Viele Vorbilder, zu wenige Nachahmer (2)
Die oft beschworene Klima- und Verkehrs-wende kommt in Deutschland nur schleppend voran, hier ist das Auto weiterhin Maß aller Dinge. Ein Blick in die jüngere Geschichte macht deutlich: In der Bundesrepublik hatten es Reformen immer schwer, und oft kamen sie von „unten“, während Konservative Veränderungen mit aller Macht zu verhindern suchten. Projekte an der Basis zeigen, wie eine lebenswertere Umwelt gestaltet werden kann. Sie sind oft Vorbilder für morgen.
Teil 1 dieses Beitrags lesen Sie hier.
Dabei zeigt ein Blick zurück auf die Reformphasen der alten Bundesrepublik: Reformen und Modernisierungen wurden oft erst einmal „unten“ ausprobiert und erlebt. Das erst verschaffte dem Neuen Ausstrahlung und Faszination. Der Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel war bundesweit Vorbild, weil er mit seinem rigiden Bodenrecht nicht nur die Baupreise im Zaum hielt, sondern so mit dem ökologisch wertvollen Boden behutsam umging und ihn nicht an Investoren verschleuderte. Und Hans-Jochen Vogel schuf — die Olympiade 1972 war der Anlass — ein modernes, leistungsfähiges öffentliches Nahverkehrsnetz in München und im Großraum München.
Die alte Bundesrepublik mit Fortschritten von „unten“ modernisiert
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Ministerpräsident Georg-August Zinn, Ministerpräsident von Hessen (1950-1969) ließ eine fortschrittliche, aufklärerische Bildungspolitik entwickeln und umsetzen. Er konnte seiner Politik das Label „Hessen vorne“ draufkleben und blamierte sich damit nicht. Im Gegenteil: Hessen war Vorbild, umstritten, klar, weil die fortschrittliche Politik von den Konservativen selbstverständlich bekämpft wurde, also strittiges Vorbild. Kein Zufall, dass in Hessen mit Generalstaatsanwalt Fritz Bauer die Verfolgung der Nazi-Verbrechen („Auschwitzprozesse“) mit Meilenstiefeln vorankam; aber nur, weil ein mutiger Ministerpräsident Georg-August Zinn seinen Generalstaatsanwalt gegen die Alt-Nazis in Justiz und Adenauer-Kanzleramt schützte.
Es wäre ein Fehler, eine solche gelebte fortschrittliche Politik kleinzureden: das war ja nur in Hessen, das nur in München. Denn solche Beispiele von „unten“ zeigen allen anderen: Es geht auch anders, die machen es anders und es funktioniert. In dieser Vorbildfunktion liegt der eigentliche Wert solcher einsehbaren Fortschritte im Lokalen und Regionalen.
Wo gibt es diese Vorbilder heute in Deutschland? Vorbilder, die fähig sind, eine fortschrittliche Politik auf Bundesebene zu beleben und fördern? Es gibt die bereits genannten Mittelstädte.
Und klar: Es gibt zahllose Bürgerinitiativen, die Neues auf die Beine stellen und damit auch Anregungen liefern; worüber das gestern erwähnte Magazin „chrismon“ in seiner Doppelausgabe Juli/August ausführlich berichtet. Beispiel Siegen, 100.000 Einwohner: Mitten in der Stadt wurde die Sieg wieder zugänglich gemacht, also renaturiert, und ebenfalls mitten in der Stadt zog die Universität mit einem neuen Hörsaalzentrum in die oberste Etage von Galeria Karstadt Kaufhof. In der Hamburger Altstadt gründeten Bürgerinnen und Bürger eine Genossenschaft, die ein Parkhaus erwarb, um es zu 80 Wohnungen umzubauen. Eine Initiative bastelt mitten in Berlin, nahe der Museumsinsel, an einem Flussbad. Im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg will der Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes möglichst viele der 50 Hektar Parkplätze in seinem Bereich in Grün umwandeln: Rasen, Sträucher und Bäume rein, Asphalt und Beton raus, zudem Schulhöfe entsiegeln, Gebäude begrünen, und überall die guten alten Parkbänke hinstellen. Seit 2009 wird der Potsdamer Stadtteil Drewitz zu einer emissionsfreien Zone umgebaut: eine vierspurige Durchfahrtsstraße verschwand buchstäblich, weil sie nach und nach zugunsten von Fußwegen, Grünflächen und Begegnungszonen zurückgebaut wurde. Grüner, leiser, menschlicher. Fahrradfahren gehört in dieser Gartenstadt inzwischen so zum Alltag wie einst das Autofahren. Und in Düsseldorf gibt es seit 2020 mit dem Kö-Bogen II ein begrüntes Prestige-Projekt, das Vorbild in Europa ist.
