„Starkbier“, nicht „Starkregen“ im Duden der 90er Jahre (II)

So viel Schönfärberei war selten, meint Winfried Wolf in diesem bemerkenswerten Text, den wir in drei Teilen veröffentlichen. Der bekannte Verkehrsexperte und Autor geht darin den Ursachen und möglichen Konsequenzen der aktuellen Hochwasserkatastrophe auf den Grund. Er stößt heute auf: Eine verfehlte Verkehrspolitik, falsche Entwicklungen im Energiesektor und viel Augenwischerei.

Teil 1     Teil 3

Der Zusammenhang zwischen den starken Regenfällen und der Klimaerhitzung wird inzwischen meist eingestanden. Doch mit den entsprechenden Hinweisen wird erneut suggeriert, dass es sich kaum um eine auch im unmittelbaren Sinn menschengemachte Entwicklung handeln würde. Wenn auf den Zusammenhang mit der Klimaerhitzung verwiesen wird, dann erweckt dies den Eindruck, dass es sich da einerseits um einen langfristigen Prozess handle, auf den man aktuell wenig Einfluss habe, und dass man ja andererseits auch langfristig bereits eine entsprechende „forcierte Klimaschutzpolitik“ verfolge. Zum Letzteren siehe weiter unten.

Was sind wesentliche Ursachen des Hochwassers?

Nachfolgend zum Thema „wenig Einfluss“: Bei all diesen Betrachtungen fehlt fast völlig der Aspekt der fortschreitenden Versiegelung der Böden im Allgemeinen und dabei die Rolle des Straßenverkehrs im Besonderen. Laut Umweltbundesamt sind in Deutschland aktuell 11,5 Prozent der gesamten Staatsgebietsfläche oder 38.669 Quadratkilometer durch Wohnungen, andere Bauten und vor allem durch „Verkehrsflächen“ versiegelt. Diese Zahlen sagen dem Publikum eher wenig. Entscheidend ist dabei die Dynamik: Seit mehr als 100 Jahren wächst der Anteil der versiegelten Flächen. Berücksichtigen wir nur die Zeit der letzten drei Jahrzehnte, dann lautet die Bilanz wie folgt: Im Zeitraum 1992 bis 2018 hat die Bodenversiegelung im Land um insgesamt 4.622 Quadratkilometer zugenommen – das waren zusätzliche 178 Quadratkilometer pro Jahr. Zwar hat das Tempo der Bodenversiegelung in den vergangenen Jahren abgenommen – es waren aber im vergangenen Jahrzehnt (2010 bis 2019) immer noch pro Jahr 65 Quadratkilometer neu versiegelte Flächen – was 22.400 Fußballfeldern entspricht.

Der größte Teil des Zuwachses an versiegelten Böden entfällt auf die „Verkehrsflächen“. Wobei dieser Begriff verschleiernd ist.[8] Tatsächlich geht es dabei zu 95 Prozent um Straßenbau und beim Rest um den Ausbau von Flughäfen. Nimmt man alle versiegelten Wege und Straßen (Waldwege, Landwege, Gemeindestraßen, Landstraßen, Bundesstraßen und Bundesautobahnen) zusammen, dann entstehen hierzulande rund 1000 Kilometer zusätzliche Straßen pro Jahr. Demgegenüber sind die Eisenbahnen-Verkehrswege deutlich rückläufig.[9]

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Diese Bodenversiegelung beeinträchtigt die natürliche Bodenfruchtbarkeit. Das Umwelt-Bundesamt: „Wenn der Boden dauerhaft von Luft und Wasser abgeschlossen ist, geht die Bodenfauna zugrunde.“ Vor allem aber, so der Deutsche Wetterdienst, „kann bei Starkregen das Wasser nicht in den Boden abfließen. Kanalisationen sind schnell mit der großen Menge an Niederschlag überfordert. So kann es lokal zu Überflutungen kommen – und Menschen und deren Hab und Gut in Gefahr bringen.“[10] Wobei es eine Reihe zusätzlicher Faktoren gibt, die die Negativeffekte der Bodenversiegelung verstärken, so die immer schwerer werdenden Kraftfahrzeuge, die immer schwerer werdenden landwirtschaftlichen Maschinen und die extrem schweren Fahrzeuge, die zur „Baumernte“ in den Wäldern – zum Fällen und Zerlegen von Bäumen, eingesetzt werden. Der mit diesen Fahrzeugen erzeugte Druck verdichtet die Böden noch stärker und bewirkt eine besonders starke Zerstörung der Bodenqualität.

