Einschnitt in die Geschichte der Menschheit begriff, wie ein „Donnerschlag“. Am 7. August 1914 vertraute er seinem Tagebuch an: „Ein fürchterliches Weh erfüllt mich. Der Krieg lastet wie ein Zentnergewicht auf mir. Als ob alle Lebenswerte erstickt wären. (…) Die Welt hat für mich einen ganz anderen Inhalt bekommen. Es ist nicht mehr dieselbe Welt wie vorher, wie vor vierzehn Tagen. Wie durch einen Zauber sieht plötzlich alles anders aus. Die Berge vor meinem Fenster, das Grün der Wiese, die lieblichen Villen – alles sieht mich an wie die Reste eines Lebens, das ich einmal gelebt und das für immer verloren ist. (…) Ich bin ja darum noch schlechter daran als die andern, die sich mit dem abfinden, was jetzt vor sich geht: mit der Trennung der Familien von ihren einrückenden Lieben, mit dem Stillstand der Wirtschaft. Ich sehe ja schon das Kommende, all das Elend des im Gang befindlichen Kriegs und seiner Endlosigkeit über ein Jahr hinaus. Das zerfrisst mich. Wir haben zu früh gejubelt. Wenn ich jetzt meinen Artikel ‚Die Überwindung des Balkankonfliktes‘ in der Friedens-Warte 1913 überlese, so fühle ich, dass ich die Friedenskräfte, deren Triumph ich sah, doch überschätzt habe. ‚Der vermiedene Krieg von 1913‘, so schrieb ich, ‚hat für alle künftigen europäischen Konflikte das Kriegsventil verrammelt.‘ Gefehlt! (…) Ein furchtbares Zusammenprallen, an das vor vierzehn Tagen kein Mensch (einige vielleicht ausgenommen!) gedacht hat. Das ist das Fürchterliche dabei, diese Plötzlichkeit, diese Überrumpelung.“

Das Menschenschlachthaus

Ähnlich betroffen und erschüttert zeigte sich der in Paris lebende deutsche Republikaner, Pazifist und Journalist Hermann Fernau in seinen von Juli bis Ende September 1914 erhalten gebliebenen und inzwischen publizierten Tagebuchaufzeichnungen. Wie für Fried verwandelte sich auch für ihn die Welt mit einem Schlag in ein großes Heerlager und – um mit dem Hamburger Pazifisten, Pädagogen und Schriftsteller Wilhelm Lamszus zu sprechen – in ein „Menschenschlachthaus“.

Beide erholten sich bald von dem Schock, setzten sich mit den Ursachen der Kriegsentfesselung auseinander und gelangten unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass es nicht um einen Verteidigungs-, sondern um einen vorbedachten Eroberungskrieg ging. Bereits am 27. August 1914 konstatierte Fried: „Der Krieg wird nicht geführt, um den Tod des ermordeten Erzherzogs zu rächen, (…) sondern lediglich, weil die Militärs der beiden Zentralmächte einen günstigen Augenblick ihrer technischen Überlegenheit herausgerechnet haben. (…) Es handelt sich also um einen Präventivkrieg, jene verwerflichste Form des Krieges, vor der sogar Bismarck gewarnt hat.“

Literatur

– Alfred Hermann Fried: Mein Kriegstagebuch 7. August 1914 bis 30. Juni 1919. Hrsg. und eingel. von Gisela und Dieter Riesenberger. Bremen 2005.
– Guido Grünewald (Hrsg.): Alfred Hermann Fried: „Organisiert die Welt!“ Der Friedens-Nobelpreisträger – sein Leben, Werk und bleibende Impulse. Bremen 2015.

Text: Helmut Donat (Bild: Zum Abschluß der Friedenskonferenz. Aus: Der wahre Jakob. Illustrierte humoristisch-satirische Zeitschrift. Jahrgang 1907, Nr. 534-559, Stuttgart 1907.)