Es gibt also zahllose sehr kleine Beispiele, die Mut machen. Aber fast nirgends schmiedet Politik aus diesen lokalen und regionalen Anstrengungen ein politisch bedeutsames Projekt mit Ausstrahlung. Leider Fehlanzeige.
Das Neue erlebbar machen
Auch dort wo beispielsweise die Grünen schon lange regieren und das Sagen haben, hat es zu einer Vorbild-Politik noch nirgends gereicht. Obwohl Deutschland und viele seiner Zentren, ob der Großraum Stuttgart, München oder das Rhein-Main-Gebiet, wirtschaftlich reich sind, sich also erlauben könnten, viel zu experimentieren, Neues zu erproben, Umstiege sozial abzufedern und zu finanzieren.
Beispiel Stuttgart: Fritz Kuhn regierte von 2013 bis 2020 als grüner Oberbürgermeister die baden-württembergische Landeshauptstadt. Er hatte also acht Jahre Zeit, die ökologische Lage der Porsche- und Daimler-Stadt zu verbessern. Er versprach eine Verkehrswende und wenigstens die Verringerung der Zahl der Autos um 20 Prozent. Er versagte acht Jahre lang; obwohl die Grünen in seiner gesamten Amtszeit die stärkste Fraktion im Stadtrat stellten. Heute sind in Stuttgart mehr Autos denn je zugelassen: etwa 355 000 Personenkraftwagen bei 630 000 Einwohnern.
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Wie sieht es in Baden-Württemberg und Hessen aus? Seit 2011 ist Winfried Kretschmann grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Seit 2014 regieren die Grünen um Tarek Al-Wazir zusammen mit der CDU; Al-Wazir ist Staatsminister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen und Stellvertreter des CDU-Ministerpräsidenten Volker Bouffier. Beide Bundesländer sind aufgrund ihrer Wirtschaftsstruktur sehr reich, haben also politisch einen großen Spielraum. Das Ergebnis: Obwohl die Grünen in Hessen und Baden-Württemberg viele Jahre regieren, sind sie ökologisch alles andere als Vorbild. Selbstverständlich finanzieren sie Radwege, lassen viele Bäume pflanzen und erweitern Naturparks. Aber letztlich gerieren Kretschmann wie Al-Wazir sich als Staatsdiener der Autoindustrie und bestenfalls als Nachzügler in Sachen Windenergie.
Die Gefahr, die auch für die Grünen von diesem Defizit ausgeht: Wenn es ökologische Vorbilder weder in Städten noch in Bundesländern gibt, was wollen die Grünen dann in Berlin und dort sogar im Kanzleramt erreichen? Sie hängen politisch buchstäblich in der Luft, haben für ihre auf Papier niedergeschriebenen guten Vorhaben keinen Boden unter ihren Füßen.
Dringend gesucht: Aufbruchstimmung
Die Beispiele zeigen: Um für Veränderungen Rückenwind und Boden unter die Füße zu bekommen, sind nicht nur die konkreten (erst einmal kleinen) Veränderungen in Städten von Bedeutung, sondern auch die in ländlichen Regionen. Warum sind die so wichtig? Ganz einfach: Über wichtige Zukunftsfragen wird auf dem Land entschieden. In Berlin-Mitte, Frankfurt und Hamburg wird kein Windrad installiert, aber in den ländlichen und vergleichsweise gering besiedelten Regionen. Dort wird auch konkret über die Frage entschieden: Wie werden künftig unsere Nahrungsmittel hergestellt: industriell oder handwerklich, mit Gentechnik oder via Bio-Landbau? An dieser bedeutenden Schnittstelle setzt beispielsweise diese neugegründete Ideenwerkstatt zur Dorfzukunft an.
Es gibt übrigens große Vorbilder, die zeigen: Sogar ganze Nationen sind zu schnellen und enormen Veränderungen fähig: etwa die USA in den 1930er Jahren zu Zeiten der Regierung von Delano Roosevelt.
Der Politikwissenschaftler Steffen Lehndorff zieht aus diesem Vorbild eine Lehre: Es reicht nicht, eine neue Regierung zu haben. Es bedürfe beides, einer mutigen Regierung und einer „gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung“, einer „machtvollen gesellschaftlichen Reformdynamik“. Die sei damals unter Roosevelt mit neuen „identitätsstiftende(n) Institutionen und Reformprojekten mit Symbolkraft“ in Gang gesetzt worden. Solche Projekte könnte es auch auf kommunaler oder regionaler Ebene geben. Es sei also, so Lehndorff, für die gesamte Republik entscheidend, was „unten“ passiert. Oder was dort eben nicht passiert.
In diesem Text wird mit bestem Wissen und Gewissen durchgehend die weibliche Form verwendet. Damit sollen jedoch alle Menschen angesprochen und keiner ausgeschlossen werden.
Text: Wolfgang Storz (Symbolbild: Hong daewoong auf Pixabay)
Der Beitrag ist zuerst erschienen auf: www.bruchstuecke.de