Natürlich werden diese zusätzlichen Straßen und die neue Landebahnen bei Flughäfen nicht aus Jux und Tollerei gebaut. Sie nehmen Jahr für Jahr mehr Straßenverkehr und mehr Flugverkehr auf. Allein im Zeitraum 1994 bis Januar 2021 wuchs die Zahl der Pkw in Deutschland von 35 Millionen auf 48,2 Millionen oder um 37,7 Prozent. Das Gewicht eines durchschnittlichen Pkw hat sich im gleichen Zeitraum um 35 Prozent erhöht; deutlich stieg auch die Inanspruchnahme von Flächen. Insgesamt wuchs die Fläche, die diese Pkw-Flotte in Anspruch nimmt, in diesem 26-Jahreszeitraum um mehr als 50 Prozent.[11]

Welche Bahnpolitik wird verfolgt?

Die Entwicklung im Bereich Schiene ergänzt die katastrophale Konzentration auf den Straßenverkehr. Das Schienennetz (Betriebslänge) wurde in Deutschland seit 1991 um 19 Prozent oder um 7700 Kilometer abgebaut. Dabei wurden zusätzlich rund 50 Prozent aller Neben- und Ausweichgleise abgebaut. Dieser Infrastrukturverlust wirkt sich vor allem dahingehend aus, dass die Bahn sich aus der Fläche immer mehr zurückzieht. Und dass die Effizienz des Schienennetzes leidet, was an den verschlechterten Pünktlichkeitsquoten und an der hohen Zahl von Zugausfällen deutlich wird.[12] Die Konzentration auf Hoch- und Höchstgeschwindigkeit ist bereits aus Fahrgastsicht problematisch.[13] Hinsichtlich einer nachhaltigen Klimapolitik ist diese Politik absolut kontraproduktiv: ICE-Züge mit Tempo 300 kommen auf einen Energieverbrauch (und damit Treibhausgase) je Personenkilometer, der nicht allzu weit entfernt ist von dem Energieverbrauch eines mit zwei Personen besetzten Pkw. Wobei die enormen CO2-Emissionen zu berücksichtigen sind, die beim aufwendigen Bau von Hochgeschwindigkeitsstrecken mit vielen Einschnitten, Brücken und Tunnelbauten anfallen.

Apropos Tunnelbauten: 1991 gab es im gesamten Schienennetz auf deutschem Boden Tunnelbauten mit einer Gesamtlänge von 222 Kilometern. 2020 waren es Tunnel mit einer Gesamtlänge von 592,9 Kilometern – eine Steigerung um das 2,7fache. Bis 2030 plant die Deutsche Bahn AG weitere Tunnelbauten mit mehr als 150 Kilometern Länge. Im gleichen Zeitraum wurde, siehe oben, das Schienennetz um fast 20 Prozent in der Länge reduziert. Was ist passiert? Gibt es eine Wanderung der Mittelgebirge; eine veränderte Endmoränenlandschaft, was mehr Tunnelbauten erforderlich machen würde? Nein, die Deutsche Bahn AG verlegt immer größere Teile des (schrumpfenden!) Schienennetzes in den Untergrund. Teilweise wird dies mit Bürgerprotesten gegen Schienenlärm begründet, was auch mit der schlechten Infrastruktur, mit dem unzureichenden Zustand der Waggons und mit den hohen Geschwindigkeiten zusammenhängt, was aber vor allem auch mit Milliardenaufträgen verbunden ist, an denen die Tunnelbauindustrie und die Banken satt verdienen.

Allein unter Stuttgart entstehen derzeit 100 Kilometer Schienenstrecken in Tunnelbauweise – als Teil von „Stuttgart 21“.[14] Das ist natürlich mit gewaltigen Mengen von Treibhausgasen verbunden – beim Bau und auch im Betrieb: der Energieaufwand bei Tunnelfahrten liegt wesentlich höher als der Energieaufwand bei Fahrten in freier Umgebung. Wobei Tunnelbauten ebenfalls zur Versiegelung von Böden zählen; sie wirken sich im Untergrund zerstörerisch auf die Bodenqualität aus.

Sehr konkret lässt sich der Rückzug der Schiene an den meisten von dem aktuellen Hochwasser betroffenen Orten und Tälern illustrieren. Nehmen wir den besonders betroffenen Ort Schuld. Hier wurde im Jahr 1912 die Bahnstrecke Dümpelfeld – Lissendorf mit Halt in Schuld eröffnet. Im Zweiten Weltkrieg zerstörte die Wehrmacht einen größeren Teil der Eisenbahninfrastruktur (um der vorrückenden US Army Einhalt zu gebieten). Erst 1948 konnte der Eisenbahnverkehr wieder aufgenommen werden. Doch 1973 wurde der Schienenverkehr eingestellt. 1982 wurde die Strecke komplett stillgelegt und abgebaut. Heute verläuft auf dem Bahndamm ein „Bahntrassenweg“, der „Ahr-Radweg“. Wobei die Bevölkerung sich eher nicht per Rad in die nächsten Orte begibt, sondern überwiegend auf den Pkw angewiesen ist.

Die Klimapolitik-Heuchelei von CDU/CSU

„Nur weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik“. Mit diesen Worten brachte Armin Laschet am 15. Juli 2021, dem Tag 1 der Hochwasser-Katastrophe – seine Grundhaltung auf den Punkt. Der Mann präsentiert sich mit gefälligem Gerede über „mehr Klimaschutz“. Faktisch wird die seit Jahrzehnten betriebene Politik, mit der die Klimaerhitzung beschleunigt wird, beibehalten.[15] Dabei zeigte die NRW-Landesregierung 2019 und 2020 im Konflikt um den Hambacher Wald, dass sie fest an der Seite der Kohlelobby steht; Laschet setzte sich für die Rodung zugunsten des Braunkohletagebaus ein. Noch Anfang Juli 2021 bremste die NRW-Landesregierung mit einem Gesetz den Ausbau der Windkraft in NRW aus – eine Maßnahme, die die Politik auf Bundesebene flankiert.

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Markus Söder werkelt in Bayern nach denselben Grundsätzen. Im Mai kündigte der bayerische Umweltminister Torsten Glaubers vom CSU-Koalitionspartner Freie Wähler die Abschaffung der „10-H-Regel“ bei Windkraftanlagen an.[16] Entsprechend verringerte Abstandsregeln von Windkraftanlagen zu Wohngebäuden hätten die Stagnation beim Ausbau von Windkraft in Bayern beenden können. Doch Söder ließ die Entscheidung seines Koalitionspartners umgehend kassieren. Der Energie- und Klimaschutz-Sprecher der Grünen-Landtagsfraktion, Martin Stümpfig, bezeichnete darauf die Haltung Söders in Klimaschutzfragen als „absolut heuchlerisch“. Auf diese Weise könne Bayern seine Klimaschutzziele nie erreichen.[17]

Die Union stellt seit 16 Jahren die Kanzlerin; Merkel und CDU/CSU haben eine traurige Klimapolitik vorzuweisen. Die Klimaziele für 2020 wurden nur wegen der Deindustrialisierung in Ostdeutschland und der Corona-Pandemie erreicht; bereits 2021 dürfte es einen Rückschlag geben. Ein Kohleausstieg im Jahr 2038, wie von der deutschen Regierung beschlossen, ist völlig kontraproduktiv. Die erneuerbaren Energien werden aktuell nur noch deutlich reduziert ausgebaut; vor allem der Windkraftausbau stagniert. In Bereich Windkraftindustrie wurden allein seit 2017 mehr als 40.000 Arbeitsplätze vernichtet.

Text: Winfried Wolf (Bilder: Joseph Thomas, Markus Distelrath auf Pixabay)

Anmerkungen:

[7] Stuttgarter Zeitung vom 17. Juli 2021.

[8] Angaben nach: Umwelt-Bundesamt vom 28. Dezember 2020. https://www.umweltbundesamt.de/daten/flaeche-boden-land-oekosysteme/boden/bodenversiegelung Und: Deutscher Wetterdienst vom 27. September 2020; https://www.dwd.de/DE/wetter/thema_des_tages/2020/9/27.html

[9] Siehe unten.

[10] Quellen wie in Fußnote [8]

[11] Angaben nach: Verkehr in Zahlen, herausgegeben vom Bundesministerium für Verkehr, Ausgaben 2000, Seite 142f, und Ausgabe 2020/21, Seite 132. Die exakten Zahlen lauten für das Jahr 19994 etwas anders und wie folgt: Pkw-Bestand 1994 = 39,765 Millionen; 2020 = 47,716 Millionen (ergänzend am 1.1.2021 laut Kraftfahrzeugbundesamt: 48,2 Millionen). Danach scheint der Anstieg ein geringerer zu sein als oben im Text genannt. Doch die Statistik ist – dieser Begriff erscheint mir gerechtfertigt – hinsichtlich der Entwicklung des Pkw-Bestands „frisiert“. So gibt es zwischen 2007 und 2008 einen erstaunlichen Rückgang im Fahrzeugbestand (Kfz und Pkw). 2007 nennt „Verkehr in Zahlen“ 46,570 Millionen Pkw und 2008 dann nur noch 41,184 Millionen. Eine Fußnote klärt wie folgt auf: „Bis 2007 einschließlich der vorübergehend abgemeldeten Fahrzeuge“. Grundsätzlich spricht viel dafür, auch die „vorübergehend abgemeldeten Fahrzeuge“ weiter zu berücksichtigen – schließlich benötigen die Autos in aller Regel ebenfalls Flächen. Doch wenn man sich dafür entscheidet, diese Fahrzeuge ab 2008 aus der Statistik herauszurechnen, dann müssten in der gesamten Statistik rückwirkend auch alle „vorübergehend abgemeldeten Fahrzeuge“ herausgerechnet werden. Das erfolgte in der Berechnung oben, indem für 1994 35 Millionen Pkw genannt werden.

[12] Siehe Carl Waßmuth und Winfried Wolf, Verkehrswende – ein Manifest, Köln (PapyRossa) 2020, S. 86; Bernhard Knierim und Winfried Wolf, Abgefahren. Warum wir eine neue Bahnpolitik brauchen, Köln (PapyRossa) 2019, S.41ff.

[13] 90 Prozent aller Fahrten mit der Eisenbahn finden im Bereich des Nahverkehrs (bis zu 50 Kilometer Entfernung) statt. Nimmt man die gesamte Verkehrsleistung (die auf Schienen zurückgelegten Personenkilometer), dann entfällt immer noch die Hälfte auf den so definierten Nahverkehr (mit S-Bahnen, Regionalexpress und Regionalbahnen). Wenn wir nur den Fernverkehr herauspicken (weniger als 10% der Bahnfahrten), dann liegt hier die durchschnittliche Reiseweite (die je Fahrt im Schnitt zurückgelegte Entfernung) bei 260 Kilometern. Selbst in diesem Segment bringen also Hochgeschwindigkeitsfahrten nur Zeitgewinne von wenigen (10 bis 15) Minuten. Das lockt keinen vom Auto auf die Schiene. Die entscheidenden Parameter, mit denen man eine Verkehrswende hin zu Schiene erreichen kann, sind der Preis (teurere Autofahrten oder teurere Flüge und/oder preiswerteren Bahntickets), ist der Komfort, ist die Pünktlichkeit und sind möglichst viele direkte Verbindungen oder ein problemloses Umsteigen an Knotenpunkten.

[14] Zum zerstörerischen Tunnelbau bei der Deutschen Bahn AG und den Ursachen für diese Orientierung siehe: Alternativer Geschäftsbericht Deutsche Bahn AG, erstellt u.a. von Bernhard Knierim, Carl Waßmuth und Winfried Wolf für das Bündnis Bahn für Alle, Frühjahr 2021, https://bahn-fuer-alle.de/alternativer-geschaeftsbericht-der-deutschen-bahn-ag/

[15] Laschet nach: Der Tagesspiegel vom 16. Juli 2021. https://www.tagesspiegel.de/politik/laschet-laviert-in-der-klimafrage-weil-jetzt-so-ein-tag-ist-aendert-man-nicht-die-politik/27427218.html

[16] Die seit 2014 in Bayern geltende Regel besagt, dass ein Windrad mindestens das Zehnfache seiner Höhe von Wohnbebauung entfernt sein muss. Um davon abweichen zu können, muss ein Gemeinderat einen ausdrücklichen Beschluss fassen. Kritiker beklagen, seither sei der Windkraftausbau in Bayern praktisch zum Erliegen gekommen.

[17] Münchner Merkur vom 6. Mai 2021; https://www.merkur.de/politik/soeder-klima-csu-gruene-gesetz-windkraft-regel-stuempfig-freie-waehler-bayern-muenchen-umwelt-90495858.html